9. Januar, Ostkreuz

1.
An meinem Tisch sind alle Gläser & Teller leer; ich bin ein schlechter Gastgeber. Das war nicht immer so. Früher musste ich nicht bei Der Bank anrufen, rhetorisch das Stammeln neu erfinden –– ja, was können wir denn tun? –– und darauf hoffen, dass ich pragmatisch klinge, zuversichtlich, aber nicht geblendet vom Wahn der Armen… So wie die, die stets vom Lottogewinn träumen ohne je zu spielen, die abends GALILEO per SMS verschicken, weil sie auf Preise hoffen, die sie ablenken von der Ungerechtigkeit –– von den Zinsen, die sie weiter nur vom Kleinen träumen lassen. Von einer Playstation, einem Urlaub in der Karibik, dem gestohlenen Leben. Wie weit der Kapitalismus doch gekommen ist… Mittlerweile ist er Gast auch in meinem Hause.

2.
Sprechen wir nicht von der Eindeutigkeit, sprechen wir nicht vom Offensichtlichen. Das, was alle sehen, langweilt mich. Die Cock Pics auf Grindr, die InstaStories aus dem brennenden Australien, das Lob der Freiheit im Gefängnis der Sicherheit – alles schon hunderttausendmal plus 1 gesehen, gerochen, geschmeckt. Das, was überdauert, ist der Kampf des Sichtbaren gegen das Vergessen.

3.
In der S-Bahn fahre ich vorbei an den Betonriesen, die, aus hundertjährigem Schlaf erwachend, sich aufrichten hinter den Gleisen; über ihnen kreisen die Krantürme & darüber noch die Vögel, die als schwarze Punkte über das Himmelsgrauen hüpfen. Wie seltsam: Heute bin ich 34. Finanziell ruiniert & unsichtbar. Ein weißer Fleck in Altrosé: Ich vergrabe mein Gesicht in die Kapuze meines Pullovers, rieche Weichspüler & Parfum, ein altes Leben, & sehe, gespiegelt, nur einen Schemen, die Umrisse, mich als Eiliges, Zitterndes, als etwas über die Gleise Hinwegfegendes, das zwischen den Häusern erlischt, auftaucht, als Fragment sich ausbreitet, & wieder verschwindet.

Links von mir sind Männer eingestiegen, die sind vermutlich jünger als ich. Der eine, kleinere, erzählt vom gestrigen Tag als Offenbarung: Die richtigen Parties, die richtigen Frauen, der richtige Sex, der auf Knopfdruck mehr als nur Glück verspricht –– wenn du dieses Stück Fleisch hier reinsteckst, wirst du zum Protagonisten aller Geschichten, zur goldgekränzten Ikone der Gotteshäuser, einem Titanen unter Zwergen –– & der andere, größere, skipped einen Song weiter, indem er den Kopfhörer im Ohr drückt, & lächelt schräg im Mundwinkel.

Warte.

Dieses Lächeln kenn ich. Scan: läuft. Der Blick klopft & tastet, befühlt aufdringlich Jeans & Jacke. Die dunkelbraunen Locken. Die Zeit schält uns beide aus Kleidung & Zug, sie wirft uns durch die Straßen, die grau sind, in einen wolkenlosen Himmel: Hier –– ein Sommer vor 10 Jahren, als die Unruhe noch namenlos war, & die Gier wie Balsam auf unseren Lippen, schau, deine Hände wie Blattwerk in meinen Haaren, ewig: die Sonne auf Haut & Papier, denn wir liegen zwischen den Büchern. Im Hintergrund läuft The XX, die Schallplatte kratzt, sie eiert & tanzt.

You move through the room
Like breathing was easy

Ich breche durch die Erinnerungen wie durch eine Glasscheibe, ich stürze in Bilder. Wie heißt du? Keine Antwort. Stattdessen streicht er sich eine Locke hinter sein Ohr, skipped ein Lied, lächelt schief. Als die S-Bahn hält, steigen Leute ein, die mir die Sicht nehmen. Als ich am Ostkreuz bin, sind die beiden Männer schon fort.

4.
Ich versuche nicht, Vergangenes wieder zugänglich zu machen; ich will nichts wiederholen. Im Gegenteil. Alles in mir strebt im Grunde nach der Überwindung des Einmal-Erlebten –– nicht nach Vergessen, nein, sondern nach Wachstum, nach einer neuen Rinde. (Ich habe mich selbst immer als menschgewordenen Baum verstanden). Ich will mehr Schichten zur Haut, will mehr Ebenen, Dimensionen, die Tiefe & Gravitation der Dinge, nicht ihre Abziehbilder, ihr scrollbares Gegenstück. Leben, denk ich, nicht als Content & skalierbare Kennziffer, als Zwischenstation zwischen Candy Crush & Instagram. Als hätte die ganze Welt vergessen, dass es noch etwas anderes gibt als ihre Smartphones. Als wäre jede Entwicklung auch zugleich Fortschritt & der Fortschritt stets ein geheiligtes Mittel zum besseren Zweck: Komfort.

Die Guillotine unter der wir alle liegen heißt Komfort.

Das Wesentliche

1.
Die Eifersucht pachten wie ein baufälliges Haus––ich wohne im Vorderhaus, erster Stock, Südseite. Wenn ich im Sessel sitze, da in der Ecke, wo mir stets die Pflanzen eingehen & der Staub sich verfängt zwischen den Falten im Vorhang, seh ich die Straße zu beiden Seiten, Bäume, die Stadt Berlin, die mich sesshaft gemacht hat––manchmal: Menschen, selten: Blicke––ich sehe Möglichkeiten, die sich nicht ergeben, sehe den Weg schräg von oben, aus der Warte, nie geradeaus von unten, & finde nirgends ein Ende. Ist es das, ist das alles?

2.
Die Bücher auf dem Regal, die ich aus dem Staub ziehe, lese ich ohne sie mir zu merken; hier sind die Erzählungen, Gedichte, Memoiren ohne Pointe, die mein Gehirn kurz erschüttern wie ein Niesen; fremder Leute Leben, Gefühle, Gedanken schießen mir impulsiv durch alle Nerven, & zehn Sekunden später, das Buch zugeklappt & alphabetisch einsortiert, vergeht mir kitzelnd jeder Satz. Ich werde nicht besser vom Lesen, ich wachse nur, antizyklisch zum Papier, werde Baum, Rinde, Ringkreis an Geschichten, schieße in die Höhe & dem Leben davon, atme.

3.
Glück––das ist eine Folge guter Umstände, das ist mein Kopf auf deinem Bauch, dein Kopf auf meiner Brust; das sind die Tage, die wir gemeinsam verbringen. Wenn unsere Finger sich verhaken. Wenn wir gemeinsam unter der Dusche stehen & lachen. Wenn wir auf der Couch liegen––müde geschlagen von der Arbeit der Nacht & der Wut der Triebe, die uns aufpeitschen wie wilde Pferde––& uns durch Netflix scrollen. Wenn wir Pläne schmieden: Hier––Spanien im Herbst & New York im neuen Jahr. Hier: Shows & Entertainment, & das Glück verliebter Leute. (Glück ist die Summe deiner Berührungen, du im Frühling & Herbst, deine kalten Füße, dein breites Grinsen). Es folgen Monate, die an uns vorüberfliegen, die heimlich Jahre werden, & sich plötzlich „Leben“ nennen. Ich bin eingebettet in dieses andere Leben, in diese andere Wohnung am Ostkreuz, Vorderhaus, dritter Stock, in die Alternative.

4.
So vieles, das sich verändert, so vieles, das sich bewegt. Ich komme kaum nach. Hier lese ich gerade Ernst Bloch & esse veganen Käse direkt aus der Packung; dort folge ich Greta Thunbergs Instagram & schreibe auf der Schreibmaschine ellenlange Briefe ohne Pause. Ich verschicke Schwanzbilder an Unbekannte, gieße namenlose Pflanzen in glänzenden Messingtöpfen; ich höre Haydn. Ich––das Substrat der Jahrhunderte, die Kakophonie verschiedener Zeitebenen. Während die Sonne brennt, lasse ich mir Bacchus auf den Oberschenkel tätowieren; dabei lese ich von schmelzenden Polkappen & Klimaflüchtlingen, über die ich vor Jahren schon schrieb, lese von der AfD, die nichts ist brauner Schaum auf verbrannter Erde, & den Ertrunkenen im Mittelmeer, streife dabei gedankenverloren die Haut der Pflaumen, die straff ist & glänzt, & denke nicht, erlebe bloß, wie die Welt aus allen Fugen springt.

5.
Worauf also bin ich eifersüchtig? Das Leben umbrandet mich, die Liebe. Ich bin überall. Ist es die Ruhe, die vermeintliche, die ich misse? Die erfüllten Versprechen vom Besseren––dem vollen Bankkonto, dem geschriebenen Buch? Sind es die kleinen Fehlstellen––die gebrochenen Backenzähne, die blaugeschlagenen Zehen? Ist es die Stille der Erzählungen, oder die Abwesenheit der Kunst, die mich schmerzt? Ist es die Eifersucht auf die Anderen, diese gesichtslose Wand aus Körpern, Bedürfnissen, Zielen, die sich mir Tag für Tag als Brille vor die Augen setzt? Die vermeintlich Erfolgreichen. Die vermeintlich Besserverdienenden. Dieser & jener Gegenstand fehlt dir noch, dieses & jenes Land hast du noch nicht bereist––ist es das? Oder fehlen mir Hunger & Ambitionen, der an Wahnsinn grenzende Wille etwas erreichen zu müssen? Ich trete weich auf dem Boden der Tatsachen. Ich spüre keine Hürden.

6.
Er sagt, ich sei zum Schreiben gemacht. Ein Automat des Schreibens, so nennt er mich. Die Schreibmaschine. Ich hab das alles schon einmal gehört, vor fast 10 Jahren das letzte Mal. Warum aber schreibe ich nicht? Was ist so falsch geworden am Schreiben, an der Auseinandersetzung mit sich, mit der Ungeduld & dem Abwesenden, mit den Ecken & Kanten, den schrecklichen Abgründen? Woran liegt es, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann auf meine eigenen Wörter? Das Smartphone? Hat es mich dumm gemacht? Unruhig? Ist es das Glücksspiel der Notifications, das mich betäubt? Oder ist es die Welt, die mich verstummen lässt? Die Episoden des Untergangs, die mir jedes Wort zurück in den Mund stopfen, die mich ersticken? Ist es der Rückzug in die Alltäglichkeit, die Selbstgenügsamkeit––zu wissen, dass noch Brot da ist, & Kartoffelsalat, dass ich auch morgen ein Buch aufschlagen & mich mit einem Getränk ins Kühle setzen kann, während draußen das Gras braun wird, & welk? Bin ich selbst zum Lotusfresser geworden?

7.
Wie besinnt man sich zurück auf Wesentliches? Was ist das Wesentliche überhaupt? Essen, Trinken, Schlafen, Verdauen, Ficken. Träumen––träumen auch? Schreiben? Vom Glas in den Scheiben, den Menschen hinter den Scheiben, den Menschen im Glas? Von Haydn? Von Ernst Blochs Hass gegen das, was er die ägyptische Strenge nennt? Was ist wesentlich in einer Welt der Überfülle, in der alles laut & wichtig scheint, in der alles da sein kann, wenn man’s nur bestellt? Ich falte Papier & Wäsche, ratlos.

Maschinenstürmer

1.
Ich träume vom Untergang der Insel. Ich sehe alles ganz genau, sehe, wie es passiert. Als die See sich plötzlich in die Höhe wirft. Wasser wird Finger & Hände, ragt hinauf bis zum Himmel – weiße Gischt, dein tollwütiger Kuss –, & stürzt dann laut hinab, wälzt sich kreischend über Sandburgen, Handtücher, Sonnenschirme, & verschlingt die Promenaden. Die Palmen verbeugen sich unter dem Applaus der Wellen. Als ich aufwache, schmecke ich verbrannte Schokolade. Das Zimmer ist leer. Das Bett streckt sich gleichmäßig in jede Richtung. Ich bin noch immer in Berlin.

2.
In der Küche dampft die Espressokanne auf dem Herd; es riecht nach Sonntag: nach aufgebackenen Brötchen & Kaffee. Der weiße Tisch ist leer. Hier frühstückt niemand. Nur den Kaffee, den gibt es wirklich. Ich tapse barfuß durch den Flur, an den Bildern vorbei, dem Goldspiegel, den Weißweinflaschen in der Ecke, den Fusseln am Teppichrand, puste in die Tasse. Wie still es ist. Wie weich das Licht. Ich setze mich ins Dritte Zimmer, ein Ort, den ich mir langsam schaffe, den ich mir einrichte. Hier stehen Pflanzen auf dem Fenstersims, ein Sessel mit Ausblick auf den Hinterhof; die Wände sind weiß. Es gibt keine Ablenkungen. Ich halte den Schreibtisch so aufgeräumt wie möglich. Nie erschien mir das Konzept der Leere wichtiger als in diesem Zimmer. Lässt sich’s so leben? Arbeiten?

Thoreau. Wieder. Ein Mann über den ich nichts weiter weiß als seinen zivilen Ungehorsam, seine Lebensökonomie, an ihn muss ich plötzlich denken. Nicht an den echten Menschen, nein. Ich habe ja keine Vorstellung von ihm als Person, ich weiß nichts von seinen biografischen Eckdaten, weigere mich, ihn zu googeln, Bildern nachzujagen, Fragmenten, die kein Ganzes ergeben werden. Ich konstruiere ihn vielmehr, mache Thoreau zur Schablone meiner Ideen. Ist das einfachere Leben das bessere? Muss ich erst Luddit werden, um glücklich zu sein? In der U-Bahn sehe ich die Bildschirmwände, auf den Straßen, in den Cafés. Überall bilden sich Menschentrauben, zusammengehalten von Bluetooth- & AirDrop-Übertragungen. Die Cloud schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen, verschlingt mehr als 1.000 Terawattstunden pro Jahr für unsere Inszenierungen. & wozu? Für Likes, Shares, Followers.

Ich bedaure eine Generation, die keine zwei Stunden ruhig sitzen kann, ohne sich im dunklen Spiegel selbst betrachten zu müssen. Selbst im Kino checken welche ihre Handys. Zähneknirschend seh ich das Weiß & Blau in Menschenmengen leuchten, in den abgedunkelten Konzertsälen: ein künstlicher Sternenhimmel – die Allgegenwart eines digitalen Gottes, der alles sieht & alles weiß. (Ist unsere Sucht nach & Abhängigkeit von Technologie wirklich so anders als eine Sehnsucht nach Gott?).

3.
Im Wind sitz ich, der zum Fenster reinkommt, & schmecke den Frühling. Was heißt einfach leben überhaupt? Was braucht ein Mensch – heute? Das, was er immer schon gebraucht hat? Ein Dach über dem Kopf, ausreichend Essen & Trinken, Bewegung, Intimität & Zärtlichkeit, Geborgenheit? Was heißt das in einer Zeit, in der das alles nicht genug ist? In der es um MEHR geht, um GRÖSSER & SCHNELLER, um skalierbare Modelle, erreichbare Ziele, um die Optimierung, die kein Prozess mehr sein will, sondern ein finaler Zustand? (Keiner will trainieren, jeder will shredded sein. Keiner will lesen, alle wollen alles wissen).

Kann ich einfach leben in einer komplexen Welt? Kann ich minimalistisch leben in einer maximalistischen Welt? Wie bleibe ich verbunden ohne mich zu verwickeln? Der Rückzug ins Private funktioniert nicht. Thoreau konnte früher vielleicht alleine sein, in seinem Wald am See. Heute geht das nicht. Heute hast du Trampelpfade, Geheimtipps, YELP-Empfehlungen. Je mehr wir werden, desto weniger gibt’s noch zu entdecken. Die Entzauberung der Welt? Sie ist gerade live auf Facebook. Der Lärm ist immer da, viele von uns hören ihn nur nicht mehr.

4.
Eine Rückkehr ist ausgeschlossen. Es gibt kein Zurück. Ich sitze mit der Kaffeetasse am Fenster, tausendmal gelebtes Staging: draußen strahlt der Hinterhof in der Sonne. Die Local Natives schmettern im Hintergrund. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts begriffen. Mich nicht, meine Träume nicht, & schon gar nicht die Welt.

I – H – R

Es ist schwierig zu verstehen, sag ich – & verschlucke mich an der Reiswaffel, an hauchdünner Margarine auf Styropor. Man serviert meinen Tod mit ungesalzenen Tomaten aus Holland & einem Schälchen entkernter Oliven. Hoffentlich hab ich kein‘ Schnittlauch zwischen den Zähnen, denk ich so beim Ersticken, nichts ist schlimmer als Schnittlauch zwischen den Zähnen.

Außer vielleicht… das richtige Sterben. In Wahrheit nämlich, da ersticke ich nicht. Ich schlucke runter. Würgend zwar & mit tränenden Augen, nee, geht schon, echt jetzt, danke, aber ich schaffe es, schnappe nach Luft, lebe. Fuck. Dem Tod gerade nochmal vom Plastiklöffel voll veganem Aufstrich gesprungen. Glück im Unglück sozusagen. Oder umgekehrt. Immerhin komm ich jetzt nicht mehr ums Verstehen rum, das so schwierig zu erklären ist. Große Augen glubschen mich an, mustern mein rotes Gesicht, meine tätowierte Haut unter den hochgekrempelten Pulloverärmeln, den Regenbogenfaust-Pin an meinem Jeansjackenrevers, wieder: mein rotes Gesicht, das langsam blass wird – blasser –, & rutschen über die Wand hinter mir zurück über den Hals, suchen den Kopf anhand von Haaren, finden das Weiß meiner Haut. So eine Atemnot irritiert alle Beteiligten. Mein Nahtoderlebnis verlangt nicht umsonst eine dramatische Pause – eine Stille, so tief & bleiern wie der Meeresgrund –, die ich versehentlich mit Mineralwasser auflöse, das viel zu laut ins viel zu kleine Glas gluckert. Als ich aufsehe, blinzeln mich wieder diese Augen an, lauernd. Augen wie gemacht zum Durchschauen. Also gut.

Ich habe alles geordnet, sag ich. & lebe doch im Chaos. Mein Leben ist eine Folge klarer Fehleinschätzungen. Ich stecke das Messer in die Spülmaschine, obwohl ich’s eine Minute später wieder brauche. Ich habe immer Senf im Kühlschrank, aber nie genügend Ketchup. Mir brechen Buchstaben aus der Tastatur, über die ich nie nachgedacht habe – & jetzt tu‘ nicht so, als hättest du je darüber nachgedacht, wie oft du so ein I – H – R tippst. Ich ersticke an Reiswaffeln & huste Asbest über den Frühstückstisch. Da ist kein Maß in meiner Sucht & Suche, in meinen niederen Alltäglichkeiten, aber ein zeitloses Verlangen nach Balance. Kein Wunder ich lese jetzt sechs Bücher gleichzeitig – über Feminismus & den Zweiten Weltkrieg, über Literatur, Essentialismus & Minimalismus, über Bäume –, & denke wie ein Räderwerk über die Verbindung all dieser Dinge nach, bin Maschine, gelebter Androismus. Vergesse alles wieder. Im Hintergrund dröhnt Mashrou‘ Leila: كل الآلات بتغنيله وبتكبله بانابيب, & mein Herz pumpt – dröhnend – Liebe mir durch alle Adern. Wie ist das möglich?

Die Frage geht hoch hinaus, über die entkernten Oliven & die Reste vom Asbest, schießt über den Tellerrand gegen Augen & Lider, drückt sich als Hand gegen seine Stirn. Ist das Seufzen? Seufzt du? Vermutlich. Ginge ich einen Schritt zurück, einen Moment nur, & griffe ins Räderwerk nach hinten, was sähen wir dann? Zwei Männer an einem Tisch. Drumherum: Eine Wohnung unbestimmter Größe. Draußen? Blattwerkgeflimmer. Ein blauer Himmel ohne Grenzen, diffuses Stadtleben in Andeutungen: Autotürenfensterscheibenmenschenkolonnen, Mülltonnenrumpeln. Ich. Du.

Die Wahrheit ist, ich begreife selbst nicht, was da eigentlich passiert. Mit mir & dir, mit dem Plural meines Lebens, mit meinen zahnlos-bissigen Projekten. Letztes Jahr noch, da hab ich einen Job zu Grabe geworfen, über die Klippe hinaus in eine aufgepeitschte See, & habe mich in meiner Wut als das begriffen, was ich sein wollte: Ein entfesseltes Tier. Also habe ich gebissen & gefaucht, habe das Bisschen Freiheit verteidigt bis zum Bittersten. Hier: eine Weigerung, ein klares Nein! Hier: Die Erfindung eines neuen Menschen.

& jetzt? Ist alles anders. Diesmal wirklich. Stil & Rhythmus, Klang & Semantik, Denkweise & Wortwahl, alles sieht anders aus in diesem Ausschnitt WELT, fühlt sich anders an. Die Möbel stehen woanders, die Gerüche sind neu. Mein Leben zwischen zwei Wohnungen – nein: mein Leben zwischen zwei Entwürfen – nein: mein Leben zwischen Politik & Wahnsinn, zwischen Tabletten, Staaten & Musik. Ich gehe auf Styroporplatten durch Luftpolsterfolie – & zwar als Messer.

Erklär das mal einem Menschen. Dass ich manchmal vor Wut laut heulen möchte; dass da ein Wolf eingenäht ist & keine Steine. Die Ungerechtigkeit rammt mich manchmal aus dem U-Bahn-Schacht meiner Wahrnehmung raus ins offene Gleisbett. Hier herrscht nichts als Krieg. Da sterben Menschen. Drüben leben sie in konzentrischen Kreisen, saufen Matcha-Latte & sprechen vom Frieden ihrer überteuerten Yogakurse, da wird lang & ausführlich diskutiert, wie sich heute wer selbst verwirklichen kann, & anderen schneidet man halt den Kopf ab. Ich bin manchmal so endlos ohnmächtig in meinen Privilegien, dass ich Amok durch jeden Supermarkt laufen möchte. Ich fühle Strom in meinen Nerven.

Verstehst du das?

Shell Shock

Es ist der Lärm der Dinge, das schreckliche, nicht enden-wollende Sich-Mitteilen-Müssen – die Nachrichten, Updates, Neuigkeiten, alle an dicke Ausrufezeichen geschraubt, mit kleinen, roten Zahlen in die Ecke gedrängt an den Rand des Sichtbaren, des Bildschirms, wo das Nichts lauert, ein lautes, ein gewissermaßen ohrenbetäubendes Nichts an Gegenständen & Orten & Menschen, die sich runter- & wieder hochscrollen lassen – übergangslos. Stundenlang. Bis die Augen brennen…

Das ist es. Das.

In der Ecke sitz ich, zwischen Pflanzen, in Ruhe, zum ersten Mal in Ruhe, & versuche –

– draußen rauschen die Autos – von links nach rechts, von rechts nach links, von der großen Geraden in die kleine, scharfe Kurve – da fährt die S-Bahn – Schienen kreischen – irgendwer ruft – Besoffene müssen immer rufen, was ihnen gerade durch den Kopf geht, das muss zum Mund wieder raus, als hauchte ihnen der Alkohol plötzlich Weisheiten ein, hier: deine Idee, hier: dein dummes Geschrei – & im Nebenzimmer stöhnen sie Liebe, stöhnen Alleinsein & Angst, & die Decke vibriert unter fremden Sohlen.

Damit hat es angefangen, oder? Mit dem Lärm der Dinge. Mit der Allgegenwärtigkeit des Lärms. Selbst die Bücher schreien. Die Spotify-Listen. Die Netflix-Empfehlungen. Das E-Mail-Postfach: Ein Angriff auf alles, was uns heilig – war. Das Internet als konstante Belastung, als Artilleriebeschuss. Ich, das ist das Verhältnis von Input & Output, von Feed & Fed, von Likes, Shares & Gruppenchats. Ich, die Summe des Lärms, die Grenzerfahrung hunderter Erinnerungen. [Ich bin Saurons allsehendes Auge]. Mit dem Geschrei endet das Ich.

Stattdessen: Vorhang auf für die Bedürfnisse.

Ich sitze in der Ecke, zwischen Pflanzen, denke an Thoreau. An die Ökonomie des Lebens, ein ganzes Kapitel des Aufwiegens: Ist es das wert, all das, mein ich, dieses Getrieben-Sein, das Sich-Anpeitschen. Die Optimierungszwänge, unsinnig aufgeschichteter Perfektionismus: Ich kann nur als Übermensch menschlich sein. Muss meinen Zeitplan abhaken, muss glücklich sein, funktionieren, auf Fragen antworten & gegebenenfalls – rhetorisch verspielt – mit Gegenfragen reagieren können. Ich muss mir immerzu Zeiten nehmen, für alle. Für jede Begegnung, für jede Berührung, für jeden Moment der Stille muss ich selbst lärmen, damit sie mich nicht doch noch bekommt am Ende, diese Ewige Leere, der Horror vacui.

& so blubbere ich also, schütte Kaffee um Kaffee um Kaffee in mich, damit ich alles unter einen Hut bekomme, dieses & jenes Leben, diesen & jenen Entwurf, diesen & jenen Menschen, & blubbere Gischt & blubbere Tollwut, & sitze mit sieben Büchern am Schreibtisch der Nacht, blättere blubbernd heißes Blut auf den Lippen, lese, lese, lese, sehe, scrolle, denke, denke, denke – & nirgends ist Thoreau & nirgends bin ich, sondern da ist nur die Skizze, nur Gekritzeltes, wirre, chaotische Linien & Striche, & ich, der ich klein anfange, wird ins Große gestoßen – auf die Straße, wo der Verkehr lärmt. Wo die Menschen sind. Wo alles zerrt & zieht. Das Verlangen, der Hunger.

Manchmal schrecke ich auf, so wie jetzt. Als hätte ich nur böse geträumt. Da reibe ich mir müde die trockenen Augen, die immer rot sind & brennen, & starre irritiert auf die Tastatur, die langsam, aber beharrlich auseinanderfällt (erst das R, dann das I, jetzt das H), & weiß überhaupt nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Um was es ursprünglich ging.

Bis die Tür unten knallt – der Fernseher dröhnt – hier kommt laute Musik aus zu schnellen Autos – hier die Touristengruppe aus Sydney, Liverpool, Madrid: Rollkoffer & Bierflaschenscheppern, zerbrochenes Glas auf zu kantigen Steinen – Gelächter, verstärkt im Schacht der Hinterhäuser zu barbarischem Gebrüll. Ohnmacht. Wahnsinn. Untergang.