Wir haben den Regen als Weigerung im Haar & die Kälte wie Splitter unter der Haut; uns rinnt die Straße auseinander beim Blinzeln. Rote Flecken rechts & links, ein nervöses Neonlichtgeflacker vor Hinterköpfen: Patrice & ich stehen unter einem Dachvorsprung, der uns beiden nicht reicht, der uns zu Nähe zwingt, zu bedächtigem Zehenspitzendribbeln, die Schuhe schmatzen feuchten Asphalt. Wie geht es weiter, fragt er & zupft am Schal, der wallt, schwarz & weiß gestreift, über seine Schultern nach unten bis zur Hüfte, zerfasert, wird da von seinen Fingern aufgenommen & verknotet, fallen gelassen, aufgenommen, fallen gelassen – ein unermüdliches Verknoten & Aufknüpfen. Ich weiß nicht, & weiß es genau.
Wir gehen das schmale Treppenhaus hinauf in den vierten Stock, meine Beine zittern auf den letzten Stufen. Beim Reinkommen riecht es nach Kaffee & Zigaretten, es ist ein alter, muffiger Dampf, der weniger menschliche Anwesenheit verrät als vielmehr natürliche Prozesse, ein Zerfallen & Vermodern: vielleicht Schimmel zwischen feuchten Kacheln, Tellerstapel mit Essensresten im Spülbecken, & tatsächlich – im Flur stehend schließt Patrice schnell die Tür zur Küche. Da sieht’s aus wie im Krieg.
Bücher im Flur, Bücher als Türstopper, Bücher auf Büchern, ich laufe durch eine Bibliothek aus Rauch & Papier & streife sacht mit den Fingern allen Staub von den Rücken. Wir gehen erst nach links, in einen Raum ohne erkennbaren Nutzen, denn hier stehen Kisten & Kartons wahllos aufeinander, & ich sehe einen Teppich, zusammengerollt, in einer der Ecken, einige Stühle, als Kreis arrangiert, eine alte Stehlampe mit eingerissenem Schirm. Durch eine Flügeltüre geht es in einen weiteren Korridor, der sich links & rechts verzweigt, & wir gehen erst nach links & dann durch eine weitere Tür nach rechts. Bilderrahmen ohne Bilder, blinde Spiegel. Ich sehe Schränke voller Schallplatten, Bücher als Tische, Bücher als Stühle, Bücher als Kleiderständer. Es riecht nach Leder. Wie viele Leute wohnen hier, frag ich stolpernd, da liegen Socken ineinander gestülpt & schwere Stiefel ohne Schnürsenkel, wahlloser Krempel. Gerade? Ich glaube, er zögert, elf? Okay.
In seinem Raum stehen Pflanzen, so viele, dass ich nicht weiß, ob sie echt sind oder nicht – ich greife ungläubig nach den dicken, fleischigen Blättern. Echt, alle. Das Bett ist ungemacht, das Kissen ein eingestürztes Haus. Ein, zwei, drei Aschenbecher – alle voll. Auf dem Sims einer, neben dem Plattenspieler der zweite, auf dem Sofa steht dritte. Auf das Sofa setz ich mich übrigens, vor allem, weil Patrice mit einer ausholenden Geste dazu einlädt, ich selbst würde vermutlich den Boden bevorzugen, aber ich will nicht unhöflich sein. Der grobe, gelbe Stoff ist verblichen, da sind Brandlöcher, vermutlich von den nachlässig im Aschenbecher drappierten Kippen; ich schnippe einen roten Garnfaden von der Lehne & neige mich nach vorn, das Holz knirscht. Kaffee, fragt Patrice. Ich nicke.
Wir reden bis die Nacht fällt, sie ist wie ein Messer. Die Nacht dreht sich auf einer Spitze so scharf & fein, dass uns die Trennung nicht mal auffällt, die sie uns aufzwingt: Der Tag graut langsam, müde, ohne Farben. Wir haben uns erst die T-Shirts, dann die Hosen ausgezogen, wir saßen im Schwülen, in der Hitze bis mir der ganze Körper klebte vom eigenen Schweiß. Die Heizung ist defekt, sagt Patrice. Die ist immer auf volle Pulle, deswegen sind auch die ganzen Pflanzen hier, das Zimmer ist wie ein Glashaus. Er deutet auf eine Blume mit weißen, kelchigen Blüten, die ich nicht kenne; sie wirkt tropisch & fremd. Sie will ebenso wenig in diese Umgebung passen wie Patrice selbst, dessen Haut im Gegenlicht der Pflanzen grünlich schimmert – seine Glutaugen – sein schwarzes Haar. Die ist ganz hübsch, oder?
Angenommen, sag ich, das Gespräch von zuvor aufnehmend, wir stünden alle auf, das ganze dreckige Dutzend – angenommen, wir würden morgen früh alle einfach nicht mehr zur Arbeit, sondern stattdessen den Verkehr der Innenstadt lahmlegen. Was dann? Patrice drückt die Zigarette aus, er dreht ihr regelrecht den Hals um. Was soll schon sein, die nehmen uns fest, klick-klack, Handschellen & Schluss. Die Revolution kommt nicht in der Weigerung, sie kommt als Marketing – als Newsletter & Push-Notification. Sie wird fabriziert. Auch Patrice schwitzt, ich seh das deutlich, einzelne Schweißperlen rinnen ihm die Brust hinab, die ganz schmal ist, mit einem Arm zu umgreifen, & dann weiter, den Bauch hinunter, bis in seine Schamhaare, verschwinden. Für eine Weile konnte ich dem Gespräch nicht folgen – das lag vor allem an seinem Schwanz, der müde & dick zwischen seinen Schenkeln lag, & jetzt, da er aufsteht um die Schallplatte zu wechseln, fällt mein Blick wieder zwischen seine Beine. Fuck, sag ich & wisch mir über die Stirn. Fuck.
Als ich gehe, da ist mein Kopf leicht vom Marihuana & die Beine schwer. Ich gehe zickzack durch die Straße, von der Bäckerei zum Friseur & zur nächsten Bäckerei – führt das alles irgendwohin? Für einen Moment weiß ich nicht mehr, wie ich hierher gekommen bin, habe vergessen, was mich nach Neukölln gebracht hat, in diese Wohnung, zu diesem Mann. Wie hieß er noch? Ach ja. Patrice. & warum war ich da? Achja. Um frei zu sein. In den Autos sitzen kleine Versionen von Menschen, Menschenkopien, & die sehen alle so finster durch ihre Fensterscheiben, dass man meinen könnte, sie seien mit Benzin betrieben & nicht ihre Wagen, als würden sie alle innerlich verbrennen. Drüben am Obst- & Gemüsemarkt ruft wer Melonen, Melonen, Melonen, immerzu, dabei ist Anfang Dezember, warum ruft er das? Wer braucht denn jetzt Melonen?
In der S-Bahn isst einer Döner, zwei streiten sich, ich weiß nicht um was, aber da ist ein Hund, der sich nervös im Kreis dreht. Ich fühle genau, wie die Grenzen verschmieren, zwischen denen & mir, ich kann meine Haut nicht spüren, sie ist wie weggewischt; ich fliege als Wolke durch die Bahn, versuche mich an Kafka festzuhalten & greife durch ihn hindurch. Der Verschollene wird mir heute nicht helfen. Ich erinnere mich an Patrice, an seinen sehnigen Körper, an seine Augen. Ich erinnere mich an die Fiktion seiner Versprechen. An die Kommune, in der er lebt, an das besetzte Haus. Die einzelnen Teile fliegen mir durcheinander als die S-Bahn losstottert – so, als hüpfte sie auf einem Bein. Das enge Treppenhaus, das Zeitungspapier zwischen den Fenstern, damit die Kälte nicht reinkommt, & das zerbrochene Waschbecken. Ich schmecke die Asche, schmecke Leder & Papier, die Prozesse. Am Ende denk ich tatsächlich nur an die Prozesse. Ein Aufnehmen & Fallenlassen & wieder: Aufnehmen.