A –
Stell dir ein Land vor, über das niemand herrscht. Ein Königreich ohne Könige, da will niemand deinen erstgeborenen Sohn. Stell dir vor, alle Tempel sind verfallen, die Kirchen sind leer. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch & schaut hungrig durch ihr schwarzes Haar. Stell dir vor, es wäre egal, wie viel du verdienst, aber nicht, wer du bist. Ich meine, sagt sie, ist es nicht völlig absurd, dass wir noch immer Unterschiede machen – zwischen dir & mir, zwischen Frau & Mann, zwischen Sex & Sex. Wie kann eine Gesellschaft, der das Individuum so sehr am Herzen liegt wie unserer, gleichzeitig so hartnäckig durch anderer Menschen Schlüssellöcher schauen wollen? & was sie da nicht alles sehen & verurteilen… Wer heute einen Schwanz in den Mund nimmt, muss knien – ein ganzes Leben lang. Die Frauen vor Dankbarkeit, die Homos vor Scham. Warum überlebt sich so ein Denken nicht?
B –
Weil es zu anstrengend wäre, eigene Werte zu schaffen, also besinnt man sich vielmehr auf die ehernen Gesetze des Patriarchats, da wird kurzerhand die Mutter aus dem Gebot gestrichen, man ehrt die Väter, die allwissenden, die abwesenden, die gütig über uns zu Gericht sitzen wie Götter. Wer, wenn nicht Wir wissen, was gut für euch ist? Hat denn niemand begriffen, wie sehr sie sich ähneln, diese männlichen Gesellschaftsbilder? Sie verschleiern dich & schicken dich fünf Meter hinter sich, weil das ihr Wille ist; sie machen deine Röcke kürzer & dein Gesicht ganz bunt, weil das ihre Freiheit ist; sie verkaufen dir Schönheit, Liebe, Glück, weil sie was vom Marketing verstehen. Es ist völlig egal, ob es die fundamentalen Kapitalisten sind, die ihre Frauen nackt über die Catwalks jagen, weil sie Nacktheit als Zeichen der Selbstbestimmung verkaufen, oder die fundamental Religiösen, die ihren Frauen jedes Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Am Ende, da entscheidet immer nur der Mann. So hat die AfD beispielsweise mit Salafisten mehr gemein als ihr lieb ist: Diese wie jene dulden weder alleinerziehende Mütter, Feminist*innen noch lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle & queere Menschen.
Die Wut der Stammtisch-Besorgten schwappt in gestammelten Worten
aus ihren Gläsern, aus den Kneipen auf die Straßen allerorten
vielleicht wär es leicht die wahren Gründe zu ergründen
doch viel leichter ist es immer noch ’n Sündenbock zu finden*
C –
Wenn die ARD einer Partei wie der AfD ein Zusatzwort wie populistisch streicht, verschiebt sie die Wahrnehmung. & es sind die kleinen Verschiebungen, die von der Mehrheit nicht bemerkt werden, die am Ende die großen Katastrophen nach sich ziehen. Wenn der Deutschtürke, der seit drei Generationen in Deutschland lebt – der Deutscher ist, & Türke –, sagt, er wolle weg aus Deutschland, denn das Land sei nicht mehr sicher… Wenn die Intellektuellen in ihren Elfenbeintürmen entsetzt aufhorchen, wenn auf AfD-Kundgebungen plötzlich Nietzsche zitiert wird (Was fällt, das muss man stoßen), aber die, die an der vordersten Front sitzen, schon seit Jahren ungehört um Hilfe rufen. Wenn Autos auf offener Straße stehen bleiben, um dem schwulen Pärchen Schwuchteln nachzuschreien. Wenn türkischen Frauen auf offener Straße die Hidschābs von den Köpfen gezerrt werden. Wenn in Hausfluren & an Straßenlaternen plötzlich Hakenkreuze auftauchen, Parolen, rechte Reden – überall –, die wie Gift ins Grundwasser sickern, in die abgestandenen Diskussionsrunden der Altvorderen, die nicht mehr wissen, was sie sagen sollen angesichts des moralischen Versagens der sogenannten Leitkultur des Deutschen Volkes. Wenn das Thema Politik am Tisch schnell tot ge-schhhht wird, weil über Politik redet man nicht, man streitet bloß, aber streiten will in diesem Land eigentlich auch niemand mehr. Man will nur Recht behalten.
Also fackeln sie nicht lang, nehmen die Fackeln in die Hand
jede Woche steht ein neues Asylantenheim in Brand
der Applaus treibt Söder, Seehofer & Scheuer hinters Pult
aber wer mit Worten zündelt, trägt am Feuer seine Schuld*
D –
Also, was tun, sagt sie & nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer viel zu kleinen Tasse & schaut in die Runde. Alle Probleme, seit Jahren thematisiert, fallen eins dem andren nach & uns auf die Füße. Aufstehen, sagt Patrice & lächelt. Nicht aufgeben, sagt Andrew & steckt sich die Zigarette an. Wir müssen tun, was wir am besten können, sagt Mathilde; ihre Augen sind groß & blau & strahlen im Licht. Unser Boden: Ein Wurzelgeflecht der Wut. Unsere Luft: Der Mief der Enttäuschten. Wir gehen mittig auf der Straße, hinter uns schwenken sie große Regenbogenfahnen. Fahrradklingeln, Autohupen. Ich höre Trommeln. Gerade jetzt, sagt sie & legt drei Euro auf die Untertasse, gerade jetzt ist es wichtig, das Ausmaß zu verstehen. Wir haben zu lange gewartet, zu lange gehofft, uns zu lange abgelenkt. Es ist Zeit, Position zu beziehen. Zeit, sich zu entscheiden. Neue Werte zu formen, sagt sie. Eine Meinung. Es ist Zeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Verbindungen zu schaffen. Wir brauchen Gegengewichte. Brauchen die Homos genauso wie jede*n Feminist*in, wir brauchen die wütenden Drag Queens, die alleinerziehenden Papas, die Flüchtlinge – wir brauchen sie alle, die glücklichen Familien & die unglücklichen Singles – denn alle, wir inklusive, müssen verstehen, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. & das ist nicht nur unsere Menschlichkeit oder die sogenannte Zukunft unserer Kinder. Es ist noch nicht mal die Demokratie. Es ist alles, was Wir ist & Wir sagt, es ist die Gesellschaft selbst. & wer das noch nicht begriffen hat, den wird der heraufziehende Sturm noch früh genug aus dem Schlaf reißen.
*Wir sind alle nicht von hier – Jennifer Rostock