Schierling

Die Vergangenheit trage uns nicht, sagst du, & streichst dir den gestrigen Tag aus den Augen. Meine Füße seien nass, sag ich, & zupf mir die feuchten Socken vom Fuß. Es ist Winter, es ist spät. Wir sitzen beieinander. An einem Ort, wo sich zwei Linien treffen. Irgendwo zwischen den Tagen. Du in einem T-Shirt von mir, ich in meiner Haut. Es ist nicht genug. Ich seh es genau; den Weinglasstiel auf dem grauen Sesselstoff; die Chipsbrösel auf dem Parkett. Das hier, das ist nicht genug. Mir schlägt ein Herz in beiden Augen; es macht mich blind angesichts deiner. Du bist mir der Schierling im Becher, du bist mein letzter Schluck. Ich sage nichts. Das Schweigen fühlt sich plötzlich so endgültig an, dabei hallo? hier! ich bin noch da, atme, spüre noch – die ganze Welt wirbeln spür ich, ein unermessliches Verlangen nach Widerständen spür ich, & die Sehnsucht nach — Stille.

Augentropfen ersetzen mir die Tränen. Es ist okay, sag ich. Du bist längst weg, & in den Weingläsern bleiben rote Flecken. Das ist kein Grund zum Heulen. Ich räume die Teller zusammen, ich spüle das Besteck. Ich öffne den Kühlschrank & zähle Marmeladen. Es ist alles da, alles ist an seinem Fleck: Celans Gedichte auf meinem Tisch, das Bild von Pierre und Valentine auf meinem Desktop; auch das Handy ist aufgeladen. Es liegt immer neben mir, griffbereit. Ich weiß nicht, auf welchen Anruf ich eigentlich warte. Auf welches frühe Glück, auf welches Lob, das am Ende doch den Tag noch vor dem Abend adelt. Ich schüttle das Bett auf, & finde keinen Geruch zwischen Kissen & Decke; ich finde keine Spur der gestrigen Nacht,… Ich bin zu lange zu Hause, denk ich, & sammle meine Kleidung zusammen, schnippe Pullover von Kleiderbügeln & Hosen von Wäscheleinen; ich suche ein Paar Schuhe, das mir nicht zu eng ist & dem Regen standhält, der Kälte der Nacht. Ich finde Bilder. Farbklekse auf dem Boden & geknickte Seiten. Ich muss raus, raus, raus.

Die S-Bahn fährt ein, & alle Leute lachen, seelenlos. Der Boden ist schwarz & glatt von Schnee, wie die Gesichter so glatt auch die Augen & der Takt der Gleise unter dem Zug: glatt, wie die Leere zwischen den Sitzen: man rutscht stets voneinander weg. Es bleibt ein Rattern in den Wörtern, ein blauer Fleck an jedem Mund. Ich schrecke auf. Der Fernsehturm dreht sich, dreht sich, dreht sich. Ich bin nicht weit genug weg, ich bin dir noch zu nah. Dem Schweiß deiner Achseln, deinem braunen Wimpernkranz, deinem Blick – alles zurücklassen & von sich abstoßen, alles in sich aufnehmen & verdauen: ich kreise im Zug um die ganze Stadt. Einmal, zweimal, dreimal. Deine Anwesenheit versetzt mir Schläge, denk ich, & sage: Es ist okay. Okay, okay, es ist alles ganz okay. Dein Interesse an mir ist das Interesse eines Mediziners beim Sezieren – ich hingegen, ich stürze dir entgegen. Mit jedem Wort, mit jedem Blick.

Ich mache weiter. Komme heim, geh ins Bett, stehe morgens auf. Ich mache das Bett, bringe den Müll nach unten & kaufe Stunden später neuen Müll. Das Pulsieren im Auge versuch ich zu ignorieren, jeden Tag. Ich mache weiter. Ich rede, als bedeute es etwas, schreibe, schreibe, schreibe; ich kaufe ein & wasche meine Kleidung; ich wechsle die Mülltüten, jeden Tag. & was? Wir treffen uns wie Zugwind, verfangen uns flüchtig ineinander, & hauchen Abschiede in Distanzen, die groß genug sind, um Ozeane zu bemessen, klein genug, um sich die Hände zu reichen, die Lippen, Haut. Wir kreisen umeinander wie Planeten, wir berühren einander nur durch Kollisionen. Streiche Tage aus dem Kalender. Warte. Irgendwann wird das Ende der Welt schon kommen.

Die Gewalt der Nacht

1.
Er kommt zwischen zwei Träumen; halb Nacht & halb Vergessen. In einem grauen Mantel steht er vor meiner Tür, die eine Hand trägt die Tasche, die andere bleibt ganz dicht bei der Klingel. Ich erkenne ihn nicht sofort. Das Hausflurlicht zerschlägt ihm das Gesicht zu Schatten. Ja? sag ich. Es ist kalt. Es ist spät. Ich habe niemanden erwartet. Ich bin’s sagt A. & A. ist, was mir in den Mund steigt wie Gas, in die Luftröhre, in die Lungen; ich atme A. ein.

Was willst du? sag ich. Meine Haut ist mir zu dünn; sie verrät mein Herz, das laut ist wie Sperrfeuer. Ich habe nur dieses Shirt an & die Boxershorts, ich friere vom Wind, der durch die Türritzen ins Treppenhaus & von dort um meine Beine schleicht. Ein Bett sagt A. & lächelt – die Linien seiner Lippen machen ihn zum Krieger; er kämpft mit diesem Mund, er gewinnt jede Schlacht. Ich erkenne sein stolzes Kinn, die Augen, die leuchten, diese Wald&wiesen-Augen…, aus dem Dunkel des Hausflurs kommt sie – die Zeit, die verging, & wetzt an diesem Lächeln die Klingen. Ich nicke, öffne die Türe ein Stück, um ihn hereinzulassen, & beim Vorübergehen streift er mich – er, der raue graue Mantel, das frühe Unglück des Winters, eine ferne Kälte. Ich zucke zusammen; Herz, Herz, Blut, Blut, mir steigt etwas Wildes in die Augen, etwas, das mich die Tür laut ins Schloss hauen lässt, & sehe, wie er den Harnisch ablegt, der ihm dieser Mantel ist; dann die Schuhe. Seine Socken sind bunt gestreift, das find ich plötzlich rührend. Blut, Blut, wo fließt du hin? Er dreht sich um & schaut mich an, nie hat A. mich so angesehen, denk ich, nie haben seine Augen diesen Glanz gehabt. Aber vielleicht ist es nur die Nacht, die mir noch immer lastend auf den Lidern liegt. Ich blinzle nicht. Ich schaue ihn an, wie er da steht, den einen Fuß noch im Flur, den andren bereits in meinem Zimmer. Tee? sag ich, & mache Licht in der Küche. Nein sagt er. Also lösch ich das Licht, & mir jedes Sehen.

2.
A. nimmt ein Buch vom Tisch, dann noch eines, er streift mit seinen Fingern die Patina der Monate fort, die auf allen Büchern liegt, auf den Notizen, & Zeitungen. Er sagt nichts, nichts ist mehr benennbar. Du kannst nicht einfach herkommen sag ich. Du bist wie ein Alptraum. A. lächelt, lächelt nur. Er zieht seinen Pullover aus, der dünn ist, & das Hemd darunter, das dick ist; er öffnet lächelnd sich die Hose, streift den Slip von der Hüfte, & steht nackt vor mir, als wäre keine Zeit vergangen, als wäre alles, das ganze Jahr, nur erträumt gewesen. Warum? sag ich, & schließe die Tür. Warum jetzt? Bergamotte, Orangen, sein Geruch. Er antwortet nicht, er kommt aus dem Dunkel ins Helle & setzt sich aufs Bett. Komm sagt A. Nein sag ich & setze mich neben ihn.

Herz, Herz, welchen Takt schlägst du meinen Worten? Lange sitzen wir beieinander, & ich erzähle ihm vom Heiligen, dem König der Narben, von Zoey, die liebt, wie sie lacht; ich beschreibe ihm Joseph. Ich nenne Name um Name, & Stadt nach Stadt; ich ziehe ihm alle Wege nach, die ich ging, ihre Irrungen. Wie ich von der Liebe träumte & träumte, & alles Lieben war nichts als ein Brennen. Es folgt keine Reue, kein Zögern. Das Abschiednehmen war eine naive Forderung gewesen, ich erkenne es beim Erzählen. Man kann sich nicht von etwas trennen, das bereits Teil von einem ist. Ich träume nicht mehr sag ich. Der Schlaf wirft mich jede Nacht ins Kissen, wie wenn einer Steine in den See wirft zu Steinen.

A. nimmt mir die Sprache, er nimmt sie mir fort mit seinen eignen Lippen, mit dem Mund kappt er den Faden; seine Finger suchen Haare, & Haut, sie suchen den Menschen zusammen & finden einzelne Teile; ich werde mir fremd unter seinen Händen. Sein Atem an meinem Ohr, seine Schlüsselbeine an meinen Schultern, ein ewiges Fallen & Stürzen, ein Echo in den Sekunden & darin: Ewigkeit. Jeder Schritt & jede Weigerung zum Gehen, jede Tür, die ins Schloss fiel & jedes offene Fenster – es hallt & hallt in meinen Knochen, im Blut, das uns entgegenstürzt in Arterien & Venen. Wir küssen uns wie Schwerter sich kreuzen; da ist ein Schlagen in uns, ein Beißen & Toben; wir reißen uns entzwei in der Mitte & finden Gedärme im Krieg; wir finden Nerven, die zittern & zittern, die schwingen aus, als wären sie Peitschen; uns knallen die Nerven durch. Das ist keine Liebe, es ist ein Hassen & Nichtloslassenkönnen, ein Wegstoßen & Heranziehen – immer wartet die Faust auf den Hieb, & wartet vergebens. Wir wälzen uns auf dem Bett, das uns der Boden ist, & treiben den Körper des andren gegen Wände & Türen; das Parkett verschieft sich zur Decke, wir fliegen & stürzen, wir suchen nach Halt. Da ist kein Erinnern.

3.
Ich wache auf, & A. sitzt am Fenster; er liest eines von Kafkas Tagebüchern. Wie lange kann ich bleiben? sagt er. Ich sehe den blauen Fleck auf meiner Hand; ich spüre die Bisswunde am Oberschenkel, die Kratzspuren am Rücken. Heute Abend bist du weg sag ich. Er nickt, nickt bloß & klappt das Buch zu & legt es auf den Fenstersims. Wir lernen nicht aus unseren Fehlern. Wir integrieren sie nur besser in unserem Leben. Wir kommen klar. Wir nennen etwas erst so & dann später anders, & irgendwann haben wir damit die Form geändert, die Erscheinung; der Zustand sieht heute nur ganz einfach anders aus. Ich sehe dieses Buch auf dem Sims, & sehe den Staub auf allen Dingen, & das Chaos auf meinem Schreibtisch, & die Unterlagen, die noch zu bearbeiten & auszufüllen sind, & ich denke: Ja, das schaff ich schon, wenn ich nur will. & ich sehe A., wie er aufsteht & zu mir kommt, & lächelt, & denke: Du kannst mir nicht mehr wehtun, es ist okay. Wir akzeptieren irgendwann die Fehler, die wir nicht ändern können. A. ist so ein Fehler.