Stürme

busy.

A –
Stell dir ein Land vor, über das niemand herrscht. Ein Königreich ohne Könige, da will niemand deinen erstgeborenen Sohn. Stell dir vor, alle Tempel sind verfallen, die Kirchen sind leer. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch & schaut hungrig durch ihr schwarzes Haar. Stell dir vor, es wäre egal, wie viel du verdienst, aber nicht, wer du bist. Ich meine, sagt sie, ist es nicht völlig absurd, dass wir noch immer Unterschiede machen – zwischen dir & mir, zwischen Frau & Mann, zwischen Sex & Sex. Wie kann eine Gesellschaft, der das Individuum so sehr am Herzen liegt wie unserer, gleichzeitig so hartnäckig durch anderer Menschen Schlüssellöcher schauen wollen? & was sie da nicht alles sehen & verurteilen… Wer heute einen Schwanz in den Mund nimmt, muss knien – ein ganzes Leben lang. Die Frauen vor Dankbarkeit, die Homos vor Scham. Warum überlebt sich so ein Denken nicht?

B –
Weil es zu anstrengend wäre, eigene Werte zu schaffen, also besinnt man sich vielmehr auf die ehernen Gesetze des Patriarchats, da wird kurzerhand die Mutter aus dem Gebot gestrichen, man ehrt die Väter, die allwissenden, die abwesenden, die gütig über uns zu Gericht sitzen wie Götter. Wer, wenn nicht Wir wissen, was gut für euch ist? Hat denn niemand begriffen, wie sehr sie sich ähneln, diese männlichen Gesellschaftsbilder? Sie verschleiern dich & schicken dich fünf Meter hinter sich, weil das ihr Wille ist; sie machen deine Röcke kürzer & dein Gesicht ganz bunt, weil das ihre Freiheit ist; sie verkaufen dir Schönheit, Liebe, Glück, weil sie was vom Marketing verstehen. Es ist völlig egal, ob es die fundamentalen Kapitalisten sind, die ihre Frauen nackt über die Catwalks jagen, weil sie Nacktheit als Zeichen der Selbstbestimmung verkaufen, oder die fundamental Religiösen, die ihren Frauen jedes Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Am Ende, da entscheidet immer nur der Mann. So hat die AfD beispielsweise mit Salafisten mehr gemein als ihr lieb ist: Diese wie jene dulden weder alleinerziehende Mütter, Feminist*innen noch lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle & queere Menschen.

Die Wut der Stammtisch-Besorgten schwappt in gestammelten Worten
aus ihren Gläsern, aus den Kneipen auf die Straßen allerorten
vielleicht wär es leicht die wahren Gründe zu ergründen
doch viel leichter ist es immer noch ’n Sündenbock zu finden
*

C –
Wenn die ARD einer Partei wie der AfD ein Zusatzwort wie populistisch streicht, verschiebt sie die Wahrnehmung. & es sind die kleinen Verschiebungen, die von der Mehrheit nicht bemerkt werden, die am Ende die großen Katastrophen nach sich ziehen. Wenn der Deutschtürke, der seit drei Generationen in Deutschland lebt – der Deutscher ist, & Türke –, sagt, er wolle weg aus Deutschland, denn das Land sei nicht mehr sicher… Wenn die Intellektuellen in ihren Elfenbeintürmen entsetzt aufhorchen, wenn auf AfD-Kundgebungen plötzlich Nietzsche zitiert wird (Was fällt, das muss man stoßen), aber die, die an der vordersten Front sitzen, schon seit Jahren ungehört um Hilfe rufen. Wenn Autos auf offener Straße stehen bleiben, um dem schwulen Pärchen Schwuchteln nachzuschreien. Wenn türkischen Frauen auf offener Straße die Hidschābs von den Köpfen gezerrt werden. Wenn in Hausfluren & an Straßenlaternen plötzlich Hakenkreuze auftauchen, Parolen, rechte Reden – überall –, die wie Gift ins Grundwasser sickern, in die abgestandenen Diskussionsrunden der Altvorderen, die nicht mehr wissen, was sie sagen sollen angesichts des moralischen Versagens der sogenannten Leitkultur des Deutschen Volkes. Wenn das Thema Politik am Tisch schnell tot ge-schhhht wird, weil über Politik redet man nicht, man streitet bloß, aber streiten will in diesem Land eigentlich auch niemand mehr. Man will nur Recht behalten.

Also fackeln sie nicht lang, nehmen die Fackeln in die Hand
jede Woche steht ein neues Asylantenheim in Brand
der Applaus treibt Söder, Seehofer & Scheuer hinters Pult
aber wer mit Worten zündelt, trägt am Feuer seine Schuld
*

D –
Also, was tun, sagt sie & nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer viel zu kleinen Tasse & schaut in die Runde. Alle Probleme, seit Jahren thematisiert, fallen eins dem andren nach & uns auf die Füße. Aufstehen, sagt Patrice & lächelt. Nicht aufgeben, sagt Andrew & steckt sich die Zigarette an. Wir müssen tun, was wir am besten können, sagt Mathilde; ihre Augen sind groß & blau & strahlen im Licht. Unser Boden: Ein Wurzelgeflecht der Wut. Unsere Luft: Der Mief der Enttäuschten. Wir gehen mittig auf der Straße, hinter uns schwenken sie große Regenbogenfahnen. Fahrradklingeln, Autohupen. Ich höre Trommeln. Gerade jetzt, sagt sie & legt drei Euro auf die Untertasse, gerade jetzt ist es wichtig, das Ausmaß zu verstehen. Wir haben zu lange gewartet, zu lange gehofft, uns zu lange abgelenkt. Es ist Zeit, Position zu beziehen. Zeit, sich zu entscheiden. Neue Werte zu formen, sagt sie. Eine Meinung. Es ist Zeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Verbindungen zu schaffen. Wir brauchen Gegengewichte. Brauchen die Homos genauso wie jede*n Feminist*in, wir brauchen die wütenden Drag Queens, die alleinerziehenden Papas, die Flüchtlinge – wir brauchen sie alle, die glücklichen Familien & die unglücklichen Singles – denn alle, wir inklusive, müssen verstehen, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. & das ist nicht nur unsere Menschlichkeit oder die sogenannte Zukunft unserer Kinder. Es ist noch nicht mal die Demokratie. Es ist alles, was Wir ist & Wir sagt, es ist die Gesellschaft selbst. & wer das noch nicht begriffen hat, den wird der heraufziehende Sturm noch früh genug aus dem Schlaf reißen.

*Wir sind alle nicht von hier – Jennifer Rostock

Die Zeit der Antipoden

Die Zeit der Anführer ist vorbei, sagte sie & schüttet mit dem kleinen Silberlöffel ein bisschen Zucker nach in die Tasse. Sie lächelt nicht, blinzelt nicht; sie kam mit der Sonne von links durch die Tür & setzte sich an den selben Tisch, wo sie vor Monaten zuletzt gesessen hatte. Keine Ikonografie: kein roter Stern, kein Camouflage-Look, kein Clan-Tattoo auf Handgelenk & Knöchel. Che Guevara ist tot. Alle Götter sind tot. Ihr schwarzer Pullover & die Jeans sind alles, was sie zum Widerstand braucht, sagte sie, & schiebt sich jetzt die Ärmel hoch bis zum Ellbogen. Warum wolltest du dich treffen? Ihre Stimme ist weich, ein bisschen müde; sie wirkt älter als damals, verbrauchter. Weil ich langsam wieder zu Bewusstsein komme, sag ich & schütte Cola nach ins Glas. Das prickelt viel zu laut. Ihre Stirn bleibt faltenlos. Sie trinkt Importkaffee aus Laos, ich imperialistische Limonade. Wir sind uns gleich. Auch ich trage einen schwarzen Pullover.

Bewusstsein? Deine größte Sorge ist doch, wenn dein Paket wieder beim Nachbar abgegeben wird, der dann wieder nicht da ist, wenn du’s abholen könntest. Es stimmt nicht, denk ich, Bitterkeit faltet einem nicht den Mund zusammen; sie ist bitter geworden, ohne darüber ihr gutes Aussehen verloren zu haben. & wenn?, sag ich, vielleicht zu herausfordernd, denn jetzt, da lächelt sie, mit einem Mundwinkel lächelt sie halb & rührt mit dem Löffel in der Tasse. Wir sind alle zu Clichés geworden, uh? Kleine Abziehbildchen, die einander überklebt haben. Wir sind die Tags auf den Straßen dieser Stadt, zu viele, zu grell, zu präsent, & keiner kann uns eigentlich entziffern. Alle schreien wir gleichzeitig. Ja, sag ich. Einfach nur Ja. Ohne weiteren Hintergedanken. Du bist noch immer auf der Suche nach neuen Inhalten, was? Ich nicke. & deswegen rufst du mich an, bestellst mich her, damit ich dir welche beschaffe. Einleuchtend, irgendwie. Auf deine dumme bourgeoise Art. Wieder: das Lächeln. Wieder: mein Nicken. Der Arbeiterjunge, der zum Kapitalisten wurde, will wieder Revolutionär spielen, will zwischen den Leuten mit Snowden-T-Shirts und Guy-Fawkes-Masken auf der Straße stehen. Anti-NSA! Anti-Überwachung, uh? So ein bisschen gegen das Establishment wettern bis die Bundestagswahlen mal wieder die üblichen Politiker gezeitigt haben… & danach, wenn das Bier schwer ist im Magen, mit der flachen Hand auf den dicken Wanst sich schlagen & denken: Ach, wie unverstanden bin ich! Die Utopie, die willst du, aber den Preis dafür zahlen? Ich glaub nicht.

Sieh dich an. Du verziehst doch schon die Lippen, wenn wir über Obdachlose sprechen. Kneifst mit den Augen, wenn’s um Zigeuner geht, die Sinti & Roma heißen, oder um Ausländerfeindlichkeit auf offener Straße, die’s offiziell nicht gibt. Du willst deinen Sexismus überschaubar, deinen Rassismus in einem kleinen feinen Wort gebündelt, das jetzt mal Neger heißt, & morgen Schwarzer, Farbiger & Mohr, du willst deine weißen, intellektuellen Debatten in deiner weißen, intellektuellen Männerwelt, in der der Krieg noch immer der Vater aller Dinge ist, & die Versklavung die Mutter unserer Kinder. Nein? Nein. Was also dann? Siehst du nicht, wie sie alle da stehen, die Leute, wie sie auf der Straße stehen, die Männer Mitte 30, Ende 40, bei denen der Bartschatten nicht sexy ist, & die löchrigen Shirts kein Ausdruck ihrer Individualität; siehst du sie nicht, die Frauen auf ihren Stühlen, die unbestimmt ans Ende der Straße starren, so als könnt da jemand kommen, der ihnen eine gute Nachricht bringt. Alle warten. Du & sie & alle. Aber das hier, das ist nicht Warten auf Godot. Es ist schlimmer. Wir haben keinen Godot, wir haben keinen, der es besser machen könnte, selbst wenn er gar nicht kommt. Selbst die Hoffnung auf ein Phantom wäre besser, als das, was wir in Wahrheit haben. & was ist das, was haben wir? Uns, sagt sie. & lacht. Wir haben nur uns.

Reicht das denn nicht?, frag ich. Siehst du etwa, dass sich da was verändert?, fragt sie. Unentschieden. Okay, sag ich, du willst wissen, was ich will, du willst wissen, weshalb ich dich anrufe, dich herbestelle, dir diesen Scheißkaffee ausgebe, weil du wieder mal kein Geld dabei hast, wie sich’s gehört für eine Revolutionärin, für eine, die im Untergrund lebt, wie wenn Ratten über die Gleise huschen; in deiner manikürten Schlichtheit – sag, wo duschst du noch mal, wo bekommst du Duschgel & Shampoo, & die Zahnpasta für diese beschissen-weißen Zähne? Egal, egal, die Revolution, sagst du, das ist, was dich vom Namen befreit hat, & jetzt, jetzt sei es Zeit für den Kampf, für einen offenen Konflikt & zwar in der Mitte, im Herzen der Gesellschaft, die ganz satt ist von sich & dem Mangel. Denn hier, eigentlich, ja, Zukunft – von der spricht doch schon lange keiner mehr. Du sagst, sie stehn auf der Straße & warten, & natürlich hab ich sie gesehn. Ich sehe, das ist, was ich muss. Ich seh sie im Supermarkt ihre kleinen Finger am Schaufensterglas langschmieren, & im Bus ihren Atem im Nacken des Gegenübers sich verzahnen. Ich seh ihren Hunger, & ihre Verzweiflung, & ja, das Schlimme daran, das ist das Cliché, denn wir kennen den Kampf gegen AIDS & gegen Krebs, & wir kennen die Spendenaufrufe, wenn wieder irgendso ein Kind mit Blähbauch auf die Straße gestoßen wird zu all den Fliegen & Maden, & zum Geier, der lauernd auf dem Totenschädel eines andren Kindes sitzt – wir sind verseucht von Bildern & verseucht vom Wissen, & in unserer Seuche, die wir als Aussätzige nicht mal mehr als Seuche wahrnehmen, ersticken wir schier in der Unfähigkeit & Hilflosigkeit, die nichts anderes besagt als: Ich, ich – ich muss doch irgendwie überleben, ich muss doch irgendwas tun, damit ich-ich-ich meinen Kühlschrank vollkriege, damit meine Miete bezahlt ist & auch die offenen Rechnungen, die immer nur vom Kaufen kommen, denn kaufen müssen wir, sonst fliegt uns doch nur alles wieder um die Ohren. Also wird geseufzt & genickt & gelächelt & morgen sieht ja doch wieder alles ganz anders aus, sagen sie, aber sie lügen, & diese Lügen, die sind schon Alltag, die sind heute & morgen & die waren auch gestern schon. Shit, ja. Das sind nicht die News.

Ich seh die Leute warten, aber sie rumoren nicht, sie fressen & fressen, sie nehmen die Hand in den Mund & nennen’s ein Viergängemenü. So show me some love, bitch. Zeig mir die Leute, wie sie mit Scheißmistgabeln zum Bundestag ziehen & den Anführern den Kopf abschlagen; zeig mir die Leute, die ihre unfähigen Chefs zum Fenster stürzen & daraufhin: 30 Jahre Krieg. Du willst diesen ganzen Französischenrevolutionsmist, & prophezeist die Konsequenzen längst vor der eigentlichen Tat – chapeau! Deine Revolution passiert nicht. & weißt du auch wieso? Weil sie sich darin eingerichtet haben. Weil man’s ihnen nicht wegnimmt. Weil alles ist, wie es ist, denn so war’s schon immer, & die Lüge, die uns als festes Konstrukt schon mit der Muttermilch als Weisheit mit dem Löffel ins Maul gestopft wird, die geht so lange weiter, bis man’s ihnen kaputt macht – das ist, was du willst, aber ihr, ihr sitzt doch genauso daneben, & denkt: Ach, was in Russland geschieht, das betrifft mich nicht, weil Russland war doch schon immer homophob, & du, du bist ja nicht lesbisch, oder?, also ist’s nur ein Randproblem, ein schickes Kleidchen für eine Minderheit, die sich gerne selbst in den Arsch fickt, & das ist dann okay. Wir hier, du & ich & alle, die vorm Computer sitzen & das später lesen werden, wir kennen den Schrecken nur noch aus Büchern & aus dem Internet & von Bildern, die so alt sind, dass wir gar keinen Kontakt mehr dazu herstellen können, weil die meisten, die’s betraf, die sind selbst schon lange tot. Aber wir – wir, ja? Wir sind die Toten. Nicht die andren, nicht die im Grab.

& jetzt?, fragt sie, nippt erst & trinkt dann aus der Tasse, die schon halb leer ist. Du tust so, als wärst du ein Nachrichtensprecher, der mehr weiß, als die anderen, aber das ist nicht der Fall, weißt du? Du hast nämlich vorhin Recht gehabt: Alle wissen alles, & sie hören nicht auf damit, zu wissen, sie sammeln immer mehr davon an & sie sammeln & sie sammeln & keiner hört auf damit, sie laufen über, sie kotzen sich ihr Wissen frei bis kein Hunger mehr bleibt für ein richtiges Essen & dann bedauern sie, dass sie morgen wieder sammeln müssen; ihre eigene Kotze fressen sie dann stattdessen, jeden Tag, & jeden Tag sind sie dabei ganz glücklich. Sie begreifen ihren Widerspruch überhaupt nicht. Sie, du, ich. Weißt du, wir tun alle so, als wäre eine moralische Sicherheit möglich, eine Art Absolution, & dann, wenn du mal angefangen hast, dich für eine Sache zu entscheiden, dann versuchen’s dir alle zu ruinieren. Sie sagen dann: Ach, das ist nett, dass du vegan lebst, aber weißt du, in Afrika sterben sie trotzdem. Oder sie sagen: Ach, ist doch toll, wenn du den Kindern ein bisschen was spendest, aber weißt du, in China stehn ja trotzdem die Fabriken & die kontaminieren längst den Planeten. Mit jeder Hoffnung, die du hegst, zerren sie dir ein neues Monstrum unter dem Bett vor, & dieses Monstrum, das frisst die Hoffnung, das frisst dich & alles, was du liebst & dann hast du morgens nicht mal mehr die Energie ein bisschen früher aufzustehen, um – sagen wir mal -, was richtig Konstruktives zu tun -, sagen wir: einen Artikel in der Zeitung zu lesen, der dich über eine ganz bestimmte, eine ganz naheliegende Ungerechtigkeit informiert, der vielleicht in deinen Scheißkopf eindringt & sagt: ACH! Das geht jetzt wirklich zu weit! Sie töten dir jeden revolutionären Gedanken, weil sie dich überschwemmen. Sie sagen, die Realität sei zu komplex geworden, die Welt sei zu kompliziert, um im Ganzen verstanden zu werden – aber auch das ist gelogen; natürlich ist es gelogen. Die Welt ist nicht komplizierter. Sie haben nur die Zusammenhänge voneinander gelöst, sie haben das Radio in jedem Zimmer lauter gedreht, & jetzt versteht keiner mehr ein Wort von dem, was da gesagt wird. Wir sind der Lärm. Das Problem.

Geh hoch in den Bundestag & klopf mit der Mistgabel gegen die Glastüren – hast du nicht gesehen, was in andren Ländern passiert ist? Hast du nicht die Tränengasfontänen gesehen, die Wasserwerfer, hast du nicht die bewaffneten, die gepanzerten, die Polizisten gesehen, die da einfach nur ihren Scheißjob machen, denn irgendwer muss ja für Ordnung sorgen in dem Chaos, das sie sich selbst geschaffen haben, & später spricht keiner drüber, sondern man karrt die Verletzten, die mit den gebrochenen Nasen, aus dem Bild, & so lange keiner mehr im Bild steht, können sie vergessen. Die Türme zu Babylon fallen, aber sie brennen nicht – sie sollten Tag & Nacht wie Leuchttürme über den Ruinen dieser Gesellschaft strahlen, denn dann würde vielleicht endlich alles mal länger als nur für ein paar Minuten stehen bleiben, wenn einer im Fernsehen von Atombombentest spricht, oder wenn einer in England seine Pressfreiheit nicht mehr ausüben kann, oder wenn sie in Scheißrussland wieder irgendeinen Schwulen verscharren, weil er es gewagt hat, einen andren Mann an der Hand zu nehmen. Nur wenn man ihnen immer wieder aufs Maul haut, dann bleiben sie stehen – oder genauer gesagt bleiben sie liegen. Sie hören erst dann auf, wenn sie schockiert sind, & die Schockwelle muss wachsen, sie muss immer größer sein & werden, immer messbar am vorherigen Unglück, an der akutsten Katastrophe.

Wieder: Unentschieden. Die Cola ist leer. Ihr Kaffee auch. Neben uns sitzt jetzt ein Mann, der hat einen Kopf wie ein Holzklotz. Auch er hat keinen Namen mehr, aber auch keine Stimme, denn er sagt nichts. Er holt mich ab, sagt sie. Okay, sag ich. & hat dir das jetzt irgendwas gebracht? Eigentlich nicht, nein. Jeder hat nur wieder seine eigene Meinung bestätigt, aber es war auch die Meinung des andren. Eine Stammtischrundendiskussion ohne Ziel & Zweck also? Auch nicht. Die Zeit der Anführer ist vorbei, sagt sie beim Aufstehen. Glaub mir. Okay, & was für eine Zeit kommt stattdessen? Die Zeit der Antipoden, sagt sie. Ja? & wann bricht die an? Du wirst schon sehen. Du musst doch immer sehen, nicht? Also sieh hin.

& von links die Sonne

Wenn wir uns doch vergeben könnten, sagt sie, die Finger bei der Tasse, die Lippen am Rand. Wenn wir uns restlos vergessen könnten, das, was wir hatten. Wenn wir was hatten. Hatten wir? Einen Abend oder zwei, eine Woche vielleicht, in der wir nicht wie auf Scherben durch die Wohnung gingen. Du übertreibst, sagt er. Maßlos. Ja? Sie nimmt sich den Mund zusammen & trinkt. Dann lächelt sie breit. Ist doch auch egal, nee? Wir sind die Rabeneltern unserer Liebe gewesen; wie Harpyien haben wir unsere Krallen in das Bisschen Ichliebedich geschlagen bis es gewinselt hat, bis es drum betteln musste, dass wir es loslassen, freilassen, fallenlassen. & dann kam eine neue Nacht voller Geseufz, voller Zärtlichkeit, die uns wie Mundgeruch auf der Zunge lag, & morgens – erinnerst du dich nicht, wie wir versucht haben, uns morgens schön zu finden, wo das Licht doch so grausam zu uns war? Die kleine orangefarbene Plastikschachtel in ihrer Hand, erst dort, dann auf dem Tisch neben der Serviette; es klackert, es klappert, es klappt. Eine weiße Tablette, die teilt sie gerecht. Er schenkt sich Maracuja-Saft nach. Ich weiß nicht, wie wir uns noch ansehen können. Du mich. Ich dich, ja. Jedes Wort endet in der Schwebe, immer ganz dicht neben den eigentlichen Worten; wir reden ums Eigentliche, wir schleichen um jedes Vergehen. Ich hab mit Joseph geschlafen, sagt er, & trinkt; der Saft ist zu süß, fast faulig in seinem Mund, der jetzt ganz trocken ist. Du meinst, du hast ihn gefickt, sagt sie, & lächelt. Auch. Ich weiß, sagt sie. Er ist mein Bruder. Wir sind Blut & Ewigkeit. Ich hab ihn an dir gerochen, damals. Feiner Holzstaub & Leder, Tabak & Erde, ein bisschen was vom Sterben im Schweiß, der ihm wie Frischhaltefolie auf der Haut klebte. Mir? Ihm. Ist das der Grund? Für was? Na, dieses Fragmentieren, dieses Nichtzursachekommen. Du gehst dir aus dem Weg & nennst das eine Erkenntnis. Ich kapier kein Wort. Ich hab von deinen Eskapaden gehört, weißt du? Ist keine Kunst, sagt er, & trinkt. Wer hat das nicht? Joseph. Oh. Ja, oh! Der ist aber immerhin auch nicht in mich verknallt, uh?

Zoey? Zoey.
Ein Hustenreiz ganz weit vorn, hinter den Lippen, beim Kauen der kleine Apfelrest zwischen den Zähnen; Zoey? Du in deinen Jeans & dem roten Shirt, das leicht ist & fast transparent, & daneben: ein Mann mit Schnurrbart & kalten, blauen Augen, die auslaufen wollen, so starren sie mich an. Mich. Die Haare zu lang, das Auge rot. Ich kann mich selbst nicht sehen, kein Bisschen; ich bleibe mir verborgen wie etwas, das hinters Bücherregal fällt, hinter die Kommode beim Telefon; vielleicht eine Notiz mit einer Nummer drauf, vielleicht ein Foto. Ich bin weg, & unsichtbar, & ganz genau mitten drin. Zoey. Das bist du. Ich bin namenlos.

Hast du mich überhaupt geliebt, fragt sie, & ich will kichern. Ich bin vermutlich verrückt. Ich habe niemanden je geliebt. Ich folge meinen Obsessionen, ich bin wie ein Tier. Eine läufige Hündin, damit kann man mich vergleichen, sag ich, & meine Augen lachen nicht. Ich mein’s ernst. Ich wittere & schnüffle & wenn mir wer nachgibt, dann gibt’s kein Hollywoodfeuerwerkliebesgedöns. Es gibt einen Schwanz, der will eindringen, & eine Zunge, die dir das Salz aus der Kuhle deiner Schlüsselbeine leckt; ich bin kein liebesbedürftiges Schoßhündchen, das einem am Schritt leckt damit’s ne Belohnung kriegt – das Schwanzlecken ist schon Belohnung genug. Alle kommen mir ständig mit der Liebe, & dem Einswerden, & dem Sehnsuchten, das ganz blank gewetzt ist von hunderttausend gierigen Händen & wund gesehen von hungrigen Augen, aber Liebe? C’mon, bitch! Du bist so bitter, sagt sie & verrührt den Kaffee. Bitter?! Ich? Nur weil ich diesen von der Liebe breit getrampelten Pfad nicht langlaufen will? Weil ich nicht dran glaube, dass mich die Heilige namens Liebe ins Paradies führn kann? Was für antiquierte Vorstellungen du hast! Als wäre die Liebe das einzige, & alle, die das nicht so sehen, verbitterte Zyniker. Es gibt nichts zu vervollständigen. Ich bin als Ganzes bereits auf die Welt gekommen. Das ist nicht der Punkt, sagt sie. Der Punkt? Du meinst das, was ich glauben soll, aber nicht glauben will? Okay. Auf den Punkt ist geschissen. Ich sehnsuchte hell, ja, & ich suche Widerstände, & fuck yeah, I wanna do mischief, I wanna play hard & unfair, whatever – komm mir bloß nicht mit der Moral & dem, was wirklich richtig ist, oh du mitteleuropäische Schönheitskönigin, die nie gelitten hat im Leben, die nie gehungert hat, die nie von der Hand im Mund leben musste, die immer hatte & hatte, die ganz voll war vom Haben – ist das der Punkt? Ouch, sagt sie. Was ist mit dir denn los? Ritalin, sag ich, oder dessen Substitut, & Schmerztabletten, die sind los, die rauschen mir grade durch die Venen & zünden ganze Feuerwerke. Lachen, Schweigen, ein bisschen betretenes Blinzeln. & die Sonne von links.

Einmal, sag ich, nur einmal will ich mal ganz ehrlich sein – mit dir & dir & im Grunde mit allen. Es ist mir ganz egal, was ihr wollt; es stimmt nämlich nicht – man kann sich im Leben noch so anstrengen, manche Dinge bleiben unmöglich, egal wie sehr man sie will. & das ist ok. Was ihr Scheitern nennt, ist bloß das Leben. Einer sagt A, & schlussfolgert B, aber B ist nicht die logischste aller Möglichkeiten. Wenn einer A sagt, hat er vielleicht schon das Z vor Augen, oder irgendein anderes Scheißalphabet; fuck, es gibt mehr Buchstaben als unsere. Wenn schon! Ich will wild sein & tobsuchten & ganz & gar unvernünftig sein in dieser Mode-Erscheinung namens Rationaler Gesellschaft, & dazu gehört eben, dass ich nicht beziehungskompatibel bin, wie ihr so sagt, dass ich nicht verliebt bin, sondern besessen. Jetzt grade find ich den Sexjuden toll, dem ich’s besorgt hab im Club, & ich find den Dramaturgen toll, den ich nicht haben kann, & ich find die blonde Queen toll, die ein Maulwerk hat wie ein Kesselflicker, aber immer meine Hand auf ihr Herz legt beim Löffelchenmachen; & ja, fuck, ich war besessen von dir, & manchmal bin ich’s noch, dann hol ich mir einen runter auf dich, nachts & morgens, & manchmal unter der Dusche, wenn alle rein wollen ins Bad & ich nur gleich fertig sagen kann, & dann dauert’s doch noch fünf Minuten länger, & ja, auch auf deinen Bruder, dessen Körper glatt & kalt war unter meinen Fingern, & manchmal denk ich auch an euch beide, & will euch wieder, besonders in den Nächten, wenn mir das Dunkel laut in die Augen steigt & mich blendet vor Gier, aber hey!, das ist alles verdammt noch mal ganz okay so, wie’s ist, denn du hast da nicht mehr Recht als ich, hast nicht mehr verstanden als ich, du hast nur eine andere Entscheidung getroffen, hast dich für die Liebe entschieden, die dich hoffentlich adelt, & wirklich, ich gönn’s dir, denn ich weiß, dass das funktionieren kann, aber bitte – bitte bitte bitte -, nenn mich nicht verbittert, nur weil ich euer Antipode bin, der trampelt & trampelt auf der andren Seite der Welt, der da tanzt. Denn weißt du was? Das ist eine Party, was ihr ein Erdbeben nennt. Das ist eine Möglichkeit, was ihr bemitleidet & beseufzt. Also trinken wir hier, & ich find deinen Typ da echt heiß, & ich denke, wir könnten jetzt echt viel Spaß haben, aber ich trink den Saft noch schnell leer & dann geh ich besser, weil das vermutlich ein bisschen zu viel war auf einmal… Nur eins noch: Es geht mir nicht immer gut, nein, aber das liegt nicht an diesen Entscheidungen, das liegt daran, dass ich krank bin, & manchmal hab ich einfach bestimmte Phasen, aber ich bin oft genauso glücklich, wie ich am Boden bin, & ja, ich weiß nicht, vielleicht folge ich einer dieser Launen auch mal bis zum Tod, & dann war’s das. Anyway. Ich will frei sein, frei von all diesem Altendenken & der Leere, die uns die Weisen in die Herzen geschüttet haben; von diesen zähgekauten Liebesphrasen & dem Müssenwollen. Ich will nicht hier sitzen & so tun, als wäre ich total in der Balance – ebenso wenig, wie ich das schwarze Schaf sein will. Es geht beides, es schlägt ein Pendel zur gleichen Zeit Glück & Unglück & in der Mitte & an den Rändern, da bin überall ich, & vielleicht funktioniert das nicht für immer. Aber ey, was funktioniert schon für immer?

Der Schlaf der Antipoden

Träge heben sich die Arme über einander & berühren Wände, Tapetenschatten, Rauhfasern. Die Augen weichen allem aus, bleiben schwer an der Decke, verunschärfen das Nahe. Immer nur hochschauen: Die Sonne wandert von links nach rechts, sie tanzt auf Büchern & Staub. Es ist immer hell. Auch nachts. Das Blinzeln fühlt sich so an, als hätte mir jemand Honig auf die Lider getropft. Das Runterschauen tut weh: das Buch in blauen Leinen. Auf all diesen Seiten stehn nichts als Liebesgedichte. Ist es das, das Leben, das man wollen soll? Ich bin nicht lange genug wach, um darüber nachzudenken, sinke ständig zurück ins Dämmern, ins Vergessen. Schlafen. Wachen. James Dean im Porsche Spyder – das ist nicht mehr. Stattdessen: Lana del Rey im Radio. Die Schreibmaschinen schweigen. Die Gedanken. Es gibt keinen, der bezeugen könnte, dass ich wirklich am Leben bin. Im Gegenteil, die ruhige, glückliche Stille, die sich über jeden Tag senkt, das Nichtserreichen, das Niemandsein – Lotophage werden -, es haucht mir alle Wörter gegen Glas. Ich probe ein Leben, von dem ich immer träumte. Eile Zügen nach, um sie in der letzten Sekunde noch zu erwischen. Nehme die Treppen statt des Fahrstuhls. Esse mit Stäbchen aus porzellanen Schälchen. Ich lache viel, setze Fett an – eine feiste Gemütlichkeit. Darüber wundert sich kaum einer. Viel lieber bestaunen sie meine grauen Haare. Wie alt bist du noch mal? 26. Bald 27. Das goldene Jahr, das letzte Jahr, sagen die Toten. Das Jahr, in dem man längst etwas hätte geschafft haben müssen, um es fulminant zu Grabe tragen zu können. Konjunktiv-Leben. Das ist es, was ich habe. Ich würde den Zügen nacheilen, wenn ich sie denn nehmen müsste. Könnte die Treppen nehmen, wenn der Fahrstuhl nicht bereits warten würde. Erstickte an Verniedlichungen. Traumsüß ziehen die Hände Nacht & Vorhänge zur Seite, & wieder ist Berlin in vollem Glanz.

Ich habe mir früher viel vorgestellt. Ich war ein Traumkönig. Mein Reich war auf Büchern gebaut, Sehnsüchten, auf viel Wollen & wenig Müssen. & die Realität? Ein fauler Zauber, etwas, das man überbrücken muss. Heute trinke ich koffeinhaltige Getränke & wundere mich über die Schlaftrunkenheit meiner Augen. Nur mein rechtes Bein wippt unermüdlich, es ist immer wach & am Leben. Immer in Bewegung. In zwei Wochen lasse ich es tätowieren. Ouroboros, der Selbstverzehrer: die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, einen Kreis schafft, eine unermüdliche Selbstumkreiselei. Ist es das, was Ich ist? Eine dauerhafte Krise? Selbstsabotage? Eine Geschichte der Abwesenheit.

Alltag & Ausreden, & ein großer Schluck aus dem kleinsten Becher. Jeder Tag brächte mir Glück, wenn ich ihn ließe. So gibt mir die Hand nur ein neues Kissen & ein paar Nebensätze, viele Anfänge, kaum ein Ende, & ich bin damit beschäftigt, beschäftigt zu sein. Richte mit Absagen Grüße aus, & beim Kommen mein Mitleid fürs Gehen; die Botschaften verlieren sich, werden zu eiligen Notizen. Was ist es, was man sich später weismachen will? Welches künftige Ich erzählt sich die Vergangenheit neu?, die Versäumnisse, die Möglichkeiten & nimmt sich selbst vorweg, was hätte kommen sollen? Wann schließt dir die Zeit alle Fenster & Türen, wann zeigt sie dir den Keller im Haus? Mit dem Rücken zur Wand esse ich Nüsse, & glaube ans Glück. An die Liebe glaub ich, eine Liebe, die spontan kommt, & wild, die mich nicht aus dem Bett stößt, weil sie hungrig ist, sondern die mich da behält, den ganzen Tag & die Nacht über, wenn die Nachbarn heiser sind vom Schreien nach Stille. Ich glaube an die Gewalt der Musik, die mich aus der Monotonie reißt, so als stieße mich jemand die Treppen hinab, denn im Fall noch ist es ein Leben, das wahr ist. Wahrer als die Gesichter morgens um sieben, mittags um eins. Ich will den Alkohol, der mich dumm macht & kindisch, & wenn ich aus der Nacht steige, durch Rauch & Passionsgeschwätz, dann ergebe ich mich nicht den Blicken, die sagen: Schau an, wie er lebt, wie er sich ins Unglück stürzt mit seinem Verhalten, denn das Unglück sind sie, ihre müden Augen, & Lippen, ihre Gespräche über Kaffeefilter & Wetterprognosen, das gewöhnliche Leben, das keine Höhen kennt, & keine Tiefen, sondern ein stetes, ein gleichbleibendes Kaufrauschleben, das auf der einen Seite voll wird & auf der anderen leer. Erzähl mir ruhig mehr über Kontoführungsgebühren, & Versicherungsbeiträge, & am Ende vom Essen zahlt man doch lieber getrennt. Wie sie die Ketten um einen legen, wie sie sagen: Du, das steht dir, das passt echt perfekt, & mittags hört man sich von Urlaubstagen sprechen, von Couchgarnituren & Teppichmustern, von der letzten Suppe & dem süßen Café an der Ecke. Dort rufen sie nach Kindern, deren Namen so klingen, als hätten sie sie im Ikea bestellt, & wenn die Kinder dann kommen, sind es doch nur Attrappen. Nein, das ist nicht das Alter oder Älterwerden. Es ist die Langeweile. Es ist die Angst vor Morgen. Jeder Tag ein weiteres Glied in der Kette & jede ein Gewicht in Füßen & Blick. Wach auf, sagt niemand. Auch nicht: Erinner dich. An was auch erinnern? 8 Stunden am Tag machen den Mund klein & die Gedanken überschaubar. Deswegen vergess ich so viel vom Künftigen. Nein. Das ist es nicht. Das ist es nie gewesen.

Die Wahrheit ist vielmehr, dass man sich betrügt. Dass man anfängt, daran zu glauben, was sie einem erzählen. Die Freunde, die im Restaurant das leckerste Essen bestellen & sagen, wie toll es ist, nicht mehr aufs Geld achten zu müssen. Die sich diese bestimmten Schuhe kaufen, die Uhr & Jacke, die Bücher & Schallplatten, die man schon immer wollte, & zu Hause dann, wo alles arrangiert wird & in Szene gesetzt, steht einem dieses Wunder rot & billig ins Gesicht geschrieben & die Augen laufen über vor Wollen. Das muss es sein, das bessere Leben. Man fängt irgendwann an, daran zu glauben, dass jedes Opfer zu groß ist – selbst das, was wir bringen müssen, um frei zu sein. Dass man besser nichts sagt, als etwas Falsches – & so sinken all die ungesagten Fehler ein ins goldene Schweigen, das alle bemüht sind zu wahren. Nur werden diese Fehler nicht vergessen. Irgendwer findet sie noch, später, findet in all der goldenen Stille endlich den großen Fuckup, vor dem wir so große Angst hatten.

Wenn nach & nach die Gewöhnung einsetzt, & die Hand das Kissen richtet, das einem im Nacken liegt, dann setzt der Schlaf ein, der Autopilot. Wir gehen uns ruhig aus dem Weg, ruhig & bedächtig, geduldig; wir haben ja nichts zu verlieren. Man wird älter. Kennt sich aus. Weiß, was einem schmeckt. Nur keine Sorge. Irgendwer wird’s schon richten, dieses chaotische, aus den Fugen geratene Leben. Dieses Finanzamtleben, das nichts weiter ist als eine simple Gleichung. Als ein bisschen Mathematik, Chemie & Idiotie. Ausreden & Alltag: Probeweise sich mit den kleinen Sachen abfinden. Nicht schlagfertig sein, aber effizient im Beantworten von E-Mails. Einen schlauen Kommentar zur Postmoderne haben, aber keine Bestimmung darin sehen. Fressen & fressen, die leeren Pistazienschalen aufeinander stapeln, warten. Seit Tagen & Wochen warte ich darauf, dass mir die leeren Schalen vom Teller rutschen, nur passiert einfach nichts. Ich habe mich ganz & gar in meine Augen zurückgezogen, in einen Mund, der antwortet, wenn er muss, & der küsst, wenn er darf, in ein Herz, das nicht weiß, was es will. Außer freisein. Frei, frei, & immer frei. Ich beiße mir auf die Lippen beim Trinken, damit ich mich endlich an diesem ruhigen, stillen Leben verschlucken kann, das ich mir selbst eingeschenkt habe, weil ich darauf hören musste, was mir andere sagen. Die Eltern, die sich seit Jahren im Unglück eingerichtet haben, im Vogelkäfighaus, der unschuldigen Verbitterung der vertanen Chancen, & die nicht müde werden, als erstes nach dem Wohlergehen zu fragen, & dann gleich danach nach dem Geld auf dem Konto. Am Telephon wird so mancher völlig unsichtbar in seinem Kummer, weil die Stimme nicht bricht im entscheidenden Moment, & so geht’s dir dann eben, ganz gut, ich kann mich nicht beklagen. Glücklichsein klingt anders. Dabei sind auch das nur Ausreden, Ausreden, immerzu. Denn es sind weder die Freunde, noch die Eltern, die sich dafür entscheiden, sondern du bist es ganz & gar selbst. Diese Schwäche ist menschlich. Diese Schuldzuweisung. Dieses Es-besser-wissen-&-trotzdem-nicht-anders-Handeln. Wir sind uns darin alle gleich.

Ich will mir die Fingerkuppen aufreißen beim Brechen der Nüsse, will mir die Knie wund & wunder stoßen beim Tanzen & Gehen, will mit einer Handbewegung alles vom Tisch wischen, was mir gehört, den ganzen Tisch aus dem Fenster & die Erwartungen hinter her. Letztlich geht’s nur ums Wollen. Um die Konsequenzen. Wie nicht inmitten der S-Bahn den Mut finden zum Kuss, dem letzten des Tages, & dann mit gradem Rücken stolz die Treppen hinunter gehen, wo sie alle stehen, & überlegen denken: Da sind sie, die Entscheidungen, zu denen ich später noch stehen werde. Freisein. Frei. & nicht mehr nur der Zeuge des eigenen Lebens. Ganz sein. Überall sein. Ein Gott zwischen Göttern.