Morgens in Berlin.
Im Bett strecke ich mich nach links, denn links bist du, & mir tanzen deine Finger einzeln über die Brust; darunter: ka-tusch, ka-tusch, ein Origamiherz, es flattert & knistert, das raschelt neben den Feuern, die sich zwischen uns entzünden – ja, wir versengen einander, mit Blicken so hungrig, mit Zündholzfingern, mit Feuerzeughänden:
Wir, in der Mitte des Raums, die T-Shirts & Unterhosen, die Klamotten, die uns schwer wurden an unseren federleichten Körpern, liegen als fremde Städte zu unseren Füßen – ein Königreich der Kleider, darüber herrschen wir nackt, & stürzen
einander
ins Überall, stürzen eine ganze Welt in Flammen.
Schaut, wir rollen über Matratze & Boden, über die Decke, die seitwärts fällt, hier – der Nabel der Welt: Dein Lächeln, das Grübchen in deine Wangen knautscht, die Härte deiner Arme, die Weichheit deiner Haut, schwarze Haare, wirbelnd wie Stürme —
Wir: Sturmkinder!
Ich schiebe dir bunte Kissen unter den Kopf, schiebe mich unter dich, so heben wir uns hoch ins Zimmer, das endlos ist zu allen Seiten, ein Zuhause für 2, & wir greifen & fassen, wir lassen nicht los – hast du mich, ja, ich liebe dich, ja. Ich bin da, solange ich kann.
Mir schillert die Haut von deinen Worten, dir die Lippen von meinem Kuss, mit lautem Wollen verglühen wir als Funken, als Stöhnen auf zwei Zungen – als Salz & Zucker der Nacht.
Da sind zwei Knoten, die sich fester aneinander pressen, je stärker einer an ihnen zieht,
wir lösen uns nicht,
aber unsere Beine, die schmelzen uns weg, die sind Sauce: Wir werden zwei Kleckse – Schokolade & Vanille –, & werfen Blasen, kochen, brodelnd wie Teer. Wir ertrinken in Glut,
trinken die Glut,
gießen sprudelnd uns in neue Tiefen!
Schaut, hier sind zwei, die nähern sich der Liebe wie Kometen, die leuchten hell des Nachts, wenn es ganz still wird um sie her, dann lachen sie, oh Romeo, die erleuchten die Himmel wie Sonnen, mit goldenen Rändern zittern sie, mit dem Gleißen von Göttern: Hier regnet es Sterne, sobald sie den Boden berühren – sobald sie im Zimmer stehen, die Körper dicht aneinander, die Atome: siedend, wie Dampf, ka-tusch, ka-tusch, & drum herum: eine Stadt, die Theben ähnlicher ist als Berlin. Er – vor der Tür, vor der Tür?, vor mir, in meinen Armen, ein Sprung zur Seite bedeutet einen Sprung zu mir, denn ich bin da, solange ich kann, bin Meere & Wind, bin Gezeiten & Zeit, & stehe mit dir, wiegend: die Knochen, Nerven, Muskeln & Haut, ein Mensch, der sich vernäht mit einem Menschen – wie, wenn nicht so, wann, wenn nicht jetzt. Mit einem Stoß in die Rippen sagt das Herz: TANZ! & wir tanzen wie Flammen, tanzen um die Benzinfässer der Welt – unseren Spiritus sancti: leicht Entzündliches, Gastanks & Alkoholdepots –, & rufen einander immer zuerst,
als erste Menschen,
als letzte Menschen,
als Götter zwischen Göttern,
& legen im Kuss die ganze Stadt in Schutt & Asche.
Liebe
Herzfinger
1.
Leere Flaschen unter vollen Tischen, daran muss ich denken. An Aschenbecher, zerkratzte Stuhllehnen, an Kronkorken & zerknicktes Papier. Am Fenster sitz ich, die Tasse Kaffee in einer Hand, in der anderen das Handy. Im Hintergrund läuft Joy Division, jetzt schon zum zweiten Mal das ganze Album. Morning seems strange, almost out of place // Searched hard for you and your special ways. Fuck, Ian, ja.
Das Exil, das sich draußen, hinter Glas, in alle Richtungen streckt – eine Weihnachtslandschaft à la David Lynch –, liegt bewegungslos & dunkel. Irgendwo rufen Männer ihre Namen in die Nacht, Hunde antworten – hinter zehn Ecken: ihr müdes Bellen, man sieht sie nicht, niemanden sieht man heute Nacht. Da sind nur die Fachwerkhäuser, eins neben dem andren, seit Jahrzehnten schon, seit Jahrhunderten: die alten Giebel, dazwischen: gewundene Lichterketten, die sich von einer Dachkante zur nächsten spannen, baumelnd: die Glühbirnen, die matt leuchten, schummrig. Die Straßen sind alle mattgelb & schwarz. Weihnachten. Immer wieder, Weihnachten. Irgendwo schlägt eine Tür, leere Flaschen, es können nur Bierflaschen sein, kullern über Kopfsteinpflaster. Was ist uns heilig?
2.
Der Kaffee ist kalt, das Handy warm gehalten von den eigenen Fingern. She’s lost control again. Mir geht das Wort Hagelzucker nicht aus dem Kopf, immer wieder zerbricht es mir wie Zähne, klickert & klackert, bleibt hart & süß auf der Zunge. Ich sollte ein Gedicht schreiben, denk ich & finde keinen Stift; ich suche & suche, schiebe Schubladen auf, wühle Papier – & gebe auf. Ich nehme eine Handvoll Plätzchen aus der sternförmigen Schale – sie hat einen Goldrand & ist sonst ganz aus Glas, schwer & wuchtig, mehr Sonne als Stern –, & starre raus in die Nacht, die nichts zeigt, außer mich: eine zerzauste Frisur, den braunenfastrostroten Bart, die Augenbrauen, jedes Haar steht mir ab. Wenn ich mir nur in die Augen sehen könnte, um mich zu sehen. Stattdessen: Oberflächen, durchsichtig, flüchtig – Hologramme. Ich sehe einen Fremden.
Oder bin ich ein Update?
Ich trinke den Kaffee aus & wünsche mir, ich hätte eine echte Beschäftigung für meine Hände, sie halten alles bloß fest, sie tun nichts. Erschaffen nichts. Sie liegen auf meiner Haut, die kühl wird am Fenster, & wünschen sich seine Haut, die warm ist, fest – fern. Ich sitze in einem Kostüm der Sehnsucht hier, sitze mit einem Kopf voll Flausen, sitze in mir, an einem Bahnsteig ohne Gleise, & kaue alles kurz & klein, was ich finden kann: Die Plätzchen, die belegten Brote, die folgen, Knödel & Rotkraut, die Seitan-Würstchen, ich kaue & kaue bis es nichts mehr zu kauen gibt. Dann fange ich mit dem Trinken an.
3.
Ich habe Erinnerungen an ein Leben, das noch zu leben ist. Ich erinnere mich an rote Straßen, die Lichter spiegelnd in Pfützen; Schriftzüge, groß & grell & blinkend; Menschen, die Regenschirme schief, die es eilig haben; da sind Städte, die ich nicht benennen kann, die ich nie gesehen, nie bereist habe, vielleicht nur Fiktionen, Erinnerungen an Italo Calvinos unsichtbare Städte, aber vielleicht auch nicht; meine Träume sind wild & bunt, sie schieben Atompilzwolken über kobaltblaue Himmel, legen mir A. ins Bett, seinen karamellnen Körper, seine fiebrigen Muskeln, die eins werden mit meinen, seinen Mund, die braunen Augen, & ich wundere mich morgens, dass ich nachts so wenig schreibe, wo mir doch das Herz bis zu den Ohren schlägt, die Ohren einschlägt, dass ich so viel zu sagen habe & doch nichts sage. Ich träume von London, heftig & wie mit nassen Fingern auf Glas geschmiert, die Skizze einer Stadt, die ich von einem einzelnen Wochenende kenne & damit überhaupt nicht.
The Cure spielt. Daylight licked me into shape // I must have been asleep for days, ja, Scheiße, denk ich. Ja. Hungrig vom Trinken sitz ich am Fenster, höre die Männer, all diese Laute, wie von Ertrinkenden, ein Gurgeln. Vielleicht kotzt ja einer. Ich sollte wieder mehr Sport treiben, denk ich. Mehr Gedichte schreiben. Ein Ziel setzen!
Da werd ich plötzlich unruhig.
Natürlich ist da der Strich: Berthe, die durch die Zimmer geht, eine Hand an der Klinke, vergiss mich nicht, nein, nie!, & dann der Wind, der sich raschelnd in den weißen Vorhängen verfängt. Alains Schuhe im Flur, ein Bild vom See. & die Suche nach Balance ist eine Suche nach Zeit ist die Suche nach Liebe ist eine Suche nach Geld, ist ein Leben zwischen zwei Räumen, mein Türschwellenleben. Da wartet dieser neue Job, das bedeutet erst mal Durchatmen, finanzielle Stabilität, ohne die gibt’s keine gesunden Gedanken. & da ist A., ein Sprung in zwei Richtungen zugleich. Das viszerale Vermissen, dieses Unter-der-Haut-Sein, das neu ist, unbekannt; das hat mit einem einzigen Blick begonnen: die Verknüpfung zweier Leben, die Kopfhörerkabel zwischen unseren Fingern, die Knoten unserer Beine, eine Gewissheit, & wir, die wir nach Wörtern suchen, finden uns stattdessen.
4.
Als die Sonne aufgeht, sitze ich bereits 8 Stunden am Fenster. Der Himmel ist grau, beinahe farblos; so muss der Himmel in der Hölle aussehen, denk ich. Meine Finger sind kalt, die Hände & Arme, mein Gesicht fühlt sich so an, als hätte es Gefrierbrand. Lebendig sein, nein: lebendiger sein. Darum geht es. Mehr riskieren, den Auftrieb nutzen, nicht durchdrehen, weil Durchdrehen was für Pussies ist. Die Hände lassen das Handy los, die Augen rutschen übers Display, das schwarz ist, & nach draußen, hin zu den Fachwerkhäusern – die kann ich bald zeichnen, so oft seh ich die an –, & dann wieder rein mit den Augen, rein in den Raum, der so sauber ist, als stünde er unter Quarantäne, zu den Mandarinen in der kleinen Holzkiste auf dem Tisch, dem Plätzchenteller, der fast leer ist, & im Hintergrund laufen Belle & Sebastian.
Wenn ich nur nicht so nervös wäre, nervös, den Herzschlag eines Hochleistungssportlers hab ich, nur schneller, & die Sehnsucht pumpt Blut & sie pumpt Verlangen, & der Schwanz wird mir hart, sobald ich an ihn denke, & die Finger dribbeln nervös auf dem Buch, auf Moers Schrecksenmeister, auf den ich mich nicht konzentrieren kann, weil er keine Überschneidung mit mir findet, keinen gemeinsamen Nenner, wie man so sagt, als wäre wir, dieses Buch & ich, zwei dreistellige Werte & zwei der Zahlen stimmen nicht miteinander überein, der Koffer mit dem Code öffnet sich nicht, der Tresor bleibt zu, die Alarmanlage lässt sich nicht ausstellen, das ganze Haus liegt wach, die halbe Stadt, also dribbeln die Finger & imitieren das Herz. Was sonst sollen sie tun?
Als ich aufstehe, & die Knochen knacken irgendwo zwischen Kniescheibe & Knöchel, vielleicht ist es auch die Hüfte, stehe ich aus einem alten Leben auf & stelle mich in ein neues. Da kribbelt die Haut, die Füße werden erst schwer, dann werden sie leicht, & im Grunde geht’s so dem ganzen Menschen: Beim Aufstehen fliege ich auf, bleibe fliegend, bin Kolibri.
Die Probe, Teil 5: Die Fallstricke loser Fäden
Der eine empfindet nichts, für niemanden, der versteckt sich für ein paar Wochen & schmeißt sich dann zurück ins Geschehen, der fickt mit einem Franzosen & verknallt sich in den für eine Nacht. Zwei Wochen später schläft er mit einem Italiener & verknallt sich in den; der fickt sich durch die halbe Nachbarschaft, der schmeißt seine Pillen, der geht einem Leben nach, das in drei Richtungen will. & jede Richtung ist ein gesplittertes Herz. Da gibt es keine Revision. Keinen Stuhl, der sich zurückrücken lässt auf den vorgeschriebenen Platz. Es gab keine Tische mehr. Keine Leninbüste in der Ecke, wie die in H.s Wohnung, das Cabaretposter direkt daneben; keine Jarmusch-Kollektion, keine Linkerhand, keinen Stefan Heym, die kamen erst alle viel später. Nach H. In einem Leben, das nichts mehr wissen wollte vom andren.
& der andere? Der verschwand, der ging ab von der Bühne, indem er stehen blieb an der Treppenkante, der löste sich auf zu flüchtigen Nachrichten, oder nein, anders: H. wurde zu irgendwem, einem anderen Buchstaben ohne Klang, einem Ha. vielleicht, einem halben Lachen. Ha. wurde Distanziertes, ein abgeschlossenes Zimmer. Ha., das war plötzlich ein Mann, der eigentlich viel zu klein war für mich, zu stromlinienförmig, mit schlechten Angewohnheiten & unverarbeiteten Beziehungsproblemen, mit einer zerbrochenen Ehe, einem Leben zwischen zwei Städten. Wer liegt gerne neben einem, der knirscht?, der zuckt in der Nacht? Es passierte etwas, von dem ich immer annahm, es würde nur in traurigen Liebeslieder passieren, in schlechten Filmen: Die Zeit änderte die Frequenzen. H. blieb in meiner Wahrnehmung nur ein Fixpunkt, eine Art Stern, den man abends aufgehen sieht, etwas, das längst verglüht ist, eine Erinnerung an einen flüchtigen Moment, an drei Probewochen. Der echte Mensch aber, dieser Ha.-Gewordene, der existierte nicht für mich.
Ich wuchs in drei Richtungen. Abends, im Fitnessstudio brannte ich lichterloh, & nachts, da las ich wie besessen. Tagsüber versuchte ich zu lernen, von den Kollegen, dem Job, den neuen Freunden, den alten; ich wollte denken lernen, fühlen lernen, zulassen – nach A. & J., nach diesen zwei anderen Unglückssternen, die mir noch immer den Weg leuchteten – flackernd. Diese Sternenkarten sollten nicht weiter mein Leben bestimmen, diese zur Liebe Unfähigen. Stattdessen wollte ich wer sein, mehr sein, wollte nicht mehr gejagt werden von den Leidenschaften, die stets über mich gekommen sind wie Stürme. Aber stürmen wollte ich.
& so vergingen Tage & Wochen & Monate. So vergingen Leben.
& jetzt? November, Aschemonat. Wieder sitze ich in diesem Monat fest, sitze wie gestrandet. Ha. ist längst in Wiesbaden. Auf seiner Abschiedsparty stand ich zwischen seiner Mutter & seiner Schwester & trank mein Leitungswasser aus einem Plastikbecher. Er sah gut aus, gebügelt, daran musste ich denken, er sah aus wie ein frisch-gebügeltes Hemd, schick & schlank & sehr erwachsen. Ich fand mich unverändert. Ich streckte mich nur, um größer zu wirken, & fand das völlig ok. Ich musste ja nichts beweisen. Wir umarmten uns lange zum Abschied, dabei hatten wir während der wenigen Stunden, die ich dort zwischen Küche & Balkon gestanden hatte, kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wir waren Freunde geblieben, oder: wir waren zu Freunden geworden, eine seltsame Art von Freunden vielleicht, weniger intim, als man es nach dieser Intensität erwarten würde, distanzierter. Ich mochte ihn, klar mochte ich ihn, aber dass ich mal Gefühle für den gehabt hatte? Unmöglich! Unvorstellbar. Es ist mir noch heute unbegreiflich. Vermutlich denkt man sich das aber immer nach dem Verbrennen aller Gefühle; vermutlich bleibt einem überhaupt nichts anderes übrig, als sich zu häuten, als die alte Vorstellung der Liebe von sich abzuschälen. Was wäre sonst die Alternative? Ein lebenslängliches Trauern?
Als ich die Treppen hinterging, noch die Wärme der Umarmung dicht an den Rippen, blieb er oben an der Türschwelle stehen & sah mir nach. Schon wieder war ich es, der treppab ging, während er an einer Kante zurückbleiben würde & ich musste lächeln. Wie seltsam, dachte ich, wie seltsam dieses Echo ist. Seit dem habe ich nichts mehr von Ha. gehört. Seit dem habe ich nicht mal mehr an ihn gedacht, um ehrlich zu sein. Warum heute?
Anna sagt: Weil es sich jährt, & gießt sich Vodka nach. Ist doch klar. & ich, der sich jährt in jeder Sekunde, denke an die letzten Zeilen des Briefes, den ich ihm zwei Tage später, am 3. Dezember, geschrieben hatte. Da hieß es:
Wir werden sehen, wann mich der erste Rausch zurück in eine neue Runde wirbelt, mit neuem Flitter & Goldstaub im Haar. Wir werden uns dabei bestimmt begegnen, wie ich all diese losen Fäden kenne, die erst mal vom Wind getrieben, neue Fallstricke binden. Wir werden tanzen wie Götter zwischen all diesem Rot. & es wird ganz wundervoll sein.
& zum ersten Mal seit 365 Tagen habe ich wirklich Frieden gefunden. Mit ihm. & mit mir. & dieser ganzen Geschichte.
Die Probe, Teil 4: Schlingensief, deine Träume sind schwarz
Vor der Ausstellung.
Es verging eine Woche zwischen uns, sie ging auseinander in ratlosen Stunden. Phantomschmerz: H., Prothesenmensch – auf was sich stützen? An was glauben? Ich geriet allmählich durcheinander, kam langsam aus dem Tritt. All diese kleinen Gesten – ein flüchtiger Kuss, die klamme Umarmung beim Abschied, der Blick, der nicht hängen blieb, der Slalom spielte mit mir & meinem Gesicht -, sie machten mich verrückt. Facebook zeigte mir einen Fremden, seine Nachrichten blieben leblos, freundlich zwar & manchmal wirklich amüsant, aber wie geskriptet; jedes Smiley saß an der richtigen Stelle. Keine Klammern. Keine Zeile zu viel. Was kann man da sagen? Hi, ja.
Das letzte Mal, das war bei ihm zu Hause gewesen, waren wir lange stumm geblieben, Kopf an Kopf, die Wangen heiß wie vom Fieber; die Stille zwischen uns war klebrig geworden auf unseren Lippen, ein Honig ohne Süße. Wir waren ineinander versunken, verloren zwischen Dämmer & Traum – im Hintergrund: ein Konzert von R.E.M. -, & schau, hier treiben wir fort. Es bleibt ja nicht mehr viel Zeit bis zum Ende. Halt dich gut fest.
H. schlief, knirschte mit den Zähnen im Schlaf, als ich ihn hielt, die halbe Nacht hielt ich ihn fest, denn ich konnte nicht schlafen, & sah mir also sein Zimmer an: Das Poster über dem Bett, ich erinnere mich nicht mehr, was es zeigte, die braunen Bücherrücken von Reclam Leipzig, schief & quer & übereinander, alle Alben von Arcade Fire – ein geliehenes Leben, etwas, das nichts von sich selbst erzählt. Ein Bühnenbild aus Pappmaché & Draht. Das gehört ihm, dachte ich mir. Das bedeutet ihm was. Nur was – was sagen die Dinge denn aus, was bedeuten sie schon? Müde gingen meine Augen über die Möbel, die Couch war nicht schön, der Tisch viel zu groß, hier lebt der also – echt jetzt?
Ich entdeckte ein Verkehrsschild, das werd ich nie vergessen, das eingeklemmt war zwischen zwei Bücherregalen: kreisrund mit rotem Rand, darin: die schwarze 30 auf weißem Grund, umrahmt von dutzenden Unterschriften; ein Geburtstagsgeschenk – eine nette Idee, die stand jetzt da & zeigte sich halb, zeigte mir Erinnerungen, die mir nicht gehörten, die ich nicht verstand. Der ist schon 30, dachte ich. Über 30. Ungeteilte Jahre. Der hatte schon gelebt bevor es mich gab, natürlich. H. hatte geliebt, war verheiratet gewesen, wurde zerbrochen; der hatte auf Festivals getanzt & sich unsterblich geglaubt, war durch Osteuropa gereist & war verändert zurückgekehrt. H., der jeden kannte, der Hi sagte & Hallo & nach Namen suchte, um sie zu finden. H., der neben mir lag & schlief, dessen Bein zuckte, seine Hand über der Kante, der schmatzte im Schlaf, & wusste nichts von mir, wollte nichts wissen, blieb sich genug.
& ich? Was wollte ich? Was wahrhaben, was wahr machen? Mit geschlossenen Augen sehen, was nicht zu sehen ist? Träumen.
Meine Playlisten wurden trauriger, die Liebeslieder leiser. This modern love breaks me, ja, Bloc Party, total. Am 29. November saß ich krumm im Bureau. Draußen: die Möwen über dem Kanal, stumm gemacht & nur von Weitem, die flogen steil gegen den Wind & fielen durcheinander. Drinnen: Stöckelschuhe, die auf dem dunklen Parkett aufschlugen wie Böller, das Sirren des Kopierers, irgendwas war immer wichtiger, das Herz nie laut genug. Ich schrieb ihm von der Ausstellung, schrieb von Schlingensief & einem Interesse an Schlingensief, das ich bloß heuchelte. Ich kannte den Kranken, den Toten im Grab, ich kannte die Geschichte seines Sterbens, nicht die Geschichte seiner Kunst; ich kannte, wie immer, nur den Verfall, das Verblühen. Die Farben kannte ich nicht. Beim Schreiben der Nachricht spürte ich das Blut in meinen Händen & Armen & Beinen & Füßen. & es war kalt.
Nach der Ausstellung.
Wir gingen ziellos durch Mitte, der Nieselregen war hart wie Kieselsteine. Wir hatten zuvor in einer Bar getrunken, viel getrunken, viel geredet. Heiter & gelassen, wie Freunde, die sich schon ewig kennen. Dabei hatte ich immer wieder eine neue Runde für uns beide bestellt, Bloody Mary nach Bloody Mary, & jetzt durchpulste der Alkohol unsere Stimmen, er machte uns wild & dunkelnd in dieser Wildheit, besinnungslos. Wie oft hatte ich gefragt, wohin wir noch sollten, dreimal? Dreimal. Es folgte kein Hahnenschrei. Kein Sonnenaufgang. Nur dieser Satz vor der U-Bahn, ausgeschnitten aus einer romantischen Komödie: Ich muss mit dir reden. Die Schwere, die mir schon während der Ausstellung in den Mund gestiegen war – sie stieg mir jetzt zu Kopf. Reden? Ja, klar. Kaltes Blut in den Adern, kaltes Blut in den Lungen. Natürlich mussten wir reden.
Also ging ich neben H. & H. ging neben mir – nur wohin? Wir hatten kein Ziel. Es gab nur H., der erzählte & erzählte, von sich & der Liebe, vom Daten & Unbestimmtsein, vom Ausbleiben & Mangeln & Fehlen, von der Leerstelle, die zwischen uns blieb. Wir gingen die Torstraße entlang, ich erinnere mich noch sehr gut an den Weg, bis zur Alten Schönhauser Straße & dann gerade aus, bis zur Rosenthaler, bis zur U-Bahn-Station Weinmeisterstraße. Dort, an der Hauskante: die Nacht wie Krallen in meinem Gesicht – dort gingen wir auseinander. Auseinander, wie wenn man zwei Schnürsenkel entknotet: Er. In meinen Armen, entschuldigend. Ich, an der Treppenkante, den Sturz in Knochen & Herz.
Wie man sich vertun, wie man sich täuschen kann! Jetzt, schnell – alle bringen sich in Position: da wird einer verlassen, der geht als erstes ab von der Bühne, der nimmt die U-Bahn nach Hause, der geht schweigend zu Bett. Er spielt den Erwachsenen ganz ausgezeichnet, der ist reif & sagt Verständiges: Liebe kann man nicht erzwingen, zum Beispiel. Oder: Wir sind ja nicht zusammen, mach dir keine Sorgen, ist doch voll okay. Verliebt? Ach was. C’mon! Wer sagt schon Liebe ohne zu kichern? Wer sagt Liebe & meint es ernst? Am nächsten Tag bricht er eindrucksvoll in drei Teile —
Hier: das falsche Lied, falsche Buchstaben, falsche Gesichter. Die Götter wüten, sie schleudern die Möwen aus allen Wolken, sie peitschen die Wellen im Kanal & frieren die Luft.
Hier: die Flut, die den Hals hinabsteigt in durchlöcherten Venen, sie drängt als Herzblut aus beiden Augen; geschluchzt wird aber bitte hinter vorgehaltener Hand, eingeschlossen in der Toilette, wo das Licht gnadenlos ist, erbarmungslos, weiß. Nein – nein. Wie banal alles ist, diese kleinlichen Menschen mit ihren kleinlichen Sorgen, wen interessiert dieser Scheiß? Steck dir deine Newsletter doch —
Wut, die in Trauer kippt, die Leere wird. Minutenweise: das Zittern – ein Schock, der aus der Magengrube sich ins Freie schüttelt. Amputieren muss man sich vom eigenen Heulen, Schluss! Hör auf jetzt! Hör auf, & die Tränen schmecken wie Schierling.
Hier: die Blässe, die ins Gesicht steigt, sie kommt aus dem Innern, sie fräst über die Lippen, schleift Augen & Stirn & brennt sich in jeden Gedanken. Nein, nein, es ist zu viel jetzt, wirklich, das geht nicht mehr, das ist zu viel für einen Menschen, diese Teenagerwünsche, zu schnell geäußert, werden zu Flüchen. Was brennt, wird zu Asche. Hör auf, beherrsch dich, so kannst du nicht raus. Also stammelt man Entschuldigungen, um nach Hause gehen zu dürfen, man stammelt sich das Spiegelbild zurecht, das einen Geist zeigt. Eine Hülle. Sonst nichts.
Einer geht, das bin ich, einer geht, & bleibt sich zurück.
Die Probe, Teil 3: Lichterne Träume
Anna & ich waren viel zu spät – es war ein Sonntagabend, kurz nach halb 6 -, & noch ganz außer Atem. Waren wir gerannt auf den letzten paar Metern oder warum waren wir so kurzatmig, eigentlich? Ich erinnere mich, ich hatte es eilig gehabt, hatte längst auf dieser Party sein wollen, die den Schlussstein einer Ära setzte – die Closing-Party am Mehringdamm dauerte über 48 Stunden & versammelte dutzende DJs der Stadt, Freunde, Affären, die Hoffnungen unzähliger Generationen. Einer wie ich durfte nicht fehlen.
Anna & ich stiegen eilig ins Tiefe, das rot war, beugten die Köpfe, hier: Männer, dort: Männer, überall der dröhnende Bass & flackernde Lichter. Die Luft war schwer vom Suff, süß im Schweiß. Sie waren alle da, Mathieu & sein Freund, die Mademoiselle Duchamps, Santiago – die begrüßten uns lachend, die warfen goldenen Glitter & tanzten. & die Dragqueens heulten alle.
Im Museum, wenige Stunden zuvor, hatte ich Anna noch gesagt, ich wolle mich wieder verlieben oder überhaupt, mal jemanden treffen, der mein Leben auf den Kopf stellen könne – ein Teenagerwunsch, dumm & naiv & nicht weiter definiert; etwas, das einem stumm im Kopf rumgeht, für Wochen vielleicht, & dann ist das plötzlich auf der Zunge, springt unbedacht ins Freie, poltert & rumpelt & klingt furchtbar schief. Verlieben? Wohl eher: sich in einen stürzen, & lodern, wie wenn man Reisig ins Feuer gibt. Was hatte die Liebe mir schon Gutes getan? Distanzen, Abschiede, krumme Erwartungen auf gemeinsame Leben, die immer kollidierten. Ein Aufprall ist keine Berührung.
Nein, ich hatte nie die Liebe gefordert, herausgefordert zum Kampf, aber was dann? Was kann man bloß wollen?
Anna hatte neben mir gestanden & den Kopf geschüttelt. Liebe? Das passiert, wenn man grade nicht hinschaut, eine Weisheit wie aus einem Beziehungsratgeber, zugegeben, aber sie, ausgerechnet, musste es wissen – die Geschiedene, die seit Anfang des Jahres der Liebe ein neues Kleid nähte, ein bunteres, engeres, eines, das raschelte bei jedem Schritt & beim Tanzen klang wie das künftige Glück. Auf dem Weg zum Club waren wir beide, sie & ich, ganz irr gewesen von all unseren Wünschen & später, auf der Tanzfläche, als mir die Droge knisternd ins Blut stieg & goldne Funken in die Augen trieb, da hatte ich längst vergessen, was Forderung gewesen war & besseres Wissen.
Ich tanzte & tanzte, der Boden wurde mir leicht, wurde mir Luft & Schwerelosigkeit. Ich tanzte ohne Unterbrechung. Immer wieder begegneten mir dabei Blicke, die kreuzten mich wie Schiffe das Meer, durchkreuzten mich, schwankend & tosend, die sanken am Grund meiner Augen. Hier war einer, ganz blond & ganz dünn, der schaute so ernst beim Wippen der Hüften, da musste ich lachen, & hier: der Ältere, im weißen T-Shirt & darunter: ringelnde Haare, der lächelte als schliffe er Messer mit seinen Zähnen, der tanzte so leidenschaftlich, ich dachte, der Boden entzünde sich unter seinen Schuhen, & hier: einer, der war ganz unauffällig, der schob sich dicht an den Rand des Dancefloors, hielt sich fest an seinem Bier, ein echter Beckenrandschwimmer, der sah mich an, & wieder, & wieder, der ging mir nach & zwischen die Leute, bis er hinter mir stand. Hi. Ja, hi.
Pause.
Ein schiefes Lächeln, ein Lauern im Blick.
Küssen, ihn küssen, das heißt: Verschwinden im Geborgten.
Untergehen mit allen Schiffen.
Wir sprachen nicht viel am Anfang, wir hielten uns bloß, küssten uns, das war wie ein Luftschnappen, wir schnappten einander nach & atmeten uns, erst ein, dann aus, & als das Licht anging, taumelten wir raus in die Nacht, die finster war & ohne Gedanken. Wohin? Zu mir! Im Bus stellten wir uns vor, hörten der Stimme des anderen nach, klopften die Tonlagen ab. Das also ist einer, der lebt, lebt, lebt, der hat einen Namen, sucht einen Job, der geht nach Wiesbaden, so so, na, in so einen verliebt man sich nicht, nee, sorry, ich schlaf nicht mit dir. Wir spielten miteinander, sagten das eine, meinten das andere, lachten selig, er in seinem Alkohol, ich in meinem MDMA. Am Hackeschen Markt standen wir schließlich in Kälte & Schatten & warteten an der Bushaltestelle auf die richtige Richtung; ich wollte ihn, wollte ihn besitzen, wollte besessen werden, wollte – alles. & er wollte mehr. Aber nein, ich schlaf nicht mit dir. Ich drückte meinen Kopf gegen seinen Bauch, denn er stand vor mir & umarmte mich ganz & er war warm, fast heiß, & als der Bus kam, da nahm ich ihn mit.
Wir stürzten einander nach in mein Bett, & träumten lichterne Träume.
Am nächsten Morgen saß H. in der Ecke, wo ich immer sitze, & trank seinen Kaffee. Als ich nach der Arbeit nach Hause kam, war das Bett ungemacht & die Tasse stand schief auf einem der Bücher. Ich sehnte mich seiner, seiner Hände & Lippen, seinem Erdmännchenkörper. Er kam noch am gleichen Abend wieder.
Von 0 auf 100 in wenigen Stunden: Wir gingen aus miteinander & tanzten, wir tranken. Nachts ließen wir uns nicht los, nie, sondern sprachen leise über Musik, über die Bands, die wir liebten, & über das Scheitern alter Lebensentwürfe, von gebrochenen Herzen. Wir sprachen über den Sturm namens Berlin, über Wiesbaden & das Theater, wo H. anfangen würde zu arbeiten (schon das allein, ein Stich!), & über das richtige Essen. Wir? Ich. Er. Jeder sprach über sich selbst & meinte damit den andren. Auf seiner Couch lagen wir, er auf mir & die Beine unrettbar verknotet, & aßen die Plätzchen seiner Großmutter aus einer goldenen Schachtel; da waren Filme & YouTube-Videos & immer die Musik.
Liebe? Eine Probe zur Liebe, eine Testversion. Etwas, das man zurückgibt, weil’s einem vielleicht doch zu eng ist am Hals.