Das Wespennest

1.
Nein. Damit beginnt es. Mit einem Nein.

2.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsse mein ganzes Leben lang Nein sagen. Nein zu Plastiktüten an der Supermarktkasse. Nein zu Fleisch & Fisch & Milchprodukten & Eiern. Nein zu Rassismus, zu Sexismus, zu Homophobie. Nein zur Verschwendung. Nein zum Konsum. Nein. Ein Wort wie eine geschlossene Tür. In Wahrheit aber, da bejahe ich mehr als ich verneine. Jeden Morgen, beim Blick in den Spiegel. Wenn Leute ins Zugabteil drängen statt den anderen den Vortritt beim Aussteigen zu lassen. Bei der Überweisung meines Gehalts. Ich bejahe indem ich schweige. Ich habe lange bejaht. Ich habe lange geschwiegen.

3.
Ich habe lange akzeptiert, was ich mache. Seit (fast) fünf Jahren berufstätig & zufrieden damit. Zufrieden, weil ich gut verdiene. Weil meine Kollegen nett sind & Humor haben & lachen können. Weil ich habe, was ich wollte: Verantwortung, Einfluss, Geld. Das war nicht immer so.

Ich habe erst in dem einen Start-up gearbeitet – bin dort unglücklich gewesen, habe gekündigt –, & dann bei einem anderen Start-up angefangen bis dieses bankrott ging, um bei einem dritten Start-up anzufangen. Ich saß erst in kleinen Räumen, dann in großen. War Individuum, war Team, war niemand. & stieg in der Hierarchie der Niemande langsam nach oben. In einem Königreich ohne Könige, in einer götterlosen Welt habe ich meine Opfer gebracht – für Menschen ohne Gesichter & ohne Namen, für Geld. Ich habe mich jeden Morgen vor Kaffeemaschinen & Windows-Startbildschirmen verbeugt – aus Dankbarkeit. Das ist, was man mir beigebracht hat. Sei dankbar, denn du hast einen Job, du verdienst gutes Geld, du kannst deine Rechnungen bezahlen, deine Miete, deine Schulden, dein Dispo. Du kannst in den Urlaub fahren. Dinge kaufen. Du bist wer. Oder eigentlich: Du bist Niemand.

Niemand ohne Zeit & ohne Ambitionen.

& ich habe bejaht & ich habe geschwiegen & ich habe mir Dinge gekauft & die Rechnungen bezahlt, meine Miete, die Schulden. Jeden Monat: mehr Dinge, mehr Rechnungen, mehr Schulden. Mehr Arbeit. Ich saß morgens & mittags & abends bis spät in die Nacht & ich saß am Wochenende vor Bildschirmen & an Feiertagen & ich saß unter Neonröhren, im Halbschatten & im Gegenlicht einer Hinterhofsonne & ich habe geschrieben & geschrieben & geschrieben, immer hab ich geschrieben, denn das ist, was ich mache. Ich schreibe.

4.
Ich bin erst Junior Editor gewesen, dann Editor, dann Senior Editor. Jetzt bin ich Executive Senior Editor. Das klingt wichtig, ist es vielleicht auch. In Wahrheit ist es ganz egal.

Ich habe schon immer geschrieben, als Kind & Jugendlicher, lange bevor die Bücher kamen, & seit Jahren bin ich morgens mit dem Bewusstsein aufgewacht, schreiben zu müssen. Also hab ich geschrieben. Man sagte mir, ich solle dankbar dafür sein, mein Hobby mir zum Beruf gemacht zu haben. & wie dankbar bin ich gewesen für all diese Junggesellenabschiedsreisen nach Bulgarien oder Litauen, für die Darmspülungen, Maniküren & Pediküren & Media-Markt-Gutscheine, für die BILD-Werbung & den ersten Newsletter, für LED-Kerzen & Katzenfutter & Vogelkäfige & Schmuckkataloge & Designer-Uhren & all dieses Zeug; ich habe mir die Dankbarkeit antrainiert wie man dem Hund das Sabbern antrainiert beim Klingeln der Glocke. Ich habe Werbung gemacht, ich weiß nicht für wen oder weswegen. & die anderen nannten das mein Schreiben & ein ganz stilles, ganz eigenes Glück. Jeder musste mich regelmäßig an dieses Glück erinnern.

5.
Dienstag, 24.02.2015, 10:32 Uhr. Irgendein Restaurant in Berlin, irgendein Gutschein, irgendein Produkt. Es ist völlig austauschbar, was ich auf dem Bildschirm sehe. Die Zeit der Namen ist vorbei. Nein, denk ich. Nein, & dieses Wort wischt mir plötzlich die Finger von der Tastatur. Das ist es nicht. Das war es nie. Ich will schreiben. Ich will schreiben. Ich will schreiben. Mir steigt Gewalt in die Augen. Ich will das alles kaputtschlagen. Laut: Nein. Lauter: Nein!

Ich habe zu lange geschwiegen.

6.
Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht? Hobby? Als würde ich Briefmarken sammeln. Als wäre es bloß eine Beschäftigung für meine Hände. Wie Stricken. Das ist es nicht. Das Schreiben ist mir kein Hobby. Es ist mein Beruf. Meine Berufung. Mein Schicksal.

Ich schreibe.
& dies hier ist mein Manifest:

I.
Ich bin kein Werbetexter, kein Blogger, kein Schreiberling. Ich bin kein Executive Senior Editor. Ich bin Schriftsteller. Ich erzähle Geschichten, ja, & schreibe Gedichte, & ich bringe Menschen in Aufruhr damit & ich bringe sie zum Lachen & Heulen & ich jage ihnen Angst ein, wenn ich muss, & ja, nichts ist real & nein, alles ist real, & ich weiß, da sind Menschen, die arbeiten mit ihren Körpern, die pflücken Baumwolle & ernten Gemüse & die sind unter Tage & sitzen in lichtlosen Kellern & nähen Turnschuhe & ich weiß, da sind Menschen, die hungern & leiden & die sterben im Krieg – aber ich bin nicht weniger als die. Ich bin etwas anderes. & ich bin stolz. Denn das, was ich schreibe, macht Menschen fühlen. Macht sie sehen & hören & schmecken & riechen. Das, was ich schaffe, ist nicht weniger wert als ihre Hochöfen & Aktenschränke & Schaufeln & Herdplatten. Es ist nur etwas anderes.

II.
Sie sagen, ich solle einfach weiter schreiben, meine Geschichten halt erzählen. Aber meine Rechnungen bezahlen wollen sie nicht. Sie sagen, ich müsse eben Kompromisse eingehen. Keiner könne einfach so davon leben, es müsse ja Zwischenlösungen geben. Warum aber, frage ich mich, muss ich Kompromisse machen? Macht der Konditor Kompromisse & wäscht anderer Leute Wäsche? Braucht der Friseur eine Zwischenlösung & wischt in Großbureaus die Böden & Fenster? Warum brauche ich Mut zum Schreiben, wenn sonst keiner Mut für seine Arbeit braucht? Warum muss ich dafür kämpfen & sie nicht? Weil es weniger wert ist?

Sie sagen, ich solle es nebenher machen. Solle mich nach meinen 10, 11, 12 Stunden im Bureau noch schnell hinsetzen & mein Zeug erzählen, weil es andere auch so machen, & diese anderen haben’s ja schon viel besser gewusst als ich: So & nicht anders soll es sein, bitte. Also sitze ich mit roten Augen vor dem Bildschirm, nachts, es geht gegen 1, & mache, was ich kann, komm, lass mich, ich kann bald nicht mehr, & es geht nicht so schnell & schon gar nicht so einfach, wenn du am nächsten Tag wieder über Steakhäuser schreiben musst, über Thai-Restaurants & Currywurstbuden, & 10 Stunden ziehen sich & gegessen hast du auch noch nichts, & sie sagen: Das ist eben der Preis, den jeder Künstler zahlen muss, oder willst du nichts erreichen, du weißt doch: nichts ist umsonst, & ihre Stimmen sind hohl wie Glocken.

Hört ihr denn nicht, was ihr da sagt? Soll denn der Architekt nebenher seine Häuser konstruieren? Der Arzt nebenher ein Herz verpflanzen? Versteht ihr denn die Tragweite nicht? Ihr streut Salz auf fruchtbare Böden & wundert euch, dass da nichts wächst.

III.
Nein, ich bettle nicht.
Ich bettle nicht um Geld.
Ich bettle nicht um Anerkennung.
Oder Fame. Oder Zeug.
Ich bettle nicht, weil die Vögel nicht betteln, um zu fliegen.
Nein.
Das ist der Anfang.

Brandstifter

Wenn du mich ansiehst, wenn du mich ansiehst, & das tust du häufig, was siehst du dann?

Ich küsse dich an der Tür, als würden wir uns so schnell nicht wiedersehen, als müssten wir getrennt bleiben für einige Wochen & Monate, als trennten uns Jahre. Dabei sind es nur wenige Stunden. & ich vermisse dich. Das ist Liebe. Ich liebe dich, ja. & ich fürchte mich. Das hat uns keiner beigebracht. Was es heißt, zu lieben, mein ich. Sie haben die Liebe beworben wie Waschmittel, als ob sie uns reinigt. Tut sie nicht. Die Liebe verfärbt die Wäsche, sie ist ein pinker Fleck im vielen Weiß, ein Weinfleck vielleicht. Da ist deine Hand in meiner Hand. Dein Lächeln.

Nein. Anders. Es ist anders. Wie? Ich sitze am Tisch, der nachts fast schwarz ist, & höre Amanda Palmer & kreise um die Bilder – da ist der Käse, der lange Fäden zieht in deinem Essen, die Mayotube neben dem Salzglas, & da bist du auf der Matratze, den Nintendo DS auf dem Schoß, fluchend, & später liege ich bei dir – dein Kopf auf meiner Brust, & dein Herz wie ein Hammer –, & wenn wir lachen, lachen wir laut & die Fenster zittern unsretwegen, & wenn du würzt, dann immer zu viel, & deine Augen sind weit & tief & manchmal siehst du mich ganz verwundert an, so, als wäre ich gerade eben noch nicht da gewesen, & – ist es das? Du. Ich. Wir halten uns fest, wir verknoten einander, wir – nein, es reicht nicht. Ich gehe wütend um die Wörter. Sie sind zu klein. Sie passen nicht mehr. Was denn noch? Meine Mutter am Telefon weiß gar nicht, was ich meine.

Dabei will ich doch erzählen können, was passiert – mit uns. Will festhalten, fixieren. Meine Hände auf deiner Haut, dein milchkaffeener Rücken: Die Hitze, die zwischen uns ist, die Kissen im Nacken. Da ist Sonnenlicht, das von links kommt, zwischen die Häusern fällt es uns ins geöffnete Fenster & gleißt, & dein schwarzes Haar, wie Sturmwolken, leuchtet kräuselnd, brennt ein Muster in deine Stirn, & meine Finger zwirbeln die Locken. Die Sonne, diebisch, nimmt uns die Schatten. Sie tunkt meinen weißen Bauch in Gold, dein verwundertes Lächeln. Wenn wir uns drehen, dreht sich die Welt. Nein. Es ist nicht genug. Weiter. Mehr: Nachts & tags & in den Stunden dazwischen – sind wir. Ewig. Die Dinge: Eine Decke, zurückgeschlagen. Eine Wasserflasche geht stumm von einer Hand zur nächsten. Die Socken, die wir uns teilen. Die Milch, die stets knapp ist. Der Slalom am Morgen. Deine Suche nach dem schwarzen Schal, dem Handy, der Brille. Von Tag zu Tag gehn wir tobend, rollen über den Boden, jagen uns durch die Küche. Ich kitzle dich bis du schreist vor Lachen, & wenn du traurig bist, halte ich dich, halte dich fest, solange es geht. In dieser Liebe, die wie ein Sturm ist, eine Naturgewalt, die alles aus den Fugen reißt, schlage ich ein wie Blitze; ich entfache alles, was ich berühre. Verbrenne alles. Dich. Mich. Uns.

Sie werden über uns schreiben, sag ich. Später. Sie werden es versuchen – mit all den Wörtern, die nicht groß genug sind für uns beide. Am Anfang, heißt es dann, waren sie wie Kinder. & später? Wie Brandstifter. Vielleicht wird es reichen.

re: Umzug

Ich sitze am Tisch, der blau ist wie die Nacht, & lege den Kopf, der schwer ist, auf die Hände, die leicht sind, & höre R.s Lied, ich habe es so viele Male schon gehört, & erinnere mich an R., an seine vielen Finger, das Klavier. Ich erinnere mich an einen Herbst, der sommers war, & im Regen bereits ein Winter.

Wie verliert sich der Tag – in Decken gewickelt, die Füße in zwei Paar Socken, da ist Schimmel im Bad, & der Tee wird kalt;

mittags stehe ich am Herd & lese Hilde Domins Gedichte, ich lese sie laut, die Gnocchi knistern in der Pfanne wie Folie, & ich gehe durch die Zimmer, die jetzt noch erfüllt sind von Leben, wie lange noch? P. zieht aus, es ist eine Frage der Zeit. J. zieht aus, vermutlich im Mai. Die Transitzone ist – zwei Meter Boden zwischen zwei Treppenaufgängen –, ein Zustand ohne Grenzen. Da liegt Bettwäsche, Socken & T-Shirts, Gleitgel in der Flasche. Auf den Gedichten liegt Staub.

Seltsam, wie viele verschiedene Leben man führt, wie oft man sich verändert. Traurigkeit, dein Zellgift kommt nachts. Ich vermisse R., plötzlich & heftig, vermisse sein trauriges Lächeln, seine Konzerte. Wie der ankam & strahlte, wie sein Flackern heller war als mancher Tag, & wie er wieder ging. Israel, deine Träume, sind flüchtig. Da gab es mal eine Zeit,… ich erinnere mich ans Kibbuz, an all das Salz auf der Haut. & daneben: Don, einer von denen, der saß neben mir & teilte sein Bier & die Liste, seine Liste, wird immer kleiner im Portemonnaie; ich streiche noch immer Bolaños Titel aus, ja, sie alle gehören bald mir, & ich höre R.s Lied & frage mich, was er gerade macht, wem er lächelt, wen er vermisst, & nippe am Tee, der kalt ist.

Es ist alles in Unordnung, die Wohnung, das Denken, ich weiß nicht, weshalb, oder: vielleicht weiß ich es genau, & will es nicht wissen. Was bleibt? In R.s Lied gehe ich ziellos durch die Zimmer, drehe an Heizungsreglern, öffne Fenster. Das hier, das verweht mir zwischen den Fingern: Stühle, die gestern noch fremd waren, sind morgen bereits fort, diese Pflanzen, diese Teller. Ich versuche mir die Wohnung vorzustellen, wie sie sein wird, wie sie werden muss: Bunte Decken & Kissen, ein neuer Teppich hier, ein neues Bild dort, ein neues Bett & neue Lampen; ich bilde mir ein, ich könne mein Zuhause neu erfinden, & warum nicht?

Ich spiele am Radio.

Möglich, dass alles erst mal schwer wird. Vor allem die Sache mit dem Geld, denn daran scheitere ich ja meistens. Unmöglich hingegen ist es nicht. Ich sehe mich auf einer Leiter, die Haare weiß, die Finger bunt, mit einem dieser Pinsel, die viel zu lang sind, um sie anständig halten zu können. Ich sehe Pflanzen, dick, mit satt-grünen Blättern, in wuchtigen Töpfen. Ich sehe mehr Platz, einen anderen Platz, der sich auch wie Platz anfühlt: Raum zur Gestaltung. & dahinter: einen neuen Frühling. Durch die Fenster fällt die Sonne nach drinnen & Musik nach draußen, ich sehe mich schreiben. Anderes, ein Kapitel mit zwei Zahlen. Vielleicht tanzt hier wer. Ein Sprung zur Seite: Das ist noch immer mein Zuhause.

Wie leicht die Füße plötzlich sind. Die Erkenntnis kommt plötzlich, so, als würde ich stolpern. Die Angst, merke ich, ist etwas Organisches, sie kennt Zähne & Zunge, sie kennt Magen & Darm: Die Angst beißt sich von drinnen nach draußen, & nistet im Herzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne die Angst durch bloße Annäherung austreiben; sich der Angst auszusetzen hieße, sie zu überwinden. Es ist generell ein Irrtum anzunehmen, die Angst ließe sich überwinden. Man muss eins werden mit der Angst, man muss sie zu sich nehmen, zerkauen, man muss sie verdauen. Die Eigenschaft der Angst muss man sich zu eigen machen.

Weiter.
Ich gehe weiter, durch das Chaos, das Flüchtlingslager. Das, sag’s dir, ist, was du willst. & was ich wollte: Unbändigkeit. Ich sammle die Socken auf, die Handtücher vom Haken, ich gehe hustend, denn die Lunge rasselt von der letzten Erkältung, & lege den Cloud Atlas, den ich gerade lese, neben Amanda Palmers The Art of Asking, auf das ich mich bereits freue. Ich denke an das Interview mit Kurt, das noch zu transkribieren ist, & an das fünfte Unterkapitel vom Strich, da ist noch viel zu tun, ja, ich weiß. Ich arbeite dran. Mein Zuhause, denk ich, sind nicht nur diese Räume; nicht nur die Stadt, die mehr denn je wie ein Geschenk ist; ich selbst bin mir Zuhause, die Dinge, die ich will, die ich mache. Plötzlich: Das Gefühl von Angekommensein. Ich stelle neues Teewasser auf den Herd. Das ist erst der Anfang.

Die Gezeichnete

Wen die Liebe berührt, der ist gezeichnet von den Göttern, sagt sie & rührt sich neuen Zucker in die Tasse. Lena hat sich die Haare zusammengebunden, heute; sie sieht anders aus in ihrem weißen Kleid, wie neugeboren. Sie trägt goldene Ohrringe, die klimpern sobald sie den Kopf dreht, kleine goldene Trauben an dünnen Schnürchen, sie glitzern hell, ein Sommer ohne Nächte, & an der linken Hand trägt sie noch den Ring: Zwei feine Goldbänder, sachte verknotet miteinander, es sieht so aus, als könne sich der Knoten jederzeit lösen, & von einem grünen Stein gekrönt – ein Smaragd vielleicht, das ist jedenfalls der einzige grüne Edelstein, der mir gerade einfällt –, makellos.

Seit dem Unfall, über den wir beide schweigen, war Lena lange Zeit nicht ansprechbar, sie wollte nicht reden. & jetzt, ein halbes Jahr später, sitzen wir hier plötzlich, in der Tucholsky in einem Café, sie vor ihrem grünen Tee, ich mit der Espressotasse am Mund, & sie sagt: Sag mir, was du siehst. Was soll ich schon sehen? Du bist wunderschön. Nein. Oder: okay, danke, ja, sie lächelt, vielleicht. Das mein ich aber nicht. Sieh mir in die Augen. Da sind sie, zwei Opale: gleißend im Licht des Cafés, das eigentlich viel zu schummrig ist, aber ihre Augen – die sind grün & blau & golden gepunktet, Lena hat Augen wie Sterne, die blinzelt Universen. & jetzt? Jetzt sag mir, was du siehst, & ich stelle die Tasse zurück auf die Untertasse, raschelnd: die aufgerissene Keksverpackung daneben, & der Löffel klirrt auf dem Tisch, & ich sehe sie an.

Da ist mehr als die Symmetrie ihrer Gesichtszüge, mehr als die buschigen, dunkelbraunen Augenbrauen & die dichten Wimpern, mehr als ihre sanfte Oberlippe, die ein bisschen größer ist als ihre Unterlippe – das verleiht ihr stets den Ausdruck, als wolle sie gleich etwas sagen –, & mehr als die Narbe am Kinn, rötlich wie eine Schmarre, eine Schürfwunde, könnte man denken, von einem Fahrradunfall vielleicht, einem Stolpern auf vereisten Treppen. Ich sehe ihr ins Gesicht, das oval ist, eingerahmt von lockigen, blonden Haaren, & in ihre Augen, Augen so tief, so endlos, ein Stürzen ist in diesen Augen, & ich sehe Lena, sehe den senfgelben Seidenschal, den sie heute locker um den Hals trägt, der ist aus Kalkutta, das weiß ich genau, & das dunkelbraune Shirt – ein halbrunder Kragen, gemustert mit weißen Rauten –, & die beige Cordhose mit goldenen Knöpfen, sie stammen beide aus Paris, aber das ist es nicht, das ist nicht der Mensch. Ich stürze ihr nach in die Augen, durch grüne Meere & blaue Sonnen, ins Gold, &…

Sag mir, was du siehst.

Da sind Bilder, flüchtig, wie wenn einer aus einem fahrenden Zug auf vorüberrauschende Menschen sieht, Lichter. Das ist unmöglich zu beschreiben, sag ich, & die Stimme, die sich als meine ausgibt, zögert. Sag, was du siehst.

Eine rote Schaukel, wippend gegen zweierlei Himmel: Den Rasen unter den Füßen & die Wolken über dem Dach, & im Hintergrund geht das Schilf, wiegend im Wind, & das Wasser geht mit, geht mit dem Wind in Richtung der Sonne, wo er steht, ein Junge, der zu groß für seine Kleider ist, mit dürren, langen Beinen & knubbligen Knien, der sich umdreht zu ihr, er steht am Ufer & winkt, winkt sie zu sich, Lena, komm, & in der Schule sitzen sie nebeneinander, ein Lächeln wirft er ihr über die Schulter, der Papierkugel wirft er sich nach, & da sind drei Kästchen, ein Ja, ein Nein, ein Du musst dich entscheiden, & der rote Stabilo malt ein Herz in eine Box aus blauen Strichen, & am Beckenrand, Lena, komm, Wasser spritzt auf als sprengten sie Bomben, baumeln ihre Füße neben seinen & er, größer jetzt, nimmt mit der Fingerspitze den Rest Curryketchup vom Pappteller & streicht ihn ihr auf den Handrücken, sie lacht, sie kreischt, sie springt ihm ins Wasser, & er springt ihr nach in die Nacht, & sagt: Ich liebe dich, & sie, weinend, setzt sich auf die Schaukel, die nicht mehr rot ist, sondern rosa, & sieht ihn an, sein Gesicht ist im Schatten, aber seine Augen – sie sind wie ihre: Zwillingssterne – glühend – sirrend wie Polizeisirenen – & dann ist er fort, in einer anderen Stadt, & sie? Sie geht durch krumme Straßen, die alt sind, die schon immer alt waren, hier ging Hölderlin im Wahn, hier hat Goethe gekotzt, & ein Giebel neigt sich schief gegen den nächsten & sie lacht zum ersten Mal seit dem Abi lacht sie wieder, im Arm von einer Frau, die ihr rotes Haar geflochten trägt bis über die Schultern, Lena, komm, & sie hält die Gläser unter den Zapfhahn, einmal, zweimal, sie schläft schlecht, das Zimmer ist zu klein, die Wände sind dünn, neben ihr: die Frauen & Männer, die so tun, als wären sie erwachsen, ein Stift schreibt Zahlen auf gelbes Papier, 2,50, 9,30, ein grauer Lumpen wischt das Bier vom Boden, draußen: Lichter & Farben, Schnee & fallendes Laub, & die Zahlen werden mehr & werden dichter, & die Wände, die dünn waren, werden jetzt dicker mit Bildern: Da sind Gesichter, lachend, da sind Bücher, die geknickten Seiten, ein Zitat an der Tür: Wen der Strahl der ersten reinen Liebe berührt hat, der ist gezeichnet mit einem göttlichen Scheine vor den Menschen, & sie packt ihre Koffer, erst ein, dann aus, & der Schrank quietscht, das tut weh in den Ohren, aber die Aussicht ist herrlich, sie sieht die Kirche & auch das Café vom Fenster aus, die Stadt ist weit, da sind überall Dächer, überall Kamine, im Winter: der Rauch, & sie steht auf der Straße, da dreht sie die Hand & die Hand, die gehört ihm, die gehört einem Mann mit Schnurrbart & schmalen Lippen, der lächelt jetzt ein breites Grinsen, Lena? & sie rennen, schau wie sie rennen, sie schieben die Koffer nebeneinander in die Abstellkammer, die sie ihre Wohnung nennen, & sie stapeln die Bücher & zählen Zahlen, 500, 700, eine Madarine zwischen ihren Händen, sie verschwindet in ihrer Manteltasche, & er rennt ihr nach & sie lacht & die Seine ist grau an diesem Mittwoch & die Seine ist golden im Herbst, Farben & Lichter & der Schnee, der unvermutet kommt, deckt ihre Kleider, & sie weint als er geht, weint viele Abende, dann geht sie auch, kehrt zurück zur Schaukel, die weiß ist, deren Holz langsam bricht, die quietscht wie der Schrank, & sie sitzt am See & dreht sich den Himmel grün & den Boden blau & hört ihren Namen, denn er – er! ist hier, & sie lacht & er lacht & die Liebe berührt beide. Sie leuchten.

Da sind Kisten, mit schiefen Buchstaben nummeriert, die gehen von einer Wohnung zur nächsten, sie legt die Wäsche zusammen, eine Unterhose zwischen ihren Händen, & er, den Kochlöffel in der Hand, neigt seinen Kopf aus der Tür, Lena, komm, & Berlin ist so kalt, kurz: Kalkutta als Folie, als Aussicht auf ein Leben in currygelbem Staub, & sie kehrt zurück mit roten Lippen & einem Anhänger aus Gold um den Hals – eine Göttin mit vier Armen –, & er wartet, öffnet ihr die Tür & den Reißverschluss & küsst sie auf beiden Wangen & die Welt wirbelt: Die Regale, die Kommoden, die Teppiche, die nackten weißen Wände, aus deren Poren sprudeln die Farben & Bilder blühen, & die Böden decken die Kissen, bunt wird der Winter & der Frühling spendet die Blumen, sie sieht sich in Spiegeln, in Schaufenstern, sie sieht sich stets lachend, stets im Licht, sie sieht sich neben ihm & er, der neben ihr ist, fasst sie an der Hand & sie gehen nach links, wo das Herz ist & sitzen nebeneinander in Kinosälen, in Theaterstücken, Applaus kommt rauschend von den Rängen, & sie, an ihn gelehnt, & er, im Halbschlaf, ich liebe dich, & der Ring, der aus der Manteltasche gezogen wird als wäre er Teil eines Zaubertricks: Hier steht sie vor dem Spiegel, richtet den Schleier, sie schneiden die Torte, Blumenmädchen streuen Rosenblüten & über ihnen: die Sonne als Versprechen auf glückliche Tage, & zusammen sind sie im Auto, es ist rot & es ist schnell & der Regen, der niedergeht, der plötzlich kommt, ein Sommergewitter ohne Vorwarnung, flappt nach rechts in die Leere, die Scheibenwischer sind laut, das Wasser verschmiert die Lichter, die Ampeln, die Häuser am Rand, sie biegen nach rechts, & die Welt zittert plötzlich, überschlägt sich, stößt sie nach vorn & ihn aus ihren Augen, alles zerspringt zu Scherben, fegt über sie hinweg ins Dunkel, & als sie aufwacht, sind Schläuche in ihren Armen, da sind Bandagen & Krankenschwestern mit grauen Gesichtern, die neigen sich nur zur Hälfte nach unten, die sprechen von oben, weil oben ist besser als unten, aber unten ist sie, & das Bett, weiß bezogen, ist fleckig & kalt & das Zimmer ist dunkel. Sie ist allein.

Später kommen mehr Menschen, meist ältere, die nicken als zöge sie einer an Schnüren, die legen ihr die Hände auf die Finger & lächelnd krumm, blinzeln langsam, als koste es Mühe zu blinzeln, & sie schreit, sie wirft ihre Arme nach oben, reißt Infusionsbeutel um, sie schreit & schreit, bis eine Krankenschwester kommt, die gibt ihr eine Spritze, dann wird der Raum wieder wattig & ruhig, & die Träume, die folgen, sind alle schwarz-weiß. Da ist erst ein Rollstuhl, dann sind da Krücken, sie geht an Stangen, sie rollt sich auf Bällen, sie stemmt sich gegen den Boden, gegen die Wände, sie stemmt sich nach oben, bis das Gewicht der Welt, das ihr eben noch als Last auf dem Rücken lag, abfällt als Boden: Überall sind plötzlich gerade Flächen, die gerade noch Berge waren, an der Seite stehen Menschen, die klatschen Applaus, der kommt von den Rängen, & sie weint beim ersten Schritt ohne Hilfe. Da sind Narben an ihren Füßen & Knien, ihre Beine wirken fremd, wie geliehen, komm, Lena, komm, & Lena öffnet die Türen & die Welt ist weiß als sie geht, der Schnee unter ihren Schuhen knirscht gläsern, sie geht geradeaus & ohne zu zögern.

Die Opale flackern nicht, sie brennen. Lena reibt sich gedankenverloren das Handgelenk, fragt: &? Machst du’s?, & trinkt einen Schluck Tee. Ja, sag ich, & nehme den Schal von der Lehne & die Jacke vom Haken. Gezeichnete halten zusammen. Das tun sie immer.

Eine Skizze

Wer? An der Türe ist einer, der will. Draußen: der Schnee. Drinnen ist einer, der muss. Die Knie stoßen ständig gegen Kisten, die Füße treten in Wäsche. Überall liegen Socken. Ich lebe in einem Flüchtlingslager, in einem Ausnahmezustand, es ist ganz normal. Seit A. eingezogen ist, ist alles anders. Alles. Der Himmel ist rot jetzt, & das Wasser aus dem Hahn schmeckt nach Mandeln. Wir reden nicht, wir denken laut. Die Dinge schieben sich, das Bett in die Mitte des Zimmers, die Kissen unter den Tisch, schieben sich an die Ränder des Raums & drängen sich dort in die Höhe, die Stifte & Pinsel, Tüten & Kondome, meine Bücher. In der Mitte sind wir. A. & ich.

Das gehört uns. Wir rennen durchs Haus. Wie junge Hunde. Ich trage ihn, stolz. Verknotet sind wir unter den Decken – eine blaue mit Sternen, die ersetzt uns die Nacht, eine rote, die staut uns die Wärme, & eine weiße, die schwer ist wie Wolken –, & unter den Decken drücken wir uns aneinander, ineinander, verhaken unsere Rippen, stöhnen: Liebe, dein goldener Mund! & schau: Wir rennen durchs Haus, halt mich fest, ja, wir rennen & stürzen & rollen lachend noch über den Boden, halt mich fest, ja. & in der Nacht, wenn die Türe sich öffnet, & einer reinkommt, der will, dann lächelt der andere, wartend. Also schlag die Decken zurück & jede Angst! Wir, das ist ein Entwurf, der einmal geworfen, fliegt! Es gibt keinen Boden mehr. Der Hauch, der zum Wind wird, der durch alle Zimmer fegt, wird mir zum Sturm, der alles aufhebt & wirbelt, der trägt mich stolz.

Seit A. eingezogen ist, gehn alle Uhren falsch. Die Zeiger messen nichts. Die Zahlen sind bedeutungslos geworden. Früher, um 6, ist jetzt 8, & wenn ich im Zug stehe, getrennt durch Abstände, die Kilo metern, die mir die Beine schwer machen je weiter sie mich forttragen von dir, bin ich ein Irrlicht, leuchtend wie Sonnen: Meine Augen glühen dann, er sagt, sie wechseln die Farbe, & sehen getrieben: Möglichkeiten! Das Schicksal, tanzend im roten Flitterlicht der Träume: Berthes Schere, die groß & silbern, alte Fäden trennt. Ich träume deiner. Fühle deiner. Selbst die Worte, eben noch in Ruhe, sind jetzt aufgescheucht, flatternd. Ein Königreich, hinweg gewischt. Ich, das römische Reich, falle. Um mich sind die Einzelteile meines alten Lebens – wie in Ruinen lebe ich, die Überbleibsel wirken fremd. Halt mich fest, ja. Wir rennen durchs Haus, das jetzt, das bald, unser ist, das geworfen, fliegt, mit offenen Türen, scheiß auf dein Königreich: Es ist Zeit für Revolutionen! Also stelle ich den Tisch, der zwei Künstlern gehörte – die Tischplatte ist blaugrün, wie Meereswasser –, mitten ins Zimmer, staple die Bücher neu, stoße mit dem Knie – fuck! – gegen die Kiste & drehe das Licht an: Zwei Lampen, die fremd waren, sich Feinde: sie standen sich stets gegenüber, jetzt, Rücken an Rücken, schütten sie Gold in zwei Ecken, & im Licht, & nirgends sonst, sitze ich, schreibe. Atme.

Seit A. eingezogen ist, ist alles anders. Mein Herz schlägt schneller, mein rechtes Bein wippt weniger. Ich vergesse. Ich träume. Ich lebe.