Auszug | Fünfter Gesang

In allem Chaos, da ist er der Tanz. Der Widerspruch auf die nächste Frage. Einer, der versucht – versucht ohne zu wollen. Newsflash: Er ist alles, nur er selbst ist er nicht. So geht er durch den Club, ein Kannibale unter Kannibalen: Am Mund bleibt er hängen mit den eignen Zähnen, & lächelt breit, sagt Sätze, die am Ende rund werden & hart; er zerschmettert ganze Bücher beim Reden & dreht sich nicht danach um, denn was auch immer es ist, was geschrieben wurde, es ergibt keinen Sinn. Nicht mehr. Nicht länger. Das hier, das ist eine neue Zeit. Das ist der Untergang des Abendlandes, eine neue Ära ohne Namen, eine Epoche des Aufstandes. Sagt er. & geht als Speer durch Rückenreihen, streckt sich groß & immer größer, bis sein Kopf über allen Köpfen, bis er allen überlegen ist & darin dem Wahnsinn ganz nah. Ein Monster, zurückgelassen im Gift, ein Schauspieler, der nicht lacht, wenn er sollte, der kein Gefühl hat für Geld oder Liebe. Nein. Besonders für die Liebe hat er kein Händchen, sie verdorrt ihm unter den Händen. Als Gärtner geht er durch den Club & sät Vergessen. Eine Hoffnung, die, wenn sie aufgeht, zur Verdammnis wird. Zum Merlot im Glas, zum Spanier, der verloren zu ihm starrt, zur Französin, die sich den Bierschaum von der Oberlippe wischt, er geht als Schatten zwischen Schatten, & wählt ein neues Lied – die Menge tobt. Tanzt, tanzt, ihr Verdammten. Sagt er. & krempelt sich die Ärmel hoch. Überall da, wo früher seine Haut war, sind jetzt Tattoos, überall Schlangen. Schlangen, die sich gegenseitig fressen, die sich selbst in den Schwanz beißen & ausspeien, Schlangen, die sich ringeln & winden. Sein Lachen ist eine Drohung. Noch eins, ein weiteres Glas für seinen trockenen Mund. Damit sein Herz schlagen kann. Für die Beine nimmt er Speed. Für die Augen MDMA. Sein Blick ist wie Asche, er legt sich über alles Lebende wie ein Leichentuch. Darin gleicht er dem Frieden.

In allem Chaos, da ist er die Ohnmacht. Minos, der darüber richtet, wie tief es für uns geht heute Nacht. Erhebt ihr, die ihr eintretet, eure Köpfe zum Beat & tanzt, tanzt, bis sich die Körper auflösen zu Licht. Sagt er. & setzt sich die Kopfhörer auf, sie sind ihm wie Hörner – so stößt er sein Schreckenshaupt durchs lichternde Dunkel, wirbelt seinen Schatten gegen Wände, seine Hände gegen die Luft & in den Schweiß der andren – ein Wahnsinniger, so steht er hinter dem Mischpult & verzerrt sich, verdoppelt sich, verkoppelt, verdreht sich als Schallplatte zum nächsten Skip, Interlude, & wieder von vorn. Im Club rufen sie seinen Namen, aber er hört es nicht. Es gibt keine Worte in seiner Welt. Keine menschliche Stimme. Es gibt nur die Musik, die zwischen ihm wütet, in seinen Gedärmen & Synapsen, eine Art Rauschen & Zischen, das den Raum groß macht, & weit, ein ganzer Höllenkreis nur für den König der Minoer: Jump motherfuck, jump!, & alle springen, sie taumeln & fallen. Das ist kein Fest, das ist nicht die Party des Jahres. Im Gegenteil. Das da vor ihren Füßen, das ist der Abgrund & Minos stößt sie hinab. Dorthin, wo — Ist das da nicht Brecht?, verdammt! Er schiebt sich die Hörer wieder vom Kopf, nimmt einen Schluck Wasser aus dem falschen Glas & würgt es hinunter; als Träumender kommt er hervor & legt sich die Hand auf die Schulter. Ist das noch Welt, oder ist es bereits der andere Ort? Alle klatschen. Sie klopfen ihm Schulter & Hüften, wie ein Pferd klopfen sie ihn ab & wollen sagen: Hör nicht auf, wir sind noch nicht satt. Ständig hungern sie nach mehr, das ist ihr Zweck, das ist ihr letzter Grund. Sie jubeln, spucken Rauch in sein Gesicht, jubeln. Es könnte alles in Ruinen liegen, es änderte nichts. Komm mit, sagt er zu Brecht. Du hast hier nichts verloren.

Minos teilt die Menschen auseinander & macht sie zum Weg: Rücken an Rücken, so steht der Tanz beieinander, so reiben Haut & Knochen, so zerbrechen Existenzen. Was machst du hier, fragt er, wie bist du hergekommen? Brecht fehlen die Worte, die Augen sind voll & voller, sie laufen ihm schier über. Überall: Haut, hingeworfen zum Zucken, geweitete Blicke, die ihm nachlaufen wie Hunde. Er sieht Natternhaar, Natternleiber. Die Schlangen auf Minos Armen winden sich im Licht, als wären sie echt. Was? Brecht versteht kein Wort, er sieht Minos Mund, aber er hört keinen Ton – im Hintergrund läuft ein Beat in der Schleife: Es klingt so, als hämmere jemand Eisen gegen Eisen, es ist wie Geschrei. Schneller, immer schneller dreht sich das Licht. Was? Aus der Menge tritt eine Frau, Mitte zwanzig, vielleicht jünger, eher älter, sie trägt ihre künstliche Jugend zur Schau, ihre Schminke – einen roten Mund hat sie sich aufgemalt & mit dem lächelt sie, & lächelt, sagt: Wo gehst du hin, Mischa?, aber Mischa packt sie sofort an den Schultern. Geh mir aus dem Weg, du dämliche Ziege. Sagt er, & stößt sie nach links, wo ihre Freundinnen stehen & lachen. Der Tanz nimmt sie auf, verschlingt sie. Hast du was genommen, fragt Minos, & Brecht schüttelt erst den Kopf, nickt dann. Wie viel? Nicht viel. Ey, Mischa, ein anderer tritt aus der Menge, mit verlorenen Augen & Sehnsucht im Mund; er ist groß & hat sich das weiße T-Shirt hinter den Hals gekrempelt, sein Bauch ist rot vor Anstrengung, seine Brust hebt sich hektisch im Rauch. Ey, ey, Mischa, jetzt wart doch mal! Minos wartet nicht. Er stößt den Mann von sich, als stieße er einen Stuhl zurück an den Tisch, er stößt ihn von den Füßen, & zurück zwischen Beine, wo der Bass sich über sein Geschrei senkt. Überall diese Opfer, sagt Minos, & dreht sich grimmig zu Brecht um. Du solltest nicht hier sein, wer hat dich reingelassen? Keine Ahnung, schreit Brecht & wischt sich mit der Hand übers Gesicht, das schweißnass ist. Irgendwer. Ist das denn wichtig? Mischa schüttelt den Kopf & teilt mit seinen Schlangenarmen, mit seinen Schweifhänden nichts weiter als Menschen voneinander. Hier ist nichts mehr wichtig. Komm mit.

Die Kannibalen

Ich bin am Ende, sag ich, & die Welt geht unter; es ist jede Nacht das gleiche Bild, das sich durch die Fenster nach drinnen schiebt: Leere Straßen unter der Last heller Fenster. Auf dem Gesicht ein Ausdruck ewigen Glücks. Ist es das?, ein Spiegelbild? Die Augen suchen nach Besinnung; sie suchen nach Halt, einem Boden zum Stehen & einem Bett zum Liegen, sie suchen Ruhe – finden Wirbel. Farben. Mir ist schwindlig. Es dunkelt. Ständig ist Nacht. Sag ich. & jemand reicht mir die Hand & sagt keinen Namen. Ist auch nicht wichtig, ich hätte den Namen eh gleich wieder vergessen. Ich habe mich längst aufgelöst. Da ist keine Vergangenheit mehr, keine Erinnerungen. Es bleibt kein Raum zum Sichpräsentieren & -vorstellen, zum Schmerz. Wozu noch Namen? Der Bass schiebt sich mir über Augen & Mund, der Tanz dringt mir durch die Ohren bis in die Fingerspitzen. Ich spüre alles zur gleichen Zeit. Sich aller Bewegung entgegen stürzen, als wäre sie die Liebe, heißt es, den Takt saufen bis einem das Maul davon überläuft: die Hand hält schon das Glas, dann die Gläser, einen fremden Rücken & Schwanz, einen ganzen Mann hält diese Hand. Den Füßen ist das scheißegal, die wollen tanzen, gehen lassen wollen die sich, also tupft mir wer das Pulver auf die Zunge & sagt: your turn; er lässt die Sehne des Bogens schießen, & wie ein Pfeil flieg ich der Menge entgegen, zum Schweiß hin, zum Rauch, & in den roten Blitzlichtregen. Wie schnell können wir noch werden?, wie schnell wirbeln tanzen verschwinden, wann wird unsere Sehnsucht nach Vergessen alles auslöschen, was uns zu Menschen macht – unseren Hinterkopf werden wir nicht sehen, egal wie schnell wir uns drehen – ich trinke noch ein Glas. Noch eins. Ich atme Asche, schmecke Asche, bin Asche. Sehe den Abgrund unter mir. Ich bin am Ende, sag ich, & falle, falle einem Gedanken in die Arme, der kein Wort ist, & kein Gefühl – aber dann fängt mich statt des Bodens dieser Typ auf, der hat ein Gesicht wie ein Krampfanfall, seine Augen sind verdreht bis zur Decke, sein Mund: steif, die Zähne: gläsern. Er sagt etwas, das völlig in der Musik untergeht. Mir schlägt nur sein Schiffswrackatem entgegen, sein Skorbuthauch, & ich weiß nicht, ist das ein Grinsen?, warum bin ich hier? Weil es geht. Ich schüttle die Hand ab, die mich festhält wie ein Seil, schüttle seinen Körper ab, der an mir kleben bleibt, der automatisch nachrückt, an meine Stelle tritt. Was ist?, zisch ich, aber es folgt keine Antwort. Nur buntes Licht. Bass. Er tupft mir Lotos auf die Lippen, er reicht mir das Glas. Noch eins. Nachgeben, nicht denken müssen, nicht sein müssen. Die ewige Jugend rückt mir in die Augen & zerbrennt mich zu Gold. Sag was. Hi. Nein, sag mir, was dir gefällt. Dein Mund. Mein Mund. Dein Hals. Hände, die sich von hinten an mich hängen, die mich umdrehen, gegen die Wand stoßen & zurück, diese Hände sind wie Ketten: sie reißen mich in eine andere Umarmung. Sag, was du willst. Dich. Mich. Auflösung. Es kommt Bewegung, die sich anfühlt wie Lärm. Schritte von links nach rechts nach vorn, ich sehe Schatten zwischen Rücken & Gesichtern, sehe in Stein gemeißelte Lippen & Zähne, Grinsen um Grinsen, nichts als Kannibalen. Dies ist mein Totentanz, denk ich plötzlich & bekomme keine Luft mehr; der Rauch drängt sich mir von allen Seiten in Nase & Mund, es ist wie Ertrinken. Ich muss hier raus, denk ich, aber die Musik wird lauter schneller, das Licht reißt mir am Pullover & zieht ihn mir über den Kopf – mein weißes Shirt meine weiße Haut meine Knochen leuchten blau, ich spüre den Atem im Nacken, spüre den Nacken im Atem, alle Wände fliehen der Ferne entgegen. Ich fliehe nicht. Der Lotos zerbrennt mir die Lippen ich glühe wie Draht aber darüber lässt sich nicht nachdenken – mir legt wer eine Hand auf den Arsch & ich spüre die Schwere meiner Muskeln, Haut, Knochen, wie gerne löste ich mich jetzt auf zu Atomen, setzte mich irgendwoanders neu zusammen. Sie sagt, ich sei nur verwirrt, wo kommt sie plötzlich her?, ich höre sie durch den Rauch ihres blauschwarzen Fischmauls, & spüre, wie mir die Kotze aufsteigt im Hals; ich verpasse ihr einen Stoß gegen die Schulter – sie fliegt in die Menge wie eine Plastiktüte voll Fleisch -, & es ist kein Gefühl mehr da, in mir, keine Reue, kein Mitleid, nichts, nur Freiheit. Wer war das? Ich weiß nicht. Die kannte dich. Mag sein. Deine Ex? Ja. Egal. Wie heißt du eigentlich? Auch egal. Meine Hände brennen, es ist, als gehörten sie einem Pyromanen. Sie berühren Haut Haare einen Kiefer, der sich zur Seite drehen lässt, drehen, drehen, wie ein Kreisel. Zu dir. Zu mir. Treppenstufen folgen einander in die Tiefe, wie steil der Abgrund ist, wie bodenlos die Hölle, ich höre von dort unten nur Seufzen & Wimmern, ich höre den Wahn zwischen den Wänden, da, wo längst keine Wände mehr sind, da höre ich mich lachen, ich, wie ich mich festhalte am anderen, wie ich mich ausschütte vor Lachen, wie ich fast kotze vor Lachen, wie ich besinnungslos mich in die Schritte hineinwerfe & lache. Da sagt der andere gar nichts mehr. Der bleibt stehen, in den roten Lichtern, im Funkeln zweier Diskokugeln, & sieht mich an. Geht’s dir gut. Ja. Ich bin in der Hölle. Was. Nichts. Komm mit. Durch Hinterräume gehen wir, durch Schattenreiche. Ich höre Kettenrasseln, Leder & Haut, die auf Leder & Haut schlagen wie Hämmer auf Eisen, ich höre ein stetes Pochen & Stöhnen ein Klirren & Quietschen; Frauenkörper, die im roten Zwielicht aussehen, als hätte sie jemand mit Tusche eilig hingeschmiert, mit Köpfen, die sich nicht bewegen – sie stehen steinern in den Türen & sehen uns nach, sie rufen uns Schimpfworte nach – ihre Stimmen peitschen in den Ohren. Es riecht nach Likör, & Parfum – so scharf wie Essig ist dieser Geruch, ich atme durch den Mund. Ist das Brecht, da geht er vor mir her, & sucht den Weg nach draußen. Es gibt keinen Ausgang. Stattdessen gehen wir tiefer tiefer, tiefer, das ist bloß der erste Kreis, komm schon, immer den Korridor lang, in dem blinde Spiegel blinde Menschen zeigen, Schattenmenschen, Phantome, einer nach dem anderen führen wir uns durch Zimmer, weiter ins Dunkel. Es gibt kein Entkommen. Mir brennen die Lippen, der Schwanz in der Hose brennt, die Beine, alles, jede Pore ist Geilheit, eine kleine Plastikdose in meinen Fingern brennt mir Begehren ins Hirn, brauch dich auf, los, & im Wirbel der nächsten Schritte öffnen sich Türen & Fenster, ein Typ stößt uns durch die Stahltür nach draußen auf eine leere Straße. In der Ferne heulen die Hunde. Wir sind nicht frei im Dunkeln, im Finstern der Seele. Wir sind nirgends. Die letzten Menschen, Kannibalen. Das sind wir. & sonst nichts…