Von einem, der auszog…

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Wer die Gewinner sind in Zeiten wie diesen, frage ich mich, wer die Goldherzen hat, die Oscars, aufgereiht zwischen müden Organen, & weiß nichts – rein gar nichts –, so spontan zu erwidern, was sinnvoll wäre, oder, ach, wenigstens nur sinnvoll klingt. Dabei wurde ich erneut, genauer: bereits zum zweiten Mal!, mit dem Liebster Blog Award ausgezeichnet, & zwar von Yuliya. Jetzt bin ich sehr stolz & auch verlegen (allerdings auch sehr verwundert), & versuche mein Bestes – in Zeiten wie diesen.

Liebster Blog Award

Man sagt mir nach, ich würde die Dinge nur verkomplizieren. Ich würde es den Menschen schwer machen, schwer mit dem Essen & schwer mit dem Lieben. Ich würde immer & überall ein Gewicht mit mir herumtragen, das ich in den ungeeignesten Momenten den anderen auf die Füße fallen ließe – manchmal, mit einem schelmischen Grinsen. Ich wäre ein Verwüster, ein Tunichtgut, einer, der auszog, um das Fürchten zu lernen – obwohl er am Ende keinen Eimer mit Fischen ins Gesicht geschüttet bekommt, weil neben ihm keine Frau im Bett liegt, sondern ein anderer Kerl. Ich müsse immer alles kritisieren – nur nicht die eigenen Superlative, & rupfe oftmals solange an den wenigen, guten Haaren bis keine mehr blieben. Wer da also so haarlos durch die Straßen Berlins zieht, ist halb Fabelwesen, halb Hirngespinst, was beides, sind wir mal ehrlich, oftmals rein gar nichts miteinander zu tun hat, aber in meinem Fall angeblich ganz viel. Das aber nur so als Intro. Damit klar ist, wer antwortet.

1. Wie kamst du zum Schreiben?

Das ist einfach: Ich kam nicht, ich war bereits da. Oder anders: Das Schreiben war es, das mir zulief, nicht andersherum. Nein. Vielleicht war das Schreiben eher etwas, das angeflogen kam, wie eine Brieftaube, oder vielleicht war es wie ein Geysir, der mir urplötzlich unter den Füßen ins Freie brach & mit sich mir in die Glieder. Kann das Schreiben etwas wie eine Fähigkeit sein, die man entwickelt – ähnlich dem Schnürsenkelbinden? Oder ist das Schreiben ein Talent, ein angeborenes, wie Gefühlssynästhesie oder Farbenblindheit? (Schau, ich fühle dich beim Tippen, du sinkst in mich ein beim Lesen, wir sind eins in den Wörtern).

Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Das Schreiben war schon immer da, war gewissermaßen vor mir. Es zeigte sich als bauchige Buchstaben auf liniertem Papier – in Form meines Namens, & immer: im Namen eines Fremden –, & in der alten Schreibmaschine meiner Mutter, oder Tante, die, grünlich-bläulich, auf dem Küchentisch stand, wo ich auf sie einhämmerte mit ungelenken Fingern & großer Frustration. Das Schreiben war in mir & um mich, noch bevor ich die Bücher entdeckte, es ging mir nach bis zur Schule & saß mir im Unterricht stets zuvorderst auf der Zunge. Wenn ich in der Schule schrieb, schrieb das Schreiben. Nicht ich. Man könnte somit also behaupten, das Schreiben sei im Grunde nicht untrennbar mit mir verbunden, sondern viel eher, dass das Schreiben & ich deckungsgleich – dasselbe – sind.

2. Bevorzugst du eine Art des Schreibens (Lyrik, Prosa, freie Gedanken etc.) & wenn ja, wieso?

Oh, & was, wenn nicht? Ich klopfe stets die Eventualitäten ab, die Möglichkeiten der Sprache. Falls ein Nein fehlt, so könnte doch wenigstens ein Vielleicht – ein Möglicherweise – ein Gegebenenfalls in die Zwischenräume schlüpfen & sie, atmend & im Atmen wachsend, erweitern bis sie groß genug sind, um alles zu fassen, was Sprache ist. Ich bevorzuge, was möglich ist. Alles andere ist eine Zumutung. Andererseits bin ich ein furchtbarer Amateur & weiß von den Arten des Schreibens ungefähr so viel wie vom Kriegführen: Wer die falschen Waffen wählt, verliert. Warum also nicht einfach alle wählen?

3. Hast du ein Lieblingswort?

Nicht eines, viele. Hagelzucker beispielsweise, eine süße Härte, eine Gewalttat der Sinne. Davor war es Shoah, die trug ich bitter zwischen den Zähnen. Dass die Wörter oftmals nur in einem furchtbaren Kontext existieren können & dabei Grausames in sich verstecken, macht sie umso reizvoller für mich. Was nicht heißt, dass ich nur Tod & Verderben sammle. Ich mag Schlüsselwörter & Allegorien, mag den Geschmack der Sehnsucht im Mund & die Weberknechte als Wimpern an beiden Augen.

4. Welche drei Lieder oder Musikstücke hörst du zurzeit am liebsten?

Aus meiner Spotify-Musikliste, chronologisch zur Sucht gestapelt:


1. Romare – Come close to me


2. SOHN – Conrad


3. Muddy Monk – Si l’on ride


5. Hast du mal selbst Musik gemacht oder machst du Musik?

Ich habe mal in einem Traum eine Oper geschrieben, ich hab sie sogar aufgeführt. Sie war ein Meisterwerk. That’s it.

6. Welches Buch hat dich besonders inspiriert?

Inspiriert? Zum Schreiben, zum Leben? Ich wünschte, ich könnte das auf irgendwas begrenzen, könnte mit Garn bespannte Stöckchen in die Erde rammen, um den Rahmen abzustecken – stattdessen fallen mir nur ganze Namenslawinen ein, die alles unter sich begraben: Die Stöckchen, das Garn, mich. Ich kann mich nicht entscheiden. Es beginnt vermutlich mit Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, das hat mich beeindruckt, gleichzeitig aber auch die Biografie von Hermione Lee über Virginia Woolf; ich wurde elektrisiert von Bolaños Wilden Detektiven, von Kafkas Verwandlung (& auch von seiner Strafkolonie, über die seltsamerweise immer noch viel zu wenige Menschen reden); Elias Canettis Blendung hat mich schlichtweg aus den Socken gehauen, ebenso wie Safran Foers Everything is illuminated. So gut wie alles von Herta Müller hat mich inspiriert. & die Kassandra von Christa Wolf. Ich kann aber vermutlich endlos Büchernamen & Autoren aneinander reihen. Das Buch, was mich (bisher) am meisten beeindruckt hat – wenn ich das so sagen kann –, war allerdings Adrienne Mesurat von Julien Green.

7. Was magst du am Tag, was an der Nacht?

Tags. Es gibt die Tage im Frühling, wenn der Himmel das erste Mal wieder aufbricht – gefühlt: seit Beginn der Wetteraufzeichnungen –, & die Sonne, wie gestoßen, zwischen die Wolken fällt als weißgelbe Kugel, & wenn es zuvor geregnet hat, dann riechen die Straßen wie frisch gewaschen. Ich mag den Geruch des Tages, die Bäckereien, mit denen alles beginnt, die jede Fußgängernase in Kaffee & frische Brötchen tunken, & ich mag auch die Geräusche des Tages: das eilige Rattern der S-Bahnen, ihr Fiepen, das Zeitungsrascheln zwischen den Tagmenschen, die ihrem Tagwerk nachgehen – so, als gingen sie endlos in Kreisen. Ich mag das Essen des Tages, das Auftischen zwischen Frühstück & Mittag, die Gedankenlosigkeit der Gabeln & Messer, dazwischen: ein verschmitztes Grinsen. Tags ist alles sichtbar, plastisch; ich mag das Greifbare des Tages, die Dreidimensionalität der Dinge. Es gibt kein Verstecken. Im Sommer: das Liegen an Seen & im kurzgeschorenen Gras, das einem zwischen den Fingern knistert wie Stroh. Das Licht, das über die Oberflächen brandet & sie vergoldet, das geschieht vor allem im Herbst. Ich mag das Licht des Tages.

Nachts. Mich hat die Nacht geraubt, ich war der erstgeborene Sohn. Ich mag die Geschwindigkeit der Nacht, ihr lautes Dröhnen, ihre Langsamkeit, ihr erstickendes Schweigen. Ich mag, was sie aus den Farben macht – Erscheinungen! – vor allem im Winter, wenn der Himmel & der Boden ziellos ineinander übergehen. Ich liebe die Gleichmacherei der Nacht; sie ist wirklich gerecht. Ich mag ihre Schatten & Geheimnisse, mag ihre Winkelzüge & Intrigen. Die Nacht wartet mit Messern, sie presst Herzen kaputt & steckt Körper zusammen wie Legosteine – die Nacht ist Mörderin & Geliebte: Sie reißt einem die Augen auf im Wahn & schüttet noch Wein nach in jedes unserer leeren Gläser. Ich mag die Ehrlichkeit der Nacht, ihre Gnadenlosigkeit. In der Nacht verlieren Menschen erst das Gesicht, dann ihre Unschuld. Ich mag ihre Gier & den Hunger, der einen überfallen kann, wenn man vom einen Club in den anderen taumelt, morgens um 4. & trotzdem: Es herrscht auch Stillstand, Ruhe, das Vakuum der Schatten. Die Sehnsucht nach dem eigenen Bett. Das Glück zu träumen.

8. Was für einen Blick hast du, schaust du Menschen viel in die Augen?

Manchmal: den Blick getriebener Tiere. Manchmal: den Blick der Manischen, der Depressiven, der Irren, die sich nackt noch angezogen fühlen. Manchmal: verständnislos, unruhig flackernd, ungeduldig. Oftmals: zornig. Selten: angekommen. Ich habe manchmal das Gefühl, ich sehe in Wahrheit weniger mit den Augen – & nein, bitte, kleiner Prinz, bleib wo du bist, ich seh mit dem Herzen auch nicht besser –, als vielmehr mit der Idee des Sehens. Manchmal habe ich das Gefühl, ich würde tatsächlich überhaupt nichts sehen. Das beginnt mit dem Fokussieren – & endet in Unschärfe.

Was den Augenkontakt anbelangt: Ja, oft. Oft aber auch nicht, nein. Manchmal erscheint es mir völlig absurd, dass sich Menschen anschauen müssen, um einander zu sehen (wo wir wieder beim Thema wären). Meine Augen sind gefährlich, oder zumindest wurde mir das damals, zu Uni-Zeiten, von Josh attestiert. In meinen Augen lauere Wahnsinn, sagte er. Wer meinem Blick zu lange standhalte, der verliere sich im Weißblausilberngrau & dem Schwarz meiner Pupillen. Damals habe ich noch darüber gelacht. Heute weiß ich nicht, ob er nicht doch vielleicht Recht damit hat.

9. Das Erste was dir einfällt, wenn ich frage: Was ist das Schönste, was du je gesehen hast?

Das Leben, glaub ich, die Summe der Einzelteile. Ein papierner Schmetterlingssturm des nachts & unter mir eine tanzende Menge. Ein lachendes Kind in der U-Bahn, das mit seinem Gelächter alle anderen Passagiere ansteckt & am Ende, da lachen sie alle. Ein azurblauer Himmel in Barcelona – darunter: kubanische Nutten in zu kurzen, zu bunten Röcken, die mit Don rauchen & mit mir lachen. Zwei Stühle, einer blau, der andere rot, die am Strand von Tel Aviv im Sand stehen, wo Herr Da & ich uns küssen – davor: ein Technicolor-Sonnenuntergang-Wunder.

Mir fallen sofort dutzende, hunderte Augenblicke ein, manche davon schrecklich banal, andere groß & schwer & an den Rändern aus gleißendem Licht. Eine Liebe, die wie ein Blitz einschlägt & das Alte Rom bis auf die Grundmauern niederbrennt. Eine Liebe, die das Bett frisch bezieht. Eine Liebe aus Wahnsinn & Hunger. Meine damalige Mitbewohnerin Greta, die in ihrem seidenen Morgenmantel in der Küche stehend, ihren Minztee brüht & sich die Avocado aufs Brot schmiert. Goldflitter im Haar & Konfetti in jeder der Socken. Das Lächeln meiner Mutter, wenn sie mich nach über einem Jahr Abwesenheit wieder in die Arme schließt. Eine abgeschlossene Geschichte, ein vor Publikum vorgelesenes Gedicht. Ein Teenager in Madrid, der vor den vorüberziehenden Massen der Pride, am Straßenseitenrand, eine Regenbogenflagge hochhält & dahinter: der glückliche Vater.

Alles davon, gleichzeitig, übereinander gelagert, immer.

10. Was würdest du dir selbst gerne mitteilen?

Komm schon, setz dich hin & schreib dein Buch zu Ende. Keine Ausreden mehr. Begegne dem Unbequemen als Läuterung. Du hast genug Angst gehabt in deinem Leben. Es ist Zeit für die Liebe, & auch für die Revolution! Etc., etc.

11. Wie schwer wiegt das Leben?

Gar nicht. Das Leben ist nicht messbar – weder in Herzschlägen, noch in Atemzügen, schon gar nicht in Gewichten. So wie der Ozean keinen konkreten Anfang oder ein definitives Ende kennt, so stellt sich auch das Leben auf keine Waage.


Der Liebster Award kennt Regeln, die sind mir aber, ehrlich & mal ganz unkonventionell gesagt: wurscht, & zwar reichlich. Ich nominiere, wer mir am Herzen liegt. Das wären vor allem: 1. das Fräulein Artischocke, mein persönliches Fräulein Wunder; 2. die Wirsching, aka die Piratenbraut; & last, but not least: 3. die unnachahmliche Candy Bukowksi, die Zunderfrau, die mich immer aufs Neue begeistert.

Meine Fragen sollten harmlos sein, & ich möchte sie auch kurz fassen, damit sich niemand ganze Tage freinehmen muss zum Antworten:

1. Welcher Autor hat dich das letzte Mal berührt? (Im Zweifelfall auch unsittlich).
2. Was kann uns noch retten?
3. Was war dein größtes Scheitern?
4. & was dein kleinster Erfolg?
5. Was davon war im Nachhinein wichtiger & warum?
6. Was ist dein Lieblingsort (in deiner Stadt oder: in irgendeiner Stadt)?
7. Weswegen?
8. Welcher persönliche Gegenstand liegt dir am Herzen & warum?
9. Aus welchem Film bist du aufgestanden & gegangen?
10. 1x dein Beerdigungssong, bitte.

Stürme

busy.

A –
Stell dir ein Land vor, über das niemand herrscht. Ein Königreich ohne Könige, da will niemand deinen erstgeborenen Sohn. Stell dir vor, alle Tempel sind verfallen, die Kirchen sind leer. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch & schaut hungrig durch ihr schwarzes Haar. Stell dir vor, es wäre egal, wie viel du verdienst, aber nicht, wer du bist. Ich meine, sagt sie, ist es nicht völlig absurd, dass wir noch immer Unterschiede machen – zwischen dir & mir, zwischen Frau & Mann, zwischen Sex & Sex. Wie kann eine Gesellschaft, der das Individuum so sehr am Herzen liegt wie unserer, gleichzeitig so hartnäckig durch anderer Menschen Schlüssellöcher schauen wollen? & was sie da nicht alles sehen & verurteilen… Wer heute einen Schwanz in den Mund nimmt, muss knien – ein ganzes Leben lang. Die Frauen vor Dankbarkeit, die Homos vor Scham. Warum überlebt sich so ein Denken nicht?

B –
Weil es zu anstrengend wäre, eigene Werte zu schaffen, also besinnt man sich vielmehr auf die ehernen Gesetze des Patriarchats, da wird kurzerhand die Mutter aus dem Gebot gestrichen, man ehrt die Väter, die allwissenden, die abwesenden, die gütig über uns zu Gericht sitzen wie Götter. Wer, wenn nicht Wir wissen, was gut für euch ist? Hat denn niemand begriffen, wie sehr sie sich ähneln, diese männlichen Gesellschaftsbilder? Sie verschleiern dich & schicken dich fünf Meter hinter sich, weil das ihr Wille ist; sie machen deine Röcke kürzer & dein Gesicht ganz bunt, weil das ihre Freiheit ist; sie verkaufen dir Schönheit, Liebe, Glück, weil sie was vom Marketing verstehen. Es ist völlig egal, ob es die fundamentalen Kapitalisten sind, die ihre Frauen nackt über die Catwalks jagen, weil sie Nacktheit als Zeichen der Selbstbestimmung verkaufen, oder die fundamental Religiösen, die ihren Frauen jedes Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Am Ende, da entscheidet immer nur der Mann. So hat die AfD beispielsweise mit Salafisten mehr gemein als ihr lieb ist: Diese wie jene dulden weder alleinerziehende Mütter, Feminist*innen noch lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle & queere Menschen.

Die Wut der Stammtisch-Besorgten schwappt in gestammelten Worten
aus ihren Gläsern, aus den Kneipen auf die Straßen allerorten
vielleicht wär es leicht die wahren Gründe zu ergründen
doch viel leichter ist es immer noch ’n Sündenbock zu finden
*

C –
Wenn die ARD einer Partei wie der AfD ein Zusatzwort wie populistisch streicht, verschiebt sie die Wahrnehmung. & es sind die kleinen Verschiebungen, die von der Mehrheit nicht bemerkt werden, die am Ende die großen Katastrophen nach sich ziehen. Wenn der Deutschtürke, der seit drei Generationen in Deutschland lebt – der Deutscher ist, & Türke –, sagt, er wolle weg aus Deutschland, denn das Land sei nicht mehr sicher… Wenn die Intellektuellen in ihren Elfenbeintürmen entsetzt aufhorchen, wenn auf AfD-Kundgebungen plötzlich Nietzsche zitiert wird (Was fällt, das muss man stoßen), aber die, die an der vordersten Front sitzen, schon seit Jahren ungehört um Hilfe rufen. Wenn Autos auf offener Straße stehen bleiben, um dem schwulen Pärchen Schwuchteln nachzuschreien. Wenn türkischen Frauen auf offener Straße die Hidschābs von den Köpfen gezerrt werden. Wenn in Hausfluren & an Straßenlaternen plötzlich Hakenkreuze auftauchen, Parolen, rechte Reden – überall –, die wie Gift ins Grundwasser sickern, in die abgestandenen Diskussionsrunden der Altvorderen, die nicht mehr wissen, was sie sagen sollen angesichts des moralischen Versagens der sogenannten Leitkultur des Deutschen Volkes. Wenn das Thema Politik am Tisch schnell tot ge-schhhht wird, weil über Politik redet man nicht, man streitet bloß, aber streiten will in diesem Land eigentlich auch niemand mehr. Man will nur Recht behalten.

Also fackeln sie nicht lang, nehmen die Fackeln in die Hand
jede Woche steht ein neues Asylantenheim in Brand
der Applaus treibt Söder, Seehofer & Scheuer hinters Pult
aber wer mit Worten zündelt, trägt am Feuer seine Schuld
*

D –
Also, was tun, sagt sie & nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer viel zu kleinen Tasse & schaut in die Runde. Alle Probleme, seit Jahren thematisiert, fallen eins dem andren nach & uns auf die Füße. Aufstehen, sagt Patrice & lächelt. Nicht aufgeben, sagt Andrew & steckt sich die Zigarette an. Wir müssen tun, was wir am besten können, sagt Mathilde; ihre Augen sind groß & blau & strahlen im Licht. Unser Boden: Ein Wurzelgeflecht der Wut. Unsere Luft: Der Mief der Enttäuschten. Wir gehen mittig auf der Straße, hinter uns schwenken sie große Regenbogenfahnen. Fahrradklingeln, Autohupen. Ich höre Trommeln. Gerade jetzt, sagt sie & legt drei Euro auf die Untertasse, gerade jetzt ist es wichtig, das Ausmaß zu verstehen. Wir haben zu lange gewartet, zu lange gehofft, uns zu lange abgelenkt. Es ist Zeit, Position zu beziehen. Zeit, sich zu entscheiden. Neue Werte zu formen, sagt sie. Eine Meinung. Es ist Zeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Verbindungen zu schaffen. Wir brauchen Gegengewichte. Brauchen die Homos genauso wie jede*n Feminist*in, wir brauchen die wütenden Drag Queens, die alleinerziehenden Papas, die Flüchtlinge – wir brauchen sie alle, die glücklichen Familien & die unglücklichen Singles – denn alle, wir inklusive, müssen verstehen, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. & das ist nicht nur unsere Menschlichkeit oder die sogenannte Zukunft unserer Kinder. Es ist noch nicht mal die Demokratie. Es ist alles, was Wir ist & Wir sagt, es ist die Gesellschaft selbst. & wer das noch nicht begriffen hat, den wird der heraufziehende Sturm noch früh genug aus dem Schlaf reißen.

*Wir sind alle nicht von hier – Jennifer Rostock