Echokammern

Als ich jünger war. Als ich noch etwas zu sagen hatte. Als die Wörter mir gehörten.

Ich fange jeden Tag von vorne an. Mit einer Tasse Kaffee setze ich mich an den Schreibtisch, sortiere geschäftig Papier, sortiere in kleinen Fenstern kleine Gedanken – Befindlichkeiten – Ausschnitte eines pausierten Lebens. Dabei ist es nicht nur die Pandemie, die mich verstummen lässt; ich war vorher schon stumm. Habe wiederholt versucht, mich zum Schreiben aufzuraffen. Habe versucht, meine Gedanken in eine Reihenfolge zu bringen, die sagbar ist, die sich gut anfühlt unter den Fingern, auf den Lippen. Eine Reihenfolge, die logisch aufeinander aufbaut, ein Anfang gewordener Hauptteil, der immer zum Schluss hinstrebt, um realisiert worden zu sein. Ich wollte eine Gleichzeitigkeit meiner Gedanken & Gefühle, die nicht im Chaos endet, sondern in der Erzählung. Ich wollte erzählen können – & mundgerecht bleiben. Nur nichts Sperriges schaffen, nichts, was sich nicht verstehen, nicht verarbeiten lässt. Arbeite ich also zu lange im Marketing? Gibt es überhaupt ein Fazit?

Früher. Das ist ein undefinierbarer Zeitpunkt für mich. Ich erinnere mich zwar, dass es ein Früher gab. Eine Zeit, in der ich um 5 Uhr morgens aufgestanden bin, um mir – vor der Arbeit in der Redaktion – geborgte Arthouse Filme anzuschauen. Eine Zeit der weißen Nächte. Der manisch runtergeschriebenen Geschichten. Als meine Lippen taub waren vom Küssen & Schwänzelutschen. Aber dieses Früher ist nicht fühlbar. Ich verstehe nicht mehr, wer ich war. Da lese ich alte Nachrichten – Nachrichten, die ich Affären schrieb, die heute keine Gesichter, keine Körper, keine Gerüche, keine Seelen mehr haben –, klicke mich von SMS zu E-Mail & begreife kaum, wer da redet. Wessen Stimme ist das, wessen Sprache? Es muss ein Mann sein, so Mitte, Ende 20, der durch die Stadt Berlin treibt, besessen von einem Theaterstück ins nächste, von Konzert zu Konzert, dessen Kopf voll ist von Musik & Lärm, der nachts Gedichte von Paul Celan & Ingeborg Bachmann rezitiert, der mit Virginia Woolf im Blut, fiebernd, rastlos, durch die Straßen eilt. Generation ohne Abschied. Generation der Ankunft. Immer kommt dieser Mann an, verfängt sich in den Nächten, Lichtern, Männern, dem knirschen die Zähne, dem blutet das Maul, aber satt ist der nie. Nie müde. Wer ist das?

Die Leichtigkeit & Flüchtigkeit, die lange Klage der Sehnsucht.
Das war einmal. Jetzt ist Instagram.

Wer sich selbst begreifen will, schaut zurück, aber was sehen wir da hinter uns? Welche Menschen wollten wir sein, welche sind wir geworden? & noch viel wichtiger: Sind wir zufrieden damit? Mit dieser Entwicklung? Wie lange darf man zurücksehen, wann wird es gefährlich? Wenn wir mit dem Rücken in Richtung Zukunft laufen etwa? Wenn wir verrückt werden vom Zurücksehen? (Eurydike). Passiert das überhaupt – passiert es einem Plural oder passiert es nur mir? Die Nostalgie als Nervengift. Wie Balance halten zum Menschen, der war, & zum Menschen, der ist? Wie eine Brücke bauen zum Menschen, der werden muss? Der werden will. Wie Ruhe schaffen in einer Welt, die in sich nichts weiter ist als Lautstärke? Was widerfährt Echo am Ende der Fabel? Eventually, Echo, too, began to waste away. Auch das hat also keine Zukunft.

Ich kann nicht aufhören darüber nachzudenken, was mir das Schreiben war. Präteritum. Als hätte ich keinen Zugriff mehr darauf, als fehlte mir ein grundsätzliches Verständnis dazu. Bin ich nicht mehr hungrig? Sind die Ambitionen im Glückstaumel verkümmert? (Began to waste away). Bin ich mein eigenes Echo? Wenn ich mich darauf konzentriere – die richtige Schallplatte auflege, das Licht den richtigen Farbton annimmt, die Luft nach etwas Bestimmtem riecht –, dann bin ich plötzlich da, ins Bewusstsein gestoßen, als hätte mir wer eine Adrenalin-Spritze direkt ins Herz gerammt. Die Haut prickelt. Die Füße wippen.

Als wäre keine Zeit vergangen. Als ich etwas zu sagen hatte. Als die Wörter mir gehörten.

Sie sagen mir, ich solle einfach weitermachen, ich solle nicht aufgeben, solle kämpfen. Die Wörter kämen zurück, die Geschichten. Ich solle üben, üben – ausgerechnet. Als sei ich blutiger Anfänger. Ich solle mir den Wecker zum Schreiben stellen, solle mir ein Ritual draus machen, so, als hätte ich nicht selbst schon tausendmal den gleichen Gedanken gehabt, als hätte ich das nicht bereits versucht. Ich sei nicht konsequent genug, sagen sie. Ich versuche es nicht hart genug. Ich versuche es, im Grunde, überhaupt nicht mehr. Der Kapitalismus habe über mich gesiegt. Der Kommerz & das private Glück hätten mich erobert; ich sei als gefallene Stadt, als Ruine, vom Haben besessen. Also legen sie mir Bücher ans Herzen, sie schicken mir Essays & stecken mir Briefchen zu, die das Feuer entzünden sollen, Anklageschriften, Manifeste. Ich lese Borcherts Generation ohne Abschied, ich lese Ginsbergs Howl. Mir brennen die Augen. Mir brennt der Dreck unter den Nägeln. Ja, vielleicht. Vielleicht ist nicht das Echo das Problem. Vielleicht ist es die Kammer. Vielleicht ist es Zeit aufzubrechen.

Au·to·da·fé̱

Wiedergeboren werden, darum geht es. Aufzuerstehen. Die letzten Tage, Wochen, Monate – sie alle lagen wie Ruinen zwischen uns, trennten rote Fäden von zweierlei Herzen, wohin mit dir? Wer die Geschichte nicht kennt, lacht nicht an den richtigen Stellen, der begreift das Lachen nicht. Ich habe also vergebens erzählt. Auch darum geht es. Ich habe die wichtigsten Stellen ausgelassen – das weiße Geschrei, die bunten Lichter, ich habe die Nacht zum Schweigen gebracht. & zu welchem Preis? Es kamen nur Plagen: der Küchenbrand, die verstopften Rohre, die Rechnungen aus allen Himmelsrichtungen, rote Pusteln zwischen Hüfte & Wangen, die totale Entstellung. Ich bin als Aussätziger – das Gesicht hinter Schminke –, durch Berlin gerannt, als sei der Teufel hinter mir her, dabei war niemand mehr Teufel als ich. Da, morgens in Pankow, als der Ire auf mir saß, mein Schwanz vergraben in heißer Haut, in einem Körper wie ausgedacht, & er kam & ich kam & die Flugzeuge über uns dröhnten, da gab es kein Zurück von den Entscheidungen, da gab es nur die fremde Begierde, ein wildes Tier an zwei Leinen, das sich aufbäumte wie im Todeskampf. Mich gab es nicht. Wer aber bin ich noch, überhaupt? Wer ist übrig geblieben nach all den Grabenkämpfen – nach dem lückenlosen Niedergang ganzer Königreiche?

Ich stehe als Wiedergänger auf, als Kopie; ich verlasse um 7 Uhr 40 das Haus, ich gehe mit brennendem Kopf. Von morgens bis abends dröhnt mir die Musik, ich ertränke jeden Gedanken. In welcher Welt lebt das Original? Mein Gesicht brennt, mein Mund ist nichts als eine Linie. Wer mich ansieht, versteinert, Gorgos Haupt kennt keine Gnade. Strom pulsiert mir stattdessen durch Muskeln & Fleisch, ich renne gierig, stemme wütend, jedes Gewicht zerschlägt mir den Körper, aber ich will nichts weiter als das, will nicht mehr als Göttlichkeit, als eine Erschütterung, die mich vom Menschsein trennt. Nachts, wenn der Hunger kommt, hole ich mir Brasilianer & Norweger ins Bett, die mich einlullen mit ihren fremden Zungen, in die ich fahren kann wie ein böser Geist – ich schüttle & rüttle, einen ganzen Staat bring ich gegen mich auf, wenn ich da so einen Wikinger, so einen Konquistadoren zwischen die Kissen werfe, was soll’s, ich habe die Maßlosigkeit ja nicht erfunden.

Wiedergeboren werden, das geht nur unter Schmerzen. Das geht nur unter der Einwirkung der Elemente. Einer muss erst brennen, um aus der Asche aufzuerstehen. Also lege ich mich ab zwischen Reisig & Holz, lege mich als Funkenregen zwischen die Körper. Die Freiheit, denk ich, ist das wichtigste, wie konnt ich das bloß vergessen? Wie konnte ich mit allen zehn Fingern nur ständig auf alle Hürden zeigen, statt sie mit zwei Händen aus dem Weg zu räumen? Wie ich mich verbogen habe, um dem Bild zu entsprechen, dem Entwurf eines Menschen, dem guten Boyfriend, dem Vorzeige-Mann, der alles überwindet in der Selbstüberwindung, der nach nichts mehr streben darf, der nicht mehr wollen kann, der sich selbst nicht wichtig nehmen darf angesichts des Anderen. Also folgt das Unglück in mehreren Nebenrollen. Heute: Eine Aufführung in 12 Akten, jeder ein Monat zwischen März & März, eine Geschichte der Auslöschung.

Wer aber spielt nur dieses Stück, wer hat es geschrieben? Im Juni gehen wir auseinander mit dem Sturm über unseren Köpfen, jeder total bestürzt & fassungslos, dabei habe ich nur mal davon gesprochen, was ich denke, was ich empfinde. Davon, dass ich langsam wieder der werde, der ich gewesen bin, dass ich mich erinnere, & dass es diesmal kein Zurück gibt, keine Korrektion meiner Person. Ich bin kein Schulaufsatz, ich bin keine Gedichtsinterpretation. Du streichst nicht einfach in mir rum, nimmst dir heraus, was dir passt & lässt das andere zurück, das Ich ist. Das ist jetzt schon zu oft passiert, ich habe diese Erzählung in der Endlosschleife abgespult, es ist doch auch mal genug, oder nicht? Es reicht doch irgendwann, nein?

Wir kämpfen alle, es liegt nicht nur an diesem Jahr. Wie viele Brücken brennen da schon hinter uns, wie viele Dörfer & Städte? Unzählige. & auch die Ketzer – sie brennen lichterloh. Die Aufrührer, die Kritiker. Jene, die nicht schweigen, die es nicht über sich ergehen lassen, die doch irgendwann einfach aufstehen & sagen: Ich hab genug gehört von deiner Ichbezogenheit! Ich bin doch nicht für dein Glück verantwortlich, das bist du selbst, verstehst du das nicht? Nein. Du nicht. Du nimmst lieber dein Fahrrad, fährst zwischen den Sturm wie ein Blitz & lässt mich an meinem Geburtstag allein unter dieser Markise zurück, reißt die Fäden, reißt die Brücken, reißt alles ein, was du dir aufgebaut hast von mir, & ich, ich spüre den Strom in meinen Adern, spüre den Wahn & die Kraft, die er mir gibt, spüre die Erinnerungen, die aus der Tiefe quellen – die Bilder von Abschied & Trennung, die Tränen unter der Dusche & die Klingen, die mir den Kopf kahl scheren; sehe, wirbelnd, den Sand & die Sonne, sehe das Grün & das Weiß, die Küsse zwischen Küssen, die Blätter & Wolken, in die Luft Geschossenes, die Straßen von Madrid & Prag, Tel Avivs weite Himmel, was ein Tanz, was ein Irrsinn, die Nächte, die klackernd Gläser stoßen, rot & blau & gelb, ein Feuerwerk, das über uns zerspringt, & unsere Hände, immer unsere Hände, die nicht lassen können vom andren, glaub mir, ich seh es, seh alles – die Bilder überlagern einander, aber ich suche mich darin, suche den Mann, der Tränen lacht statt sie zu weinen, der begehrt ohne zu zögern, den Schriftsteller, der sich nicht den Mund verbieten lässt, der nicht vor dir sitzt wie vor einer Wand. Ich suche mich in mir, nicht in dir, darin unterscheiden wir uns. Darin unterscheidet sich mein Fegefeuer von deinem.

& sieh wie ich brenne, sieh mich als Stichflamme zwischen den Steingewordenen. Der Vesuv ist nichts gegen meine Feuer. Hier: die Fehler, die Vergehen – ein Fick ohne Kondom, eine Panikattacke zwischen zwei Kerlen, die mir verlegen Traubenzucker geben, weil sie sich um meinen Kreislauf sorgen, die Drogen, die mir die Augen weiten & das Herz, die Stille, wenn ich vom Dunkel rede, das mir als Glitter auf der Zunge liegt; ich spucke Gold & Eisen, kratze mich bis aufs Blut & zerbeiße einen Mund, der zu schön zum Küssen ist. Ich gehe renne falle – hungrig, mein Hunger ist maßlos. Also findest du mich nachts zwischen den Wölfen. & ich weiß, ich weiß alles, was du dir denkst & was du empfindest; ich habe dein Mitleid gegen jeden Wind gerochen, selbst inmitten der Stürme. Dein Aber Alex, dein tieftrauriges Ach. Dass du dann arrogant bist, du als König im Exil, merkst du nicht, du schüttelst nur den Kopf über meine Eskapaden. Als wüsstest du etwas besser, als wüsstest du mehr als ich. Wie viel wiegt dein Glück mehr als meines? Wer gewinnt dein Wettrennen um das bessere Leben – insbesondere, wenn du der einzige bist, der daran teilnimmt?

Du hast mein Recht auf diesen Wahnsinn nicht akzeptiert, das hast du nie. Dabei ist genau das, ist dieses Schieben & Geschoben werden, ist dieser Raketenstoß durch tausende Universen, mein Wesen. Mein innerster Kern ruht nicht, ich kenne keine Mitte. Was du festhalten willst, bricht auseinander, zerfließt unter Händen & Blicken, rauscht. Zu lange habe ich versucht, einem Bild zu entsprechen, das nicht nur gefällig ist, sondern das als normal verstanden wird, hier: ein mustergültiger Typ, ein Vorbild, schau, wie der funktioniert, ein Uhrwerk tickt nicht so entschlossen wie der, aber ich ticke nicht. Schieb dir deinen regelmäßigen Sport, deine gesunde Ernährung, deine Meditation, schieb dir deine ganzen beschissenen Rituale & dein besseres Wissen sonst wohin; sprich mir nicht von Heilung, von Normalität. Ich kann keinen Tag länger in deinen Kerkern sitzen. Ich, das ist eine Zumutung, ja, meinetwegen, aber so will ich leben, wild & frei, ohne deine Ränder & Rahmen, ohne deine begradigten Flüsse – ich bin das, was über alle Ufer tritt, ich akzeptiere keine Widerstände.

In deinen Augen also bin ich ein Ketzer, denn ich dulde deine Autorität ebenso wenig wie deine Dogmen. Ich dulde deine Regeln nicht, deine Erlösung. & du hast in dieser einen Sache auch tatsächlich einmal Recht. Ich bin ein Ketzer. Dafür habe ich mich entschieden, ja. Meinetwegen brenne ich für meine Sünden. Es gibt nichts, von was du mich befreien kannst, deine Himmel bleiben mir verwehrt. Ich brauche sie nicht. Wie gesagt. Ich muss erst in Flammen aufgehen & Asche werden, um aufzuerstehen. & das tu ich ohne dich.

Patrice | Der Verschollene

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Wir haben den Regen als Weigerung im Haar & die Kälte wie Splitter unter der Haut; uns rinnt die Straße auseinander beim Blinzeln. Rote Flecken rechts & links, ein nervöses Neonlichtgeflacker vor Hinterköpfen: Patrice & ich stehen unter einem Dachvorsprung, der uns beiden nicht reicht, der uns zu Nähe zwingt, zu bedächtigem Zehenspitzendribbeln, die Schuhe schmatzen feuchten Asphalt. Wie geht es weiter, fragt er & zupft am Schal, der wallt, schwarz & weiß gestreift, über seine Schultern nach unten bis zur Hüfte, zerfasert, wird da von seinen Fingern aufgenommen & verknotet, fallen gelassen, aufgenommen, fallen gelassen – ein unermüdliches Verknoten & Aufknüpfen. Ich weiß nicht, & weiß es genau.

Wir gehen das schmale Treppenhaus hinauf in den vierten Stock, meine Beine zittern auf den letzten Stufen. Beim Reinkommen riecht es nach Kaffee & Zigaretten, es ist ein alter, muffiger Dampf, der weniger menschliche Anwesenheit verrät als vielmehr natürliche Prozesse, ein Zerfallen & Vermodern: vielleicht Schimmel zwischen feuchten Kacheln, Tellerstapel mit Essensresten im Spülbecken, & tatsächlich – im Flur stehend schließt Patrice schnell die Tür zur Küche. Da sieht’s aus wie im Krieg.

Bücher im Flur, Bücher als Türstopper, Bücher auf Büchern, ich laufe durch eine Bibliothek aus Rauch & Papier & streife sacht mit den Fingern allen Staub von den Rücken. Wir gehen erst nach links, in einen Raum ohne erkennbaren Nutzen, denn hier stehen Kisten & Kartons wahllos aufeinander, & ich sehe einen Teppich, zusammengerollt, in einer der Ecken, einige Stühle, als Kreis arrangiert, eine alte Stehlampe mit eingerissenem Schirm. Durch eine Flügeltüre geht es in einen weiteren Korridor, der sich links & rechts verzweigt, & wir gehen erst nach links & dann durch eine weitere Tür nach rechts. Bilderrahmen ohne Bilder, blinde Spiegel. Ich sehe Schränke voller Schallplatten, Bücher als Tische, Bücher als Stühle, Bücher als Kleiderständer. Es riecht nach Leder. Wie viele Leute wohnen hier, frag ich stolpernd, da liegen Socken ineinander gestülpt & schwere Stiefel ohne Schnürsenkel, wahlloser Krempel. Gerade? Ich glaube, er zögert, elf? Okay.

In seinem Raum stehen Pflanzen, so viele, dass ich nicht weiß, ob sie echt sind oder nicht – ich greife ungläubig nach den dicken, fleischigen Blättern. Echt, alle. Das Bett ist ungemacht, das Kissen ein eingestürztes Haus. Ein, zwei, drei Aschenbecher – alle voll. Auf dem Sims einer, neben dem Plattenspieler der zweite, auf dem Sofa steht dritte. Auf das Sofa setz ich mich übrigens, vor allem, weil Patrice mit einer ausholenden Geste dazu einlädt, ich selbst würde vermutlich den Boden bevorzugen, aber ich will nicht unhöflich sein. Der grobe, gelbe Stoff ist verblichen, da sind Brandlöcher, vermutlich von den nachlässig im Aschenbecher drappierten Kippen; ich schnippe einen roten Garnfaden von der Lehne & neige mich nach vorn, das Holz knirscht. Kaffee, fragt Patrice. Ich nicke.

Wir reden bis die Nacht fällt, sie ist wie ein Messer. Die Nacht dreht sich auf einer Spitze so scharf & fein, dass uns die Trennung nicht mal auffällt, die sie uns aufzwingt: Der Tag graut langsam, müde, ohne Farben. Wir haben uns erst die T-Shirts, dann die Hosen ausgezogen, wir saßen im Schwülen, in der Hitze bis mir der ganze Körper klebte vom eigenen Schweiß. Die Heizung ist defekt, sagt Patrice. Die ist immer auf volle Pulle, deswegen sind auch die ganzen Pflanzen hier, das Zimmer ist wie ein Glashaus. Er deutet auf eine Blume mit weißen, kelchigen Blüten, die ich nicht kenne; sie wirkt tropisch & fremd. Sie will ebenso wenig in diese Umgebung passen wie Patrice selbst, dessen Haut im Gegenlicht der Pflanzen grünlich schimmert – seine Glutaugen – sein schwarzes Haar. Die ist ganz hübsch, oder?

Angenommen, sag ich, das Gespräch von zuvor aufnehmend, wir stünden alle auf, das ganze dreckige Dutzend – angenommen, wir würden morgen früh alle einfach nicht mehr zur Arbeit, sondern stattdessen den Verkehr der Innenstadt lahmlegen. Was dann? Patrice drückt die Zigarette aus, er dreht ihr regelrecht den Hals um. Was soll schon sein, die nehmen uns fest, klick-klack, Handschellen & Schluss. Die Revolution kommt nicht in der Weigerung, sie kommt als Marketing – als Newsletter & Push-Notification. Sie wird fabriziert. Auch Patrice schwitzt, ich seh das deutlich, einzelne Schweißperlen rinnen ihm die Brust hinab, die ganz schmal ist, mit einem Arm zu umgreifen, & dann weiter, den Bauch hinunter, bis in seine Schamhaare, verschwinden. Für eine Weile konnte ich dem Gespräch nicht folgen – das lag vor allem an seinem Schwanz, der müde & dick zwischen seinen Schenkeln lag, & jetzt, da er aufsteht um die Schallplatte zu wechseln, fällt mein Blick wieder zwischen seine Beine. Fuck, sag ich & wisch mir über die Stirn. Fuck.



Als ich gehe, da ist mein Kopf leicht vom Marihuana & die Beine schwer. Ich gehe zickzack durch die Straße, von der Bäckerei zum Friseur & zur nächsten Bäckerei – führt das alles irgendwohin? Für einen Moment weiß ich nicht mehr, wie ich hierher gekommen bin, habe vergessen, was mich nach Neukölln gebracht hat, in diese Wohnung, zu diesem Mann. Wie hieß er noch? Ach ja. Patrice. & warum war ich da? Achja. Um frei zu sein. In den Autos sitzen kleine Versionen von Menschen, Menschenkopien, & die sehen alle so finster durch ihre Fensterscheiben, dass man meinen könnte, sie seien mit Benzin betrieben & nicht ihre Wagen, als würden sie alle innerlich verbrennen. Drüben am Obst- & Gemüsemarkt ruft wer Melonen, Melonen, Melonen, immerzu, dabei ist Anfang Dezember, warum ruft er das? Wer braucht denn jetzt Melonen?

In der S-Bahn isst einer Döner, zwei streiten sich, ich weiß nicht um was, aber da ist ein Hund, der sich nervös im Kreis dreht. Ich fühle genau, wie die Grenzen verschmieren, zwischen denen & mir, ich kann meine Haut nicht spüren, sie ist wie weggewischt; ich fliege als Wolke durch die Bahn, versuche mich an Kafka festzuhalten & greife durch ihn hindurch. Der Verschollene wird mir heute nicht helfen. Ich erinnere mich an Patrice, an seinen sehnigen Körper, an seine Augen. Ich erinnere mich an die Fiktion seiner Versprechen. An die Kommune, in der er lebt, an das besetzte Haus. Die einzelnen Teile fliegen mir durcheinander als die S-Bahn losstottert – so, als hüpfte sie auf einem Bein. Das enge Treppenhaus, das Zeitungspapier zwischen den Fenstern, damit die Kälte nicht reinkommt, & das zerbrochene Waschbecken. Ich schmecke die Asche, schmecke Leder & Papier, die Prozesse. Am Ende denk ich tatsächlich nur an die Prozesse. Ein Aufnehmen & Fallenlassen & wieder: Aufnehmen.

Von einem, der auszog…

liebster-award

Wer die Gewinner sind in Zeiten wie diesen, frage ich mich, wer die Goldherzen hat, die Oscars, aufgereiht zwischen müden Organen, & weiß nichts – rein gar nichts –, so spontan zu erwidern, was sinnvoll wäre, oder, ach, wenigstens nur sinnvoll klingt. Dabei wurde ich erneut, genauer: bereits zum zweiten Mal!, mit dem Liebster Blog Award ausgezeichnet, & zwar von Yuliya. Jetzt bin ich sehr stolz & auch verlegen (allerdings auch sehr verwundert), & versuche mein Bestes – in Zeiten wie diesen.

Liebster Blog Award

Man sagt mir nach, ich würde die Dinge nur verkomplizieren. Ich würde es den Menschen schwer machen, schwer mit dem Essen & schwer mit dem Lieben. Ich würde immer & überall ein Gewicht mit mir herumtragen, das ich in den ungeeignesten Momenten den anderen auf die Füße fallen ließe – manchmal, mit einem schelmischen Grinsen. Ich wäre ein Verwüster, ein Tunichtgut, einer, der auszog, um das Fürchten zu lernen – obwohl er am Ende keinen Eimer mit Fischen ins Gesicht geschüttet bekommt, weil neben ihm keine Frau im Bett liegt, sondern ein anderer Kerl. Ich müsse immer alles kritisieren – nur nicht die eigenen Superlative, & rupfe oftmals solange an den wenigen, guten Haaren bis keine mehr blieben. Wer da also so haarlos durch die Straßen Berlins zieht, ist halb Fabelwesen, halb Hirngespinst, was beides, sind wir mal ehrlich, oftmals rein gar nichts miteinander zu tun hat, aber in meinem Fall angeblich ganz viel. Das aber nur so als Intro. Damit klar ist, wer antwortet.

1. Wie kamst du zum Schreiben?

Das ist einfach: Ich kam nicht, ich war bereits da. Oder anders: Das Schreiben war es, das mir zulief, nicht andersherum. Nein. Vielleicht war das Schreiben eher etwas, das angeflogen kam, wie eine Brieftaube, oder vielleicht war es wie ein Geysir, der mir urplötzlich unter den Füßen ins Freie brach & mit sich mir in die Glieder. Kann das Schreiben etwas wie eine Fähigkeit sein, die man entwickelt – ähnlich dem Schnürsenkelbinden? Oder ist das Schreiben ein Talent, ein angeborenes, wie Gefühlssynästhesie oder Farbenblindheit? (Schau, ich fühle dich beim Tippen, du sinkst in mich ein beim Lesen, wir sind eins in den Wörtern).

Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Das Schreiben war schon immer da, war gewissermaßen vor mir. Es zeigte sich als bauchige Buchstaben auf liniertem Papier – in Form meines Namens, & immer: im Namen eines Fremden –, & in der alten Schreibmaschine meiner Mutter, oder Tante, die, grünlich-bläulich, auf dem Küchentisch stand, wo ich auf sie einhämmerte mit ungelenken Fingern & großer Frustration. Das Schreiben war in mir & um mich, noch bevor ich die Bücher entdeckte, es ging mir nach bis zur Schule & saß mir im Unterricht stets zuvorderst auf der Zunge. Wenn ich in der Schule schrieb, schrieb das Schreiben. Nicht ich. Man könnte somit also behaupten, das Schreiben sei im Grunde nicht untrennbar mit mir verbunden, sondern viel eher, dass das Schreiben & ich deckungsgleich – dasselbe – sind.

2. Bevorzugst du eine Art des Schreibens (Lyrik, Prosa, freie Gedanken etc.) & wenn ja, wieso?

Oh, & was, wenn nicht? Ich klopfe stets die Eventualitäten ab, die Möglichkeiten der Sprache. Falls ein Nein fehlt, so könnte doch wenigstens ein Vielleicht – ein Möglicherweise – ein Gegebenenfalls in die Zwischenräume schlüpfen & sie, atmend & im Atmen wachsend, erweitern bis sie groß genug sind, um alles zu fassen, was Sprache ist. Ich bevorzuge, was möglich ist. Alles andere ist eine Zumutung. Andererseits bin ich ein furchtbarer Amateur & weiß von den Arten des Schreibens ungefähr so viel wie vom Kriegführen: Wer die falschen Waffen wählt, verliert. Warum also nicht einfach alle wählen?

3. Hast du ein Lieblingswort?

Nicht eines, viele. Hagelzucker beispielsweise, eine süße Härte, eine Gewalttat der Sinne. Davor war es Shoah, die trug ich bitter zwischen den Zähnen. Dass die Wörter oftmals nur in einem furchtbaren Kontext existieren können & dabei Grausames in sich verstecken, macht sie umso reizvoller für mich. Was nicht heißt, dass ich nur Tod & Verderben sammle. Ich mag Schlüsselwörter & Allegorien, mag den Geschmack der Sehnsucht im Mund & die Weberknechte als Wimpern an beiden Augen.

4. Welche drei Lieder oder Musikstücke hörst du zurzeit am liebsten?

Aus meiner Spotify-Musikliste, chronologisch zur Sucht gestapelt:


1. Romare – Come close to me


2. SOHN – Conrad


3. Muddy Monk – Si l’on ride


5. Hast du mal selbst Musik gemacht oder machst du Musik?

Ich habe mal in einem Traum eine Oper geschrieben, ich hab sie sogar aufgeführt. Sie war ein Meisterwerk. That’s it.

6. Welches Buch hat dich besonders inspiriert?

Inspiriert? Zum Schreiben, zum Leben? Ich wünschte, ich könnte das auf irgendwas begrenzen, könnte mit Garn bespannte Stöckchen in die Erde rammen, um den Rahmen abzustecken – stattdessen fallen mir nur ganze Namenslawinen ein, die alles unter sich begraben: Die Stöckchen, das Garn, mich. Ich kann mich nicht entscheiden. Es beginnt vermutlich mit Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, das hat mich beeindruckt, gleichzeitig aber auch die Biografie von Hermione Lee über Virginia Woolf; ich wurde elektrisiert von Bolaños Wilden Detektiven, von Kafkas Verwandlung (& auch von seiner Strafkolonie, über die seltsamerweise immer noch viel zu wenige Menschen reden); Elias Canettis Blendung hat mich schlichtweg aus den Socken gehauen, ebenso wie Safran Foers Everything is illuminated. So gut wie alles von Herta Müller hat mich inspiriert. & die Kassandra von Christa Wolf. Ich kann aber vermutlich endlos Büchernamen & Autoren aneinander reihen. Das Buch, was mich (bisher) am meisten beeindruckt hat – wenn ich das so sagen kann –, war allerdings Adrienne Mesurat von Julien Green.

7. Was magst du am Tag, was an der Nacht?

Tags. Es gibt die Tage im Frühling, wenn der Himmel das erste Mal wieder aufbricht – gefühlt: seit Beginn der Wetteraufzeichnungen –, & die Sonne, wie gestoßen, zwischen die Wolken fällt als weißgelbe Kugel, & wenn es zuvor geregnet hat, dann riechen die Straßen wie frisch gewaschen. Ich mag den Geruch des Tages, die Bäckereien, mit denen alles beginnt, die jede Fußgängernase in Kaffee & frische Brötchen tunken, & ich mag auch die Geräusche des Tages: das eilige Rattern der S-Bahnen, ihr Fiepen, das Zeitungsrascheln zwischen den Tagmenschen, die ihrem Tagwerk nachgehen – so, als gingen sie endlos in Kreisen. Ich mag das Essen des Tages, das Auftischen zwischen Frühstück & Mittag, die Gedankenlosigkeit der Gabeln & Messer, dazwischen: ein verschmitztes Grinsen. Tags ist alles sichtbar, plastisch; ich mag das Greifbare des Tages, die Dreidimensionalität der Dinge. Es gibt kein Verstecken. Im Sommer: das Liegen an Seen & im kurzgeschorenen Gras, das einem zwischen den Fingern knistert wie Stroh. Das Licht, das über die Oberflächen brandet & sie vergoldet, das geschieht vor allem im Herbst. Ich mag das Licht des Tages.

Nachts. Mich hat die Nacht geraubt, ich war der erstgeborene Sohn. Ich mag die Geschwindigkeit der Nacht, ihr lautes Dröhnen, ihre Langsamkeit, ihr erstickendes Schweigen. Ich mag, was sie aus den Farben macht – Erscheinungen! – vor allem im Winter, wenn der Himmel & der Boden ziellos ineinander übergehen. Ich liebe die Gleichmacherei der Nacht; sie ist wirklich gerecht. Ich mag ihre Schatten & Geheimnisse, mag ihre Winkelzüge & Intrigen. Die Nacht wartet mit Messern, sie presst Herzen kaputt & steckt Körper zusammen wie Legosteine – die Nacht ist Mörderin & Geliebte: Sie reißt einem die Augen auf im Wahn & schüttet noch Wein nach in jedes unserer leeren Gläser. Ich mag die Ehrlichkeit der Nacht, ihre Gnadenlosigkeit. In der Nacht verlieren Menschen erst das Gesicht, dann ihre Unschuld. Ich mag ihre Gier & den Hunger, der einen überfallen kann, wenn man vom einen Club in den anderen taumelt, morgens um 4. & trotzdem: Es herrscht auch Stillstand, Ruhe, das Vakuum der Schatten. Die Sehnsucht nach dem eigenen Bett. Das Glück zu träumen.

8. Was für einen Blick hast du, schaust du Menschen viel in die Augen?

Manchmal: den Blick getriebener Tiere. Manchmal: den Blick der Manischen, der Depressiven, der Irren, die sich nackt noch angezogen fühlen. Manchmal: verständnislos, unruhig flackernd, ungeduldig. Oftmals: zornig. Selten: angekommen. Ich habe manchmal das Gefühl, ich sehe in Wahrheit weniger mit den Augen – & nein, bitte, kleiner Prinz, bleib wo du bist, ich seh mit dem Herzen auch nicht besser –, als vielmehr mit der Idee des Sehens. Manchmal habe ich das Gefühl, ich würde tatsächlich überhaupt nichts sehen. Das beginnt mit dem Fokussieren – & endet in Unschärfe.

Was den Augenkontakt anbelangt: Ja, oft. Oft aber auch nicht, nein. Manchmal erscheint es mir völlig absurd, dass sich Menschen anschauen müssen, um einander zu sehen (wo wir wieder beim Thema wären). Meine Augen sind gefährlich, oder zumindest wurde mir das damals, zu Uni-Zeiten, von Josh attestiert. In meinen Augen lauere Wahnsinn, sagte er. Wer meinem Blick zu lange standhalte, der verliere sich im Weißblausilberngrau & dem Schwarz meiner Pupillen. Damals habe ich noch darüber gelacht. Heute weiß ich nicht, ob er nicht doch vielleicht Recht damit hat.

9. Das Erste was dir einfällt, wenn ich frage: Was ist das Schönste, was du je gesehen hast?

Das Leben, glaub ich, die Summe der Einzelteile. Ein papierner Schmetterlingssturm des nachts & unter mir eine tanzende Menge. Ein lachendes Kind in der U-Bahn, das mit seinem Gelächter alle anderen Passagiere ansteckt & am Ende, da lachen sie alle. Ein azurblauer Himmel in Barcelona – darunter: kubanische Nutten in zu kurzen, zu bunten Röcken, die mit Don rauchen & mit mir lachen. Zwei Stühle, einer blau, der andere rot, die am Strand von Tel Aviv im Sand stehen, wo Herr Da & ich uns küssen – davor: ein Technicolor-Sonnenuntergang-Wunder.

Mir fallen sofort dutzende, hunderte Augenblicke ein, manche davon schrecklich banal, andere groß & schwer & an den Rändern aus gleißendem Licht. Eine Liebe, die wie ein Blitz einschlägt & das Alte Rom bis auf die Grundmauern niederbrennt. Eine Liebe, die das Bett frisch bezieht. Eine Liebe aus Wahnsinn & Hunger. Meine damalige Mitbewohnerin Greta, die in ihrem seidenen Morgenmantel in der Küche stehend, ihren Minztee brüht & sich die Avocado aufs Brot schmiert. Goldflitter im Haar & Konfetti in jeder der Socken. Das Lächeln meiner Mutter, wenn sie mich nach über einem Jahr Abwesenheit wieder in die Arme schließt. Eine abgeschlossene Geschichte, ein vor Publikum vorgelesenes Gedicht. Ein Teenager in Madrid, der vor den vorüberziehenden Massen der Pride, am Straßenseitenrand, eine Regenbogenflagge hochhält & dahinter: der glückliche Vater.

Alles davon, gleichzeitig, übereinander gelagert, immer.

10. Was würdest du dir selbst gerne mitteilen?

Komm schon, setz dich hin & schreib dein Buch zu Ende. Keine Ausreden mehr. Begegne dem Unbequemen als Läuterung. Du hast genug Angst gehabt in deinem Leben. Es ist Zeit für die Liebe, & auch für die Revolution! Etc., etc.

11. Wie schwer wiegt das Leben?

Gar nicht. Das Leben ist nicht messbar – weder in Herzschlägen, noch in Atemzügen, schon gar nicht in Gewichten. So wie der Ozean keinen konkreten Anfang oder ein definitives Ende kennt, so stellt sich auch das Leben auf keine Waage.


Der Liebster Award kennt Regeln, die sind mir aber, ehrlich & mal ganz unkonventionell gesagt: wurscht, & zwar reichlich. Ich nominiere, wer mir am Herzen liegt. Das wären vor allem: 1. das Fräulein Artischocke, mein persönliches Fräulein Wunder; 2. die Wirsching, aka die Piratenbraut; & last, but not least: 3. die unnachahmliche Candy Bukowksi, die Zunderfrau, die mich immer aufs Neue begeistert.

Meine Fragen sollten harmlos sein, & ich möchte sie auch kurz fassen, damit sich niemand ganze Tage freinehmen muss zum Antworten:

1. Welcher Autor hat dich das letzte Mal berührt? (Im Zweifelfall auch unsittlich).
2. Was kann uns noch retten?
3. Was war dein größtes Scheitern?
4. & was dein kleinster Erfolg?
5. Was davon war im Nachhinein wichtiger & warum?
6. Was ist dein Lieblingsort (in deiner Stadt oder: in irgendeiner Stadt)?
7. Weswegen?
8. Welcher persönliche Gegenstand liegt dir am Herzen & warum?
9. Aus welchem Film bist du aufgestanden & gegangen?
10. 1x dein Beerdigungssong, bitte.

Stürme

busy.

A –
Stell dir ein Land vor, über das niemand herrscht. Ein Königreich ohne Könige, da will niemand deinen erstgeborenen Sohn. Stell dir vor, alle Tempel sind verfallen, die Kirchen sind leer. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch & schaut hungrig durch ihr schwarzes Haar. Stell dir vor, es wäre egal, wie viel du verdienst, aber nicht, wer du bist. Ich meine, sagt sie, ist es nicht völlig absurd, dass wir noch immer Unterschiede machen – zwischen dir & mir, zwischen Frau & Mann, zwischen Sex & Sex. Wie kann eine Gesellschaft, der das Individuum so sehr am Herzen liegt wie unserer, gleichzeitig so hartnäckig durch anderer Menschen Schlüssellöcher schauen wollen? & was sie da nicht alles sehen & verurteilen… Wer heute einen Schwanz in den Mund nimmt, muss knien – ein ganzes Leben lang. Die Frauen vor Dankbarkeit, die Homos vor Scham. Warum überlebt sich so ein Denken nicht?

B –
Weil es zu anstrengend wäre, eigene Werte zu schaffen, also besinnt man sich vielmehr auf die ehernen Gesetze des Patriarchats, da wird kurzerhand die Mutter aus dem Gebot gestrichen, man ehrt die Väter, die allwissenden, die abwesenden, die gütig über uns zu Gericht sitzen wie Götter. Wer, wenn nicht Wir wissen, was gut für euch ist? Hat denn niemand begriffen, wie sehr sie sich ähneln, diese männlichen Gesellschaftsbilder? Sie verschleiern dich & schicken dich fünf Meter hinter sich, weil das ihr Wille ist; sie machen deine Röcke kürzer & dein Gesicht ganz bunt, weil das ihre Freiheit ist; sie verkaufen dir Schönheit, Liebe, Glück, weil sie was vom Marketing verstehen. Es ist völlig egal, ob es die fundamentalen Kapitalisten sind, die ihre Frauen nackt über die Catwalks jagen, weil sie Nacktheit als Zeichen der Selbstbestimmung verkaufen, oder die fundamental Religiösen, die ihren Frauen jedes Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Am Ende, da entscheidet immer nur der Mann. So hat die AfD beispielsweise mit Salafisten mehr gemein als ihr lieb ist: Diese wie jene dulden weder alleinerziehende Mütter, Feminist*innen noch lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle & queere Menschen.

Die Wut der Stammtisch-Besorgten schwappt in gestammelten Worten
aus ihren Gläsern, aus den Kneipen auf die Straßen allerorten
vielleicht wär es leicht die wahren Gründe zu ergründen
doch viel leichter ist es immer noch ’n Sündenbock zu finden
*

C –
Wenn die ARD einer Partei wie der AfD ein Zusatzwort wie populistisch streicht, verschiebt sie die Wahrnehmung. & es sind die kleinen Verschiebungen, die von der Mehrheit nicht bemerkt werden, die am Ende die großen Katastrophen nach sich ziehen. Wenn der Deutschtürke, der seit drei Generationen in Deutschland lebt – der Deutscher ist, & Türke –, sagt, er wolle weg aus Deutschland, denn das Land sei nicht mehr sicher… Wenn die Intellektuellen in ihren Elfenbeintürmen entsetzt aufhorchen, wenn auf AfD-Kundgebungen plötzlich Nietzsche zitiert wird (Was fällt, das muss man stoßen), aber die, die an der vordersten Front sitzen, schon seit Jahren ungehört um Hilfe rufen. Wenn Autos auf offener Straße stehen bleiben, um dem schwulen Pärchen Schwuchteln nachzuschreien. Wenn türkischen Frauen auf offener Straße die Hidschābs von den Köpfen gezerrt werden. Wenn in Hausfluren & an Straßenlaternen plötzlich Hakenkreuze auftauchen, Parolen, rechte Reden – überall –, die wie Gift ins Grundwasser sickern, in die abgestandenen Diskussionsrunden der Altvorderen, die nicht mehr wissen, was sie sagen sollen angesichts des moralischen Versagens der sogenannten Leitkultur des Deutschen Volkes. Wenn das Thema Politik am Tisch schnell tot ge-schhhht wird, weil über Politik redet man nicht, man streitet bloß, aber streiten will in diesem Land eigentlich auch niemand mehr. Man will nur Recht behalten.

Also fackeln sie nicht lang, nehmen die Fackeln in die Hand
jede Woche steht ein neues Asylantenheim in Brand
der Applaus treibt Söder, Seehofer & Scheuer hinters Pult
aber wer mit Worten zündelt, trägt am Feuer seine Schuld
*

D –
Also, was tun, sagt sie & nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer viel zu kleinen Tasse & schaut in die Runde. Alle Probleme, seit Jahren thematisiert, fallen eins dem andren nach & uns auf die Füße. Aufstehen, sagt Patrice & lächelt. Nicht aufgeben, sagt Andrew & steckt sich die Zigarette an. Wir müssen tun, was wir am besten können, sagt Mathilde; ihre Augen sind groß & blau & strahlen im Licht. Unser Boden: Ein Wurzelgeflecht der Wut. Unsere Luft: Der Mief der Enttäuschten. Wir gehen mittig auf der Straße, hinter uns schwenken sie große Regenbogenfahnen. Fahrradklingeln, Autohupen. Ich höre Trommeln. Gerade jetzt, sagt sie & legt drei Euro auf die Untertasse, gerade jetzt ist es wichtig, das Ausmaß zu verstehen. Wir haben zu lange gewartet, zu lange gehofft, uns zu lange abgelenkt. Es ist Zeit, Position zu beziehen. Zeit, sich zu entscheiden. Neue Werte zu formen, sagt sie. Eine Meinung. Es ist Zeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Verbindungen zu schaffen. Wir brauchen Gegengewichte. Brauchen die Homos genauso wie jede*n Feminist*in, wir brauchen die wütenden Drag Queens, die alleinerziehenden Papas, die Flüchtlinge – wir brauchen sie alle, die glücklichen Familien & die unglücklichen Singles – denn alle, wir inklusive, müssen verstehen, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. & das ist nicht nur unsere Menschlichkeit oder die sogenannte Zukunft unserer Kinder. Es ist noch nicht mal die Demokratie. Es ist alles, was Wir ist & Wir sagt, es ist die Gesellschaft selbst. & wer das noch nicht begriffen hat, den wird der heraufziehende Sturm noch früh genug aus dem Schlaf reißen.

*Wir sind alle nicht von hier – Jennifer Rostock