Madeleine, Pt. 2

Was aber, dachte sie sich heute, war das eigentlich für ein Glück? Eine vorübergehende Laune? Eine Atempause zwischen zwei Schlägen? Sie wusste heute nicht mehr, wie lange sie vor dem Bild gestanden, in diese warmen Augen geschaut hatte, als müssten sie gleich blinzeln. Stunden? Es mussten Stunden sein. Irgendwann hatte sie sich dabei ertappt, wie sie – wie in Trance – durch die Bildbände im Souvenirladen blätterte, wie sie die Postkartenständer im Kreis drehte, den Blick von Motiv zu Motiv springend, und mit ihrem schlechten Schulfranzösisch das leicht entnervte Personal nach Memorabilia der Künstlerin befragte. War das noch am selben Tag gewesen? In ihrer Erinnerung war sie wie hypnotisiert durch den Louvre geirrt, war mehrfach im Kreis gelaufen, um dann doch wieder vor dem Portrait zu landen. Sie musste dieses Bild besitzen – egal, in welcher Form. Sie musste es mit sich nehmen, aus dem Zusammenhang ihres Aufenthalts in dieser Stadt reißen, haben, immer nur haben,… War das Glück? Oder war es eine Form der Besessenheit? Madeleine, Madeleine!

Sie konnte sich im Nachhinein nicht mehr erklären, was mit ihr geschehen war vor diesem Bild. Sie wollte alles über diese Frau erfahren. Woher kam sie, warum wurde sie gemalt, wo ging sie hin? Zur Bestürzung der Verkäufer:innen fand sie weder Kunstdrucke des Portraits, noch ausführliche Informationen über Madeleine. Also setzte sie sich in eines der Cafés in der Rue Lamarck, wo sie ihre Wohnung bezogen hatte, & verbrachte Stunden mit der Recherche: Sie durchsuchte altmodische Webseiten, die sich nur mühsam übersetzen ließen, & hielt Ausschau nach Querverweisen & Buchempfehlungen, die sie, falls sie überhaupt welche fand, akribisch notierte.

Gierig las sie über die Familienverhältnisse der Künstlerin und das damit einhergehende Privileg ihrer Erziehung zu einer Zeit der systematischen Benachteiligung von Frauen, über ihre Leidenschaft für Historienbilder, ihren beinahe verhängnisvoller Flirt mit der Monarchie & die damit verbundene Flucht nach Guadeloupe; sie las über ihr künstlerisches Aufblühen unter Napoleon I. – & dann: Madeleine, ein Skandal! Das Portrait einer schwarzen Frau als Zeugnis einer notwendigen, einer überfälligen Humanität, & das von einer Französin gemalt, welche die Gunst des Kaisers genau dann erworben hatte, als er danach strebte, die Sklaverei im Land & in den Kolonien nach über sechs Jahren ihrer Abschaffung wiederherzustellen. Sie las entsetzt von dem Shitstorm, der aufgrund des Portraits über Benoist niederbrach, die scharfe Kritik & die Beschimpfungen; man weigerte sich, das Bild auszustellen, nannte es einen „Irrtum“, einen „schwarzen Schandfleck“, die Frau schlicht „von Sinnen“. Es dauerte bis sich Benoist von diesem Skandal erholte, dauerte Jahre, die sie damit verbrachte, die engsten Bekannten aus Napoleons Umkreis zu portraitieren, kleine, romantische Bilder von blassen Frauen & ihren pausbäckigen Kindern. Bis auch das unmöglich wurde: Mit Napoleons Niederlage wurden konservative Stimmen laut, die Benoist dazu aufforderten, ihre Arbeit sofortig niederzulegen, ihre Karriere aufzugeben, & dank der Restauration unter König Ludwig XVIII. wurden diese Stimmen auch gehört. Benoist trat aus dem Licht der Kunst zurück in die Rolle, die ihr von der Gesellschaft, den Männern, zugesprochen wurde: die Rolle als Hausfrau & Mutter. An dieser Stelle, an diesem Punkt der Verdrängung, des Unsichtbar-Machens endeten die Artikel & Beiträge. Marie-Guillemine Benoist verschwand. & übrig blieb: Madeleine.

Also? Martha. Martha, die am Küchentisch saß, ihr Besteck überkreuz legte, lauerte. Ich hab mich grad an was erinnert, sagte sie & drückte die Zigarette aus. Gab’s doch noch Fische, Wale vielleicht? Ging nicht um den Traum. Sondern? Ein anderes Leben.

Madeleine, Pt. 1

Sie saß am offenen Fenster & tippte sich die Zigarettenasche in eine Tasse, die bereits voll war mit Asche. Ich hatte einen Traum, sagte sie. Ich trieb hinaus auf die offene See. Da war nichts, nur Wasser & Himmel, endlos zu beiden Seiten, & ich, ich war allein, also: ganz allein. Da waren keine Fische im Meer, kein Leben. Da war nichts, wiederholte sie & schnippte die Kippe gegen die Tasse. Ich hab das gespürt, diese Leere, diese Raumleere, da war einfach — Nichts? Erschrocken drehte sie ihren Kopf in Richtung der Stimme, drehte sich aus der Schwärze ihrer Erinnerung heraus, wie man einen Stein umdreht ins Licht, & da war er, dieser Novembermorgen, das Jahr 2 der Pandemie: eine Gegenwart ohne Ränder & Ecken, nahtlos ineinander geschichtete Sedimente der Zeit. Sie saß hier am offenen Fenster & Martha, die andere, saß dort drüben, am Küchentisch gegenüber vom Herd, & schob sich das Rührei von links nach rechts über den Teller. Nichts, wiederholte sie & schmeckte das Wort wie den Rauch, die kalte Luft, den Kaffee – einen unbestimmten, namenlosen Geschmack, der sie lächeln ließ. Warum lächelst du? Gute Frage. Sie konnte sich dieses Lächeln eigentlich überhaupt nicht erklären, selbst der Kaffee war zu bitter für einen Morgen wie diesen, aber Martha – Martha, die sich mit der Kuchengabel das Rührei in den Mund schaufelte als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen – war so schön, in diesem Licht, an diesem Morgen, so schön, dass sie sich satt sehen wollte an dieser Frau, die vornüber gebeugt am Küchentisch saß & aß wie ein Schwein, selbst unersättlich, selbst immer hungrig;

die Frau, die nichts trug außer ihr viel zu großes, schwarzes T-Shirt,
die weißen Sportsocken hochgekrempelt fast bis zum Knie;
das braune Haar hochgesteckt & wirr noch vom Schlaf,

die Frau namens Martha, die ihr gestern an den Lippen gehangen hatte – eine Ertrinkende an der Reling eines sinkenden Schiffs –, & sie jetzt aus dunklen Augen anschaute, fordernd, lauernd. Ein Zwinkern, ein Handzeichen könnte genügen, dachte sie sich, & Martha würde sich erneut auf sie stürzen, würde sie vom Fenstersims aufs Linoleum stoßen & noch im Fall den Bademantel vom Leib reißen. Wäre das so schlimm? Vermutlich nicht.

Du lächelst ja schon wieder, sagte Martha schmatzend. Der Schönheit wegen lächeln – versonnen – trunken, hatte sie das je getan? Sie sah sich im Louvre an den marmornen Büsten vorüberlaufen, an unzähligen Brüsten, Hüften, Schlüsselbeinen, vor der Venus von Milo sah sie sich stehen, deren Arme sie nie umfangen würden, vor der Diana von Versailles, deren Tunika aussah wie Papier – würde sie knistern? würde sie brennen? –, und vor den drei Grazien, deren schwer geknüpftes Haar sie gern berühren, gern entflechten wollte,… Nichts als von Männern beseelter Stein. Von Männern besehen, befingert & ins rechte Licht gerückt, dorthin, wo sanft der Staub fiel. Wie hatte sie sich damals nach Statuen von Frauenhand gesehnt; dieses Museum war voll von pinselschwingenden Schwänzen. Dachte sie. & dann stand sie plötzlich vor dem Portrait der Madeleine von Marie-Guillemine Benoist… & spürte den Strom in ihren Adern, das pulsierende Blut: Madeleine – ihr schwarzes Haar unter einem aufwendig geknoteten Kopftuch versteckt – in diesem strahlend weißen Kleid, das ihr von beiden Schultern rutscht, die warme, dunkle Haut ihrer rechten Brust enthüllt, & schaut – nicht lauernd, nicht fordernd, sondern offen, vielleicht höflich, auf eine Geste, eine Einladung wartend – schaute sie an, über die Jahrhunderte hinweg, schaute ihr direkt in die Augen, & genau da, in diesem Augenblick, lächelte sie dieses flüchtige, wie hingeküsste Lächeln. & war glücklich.