9. Januar, Ostkreuz

1.
An meinem Tisch sind alle Gläser & Teller leer; ich bin ein schlechter Gastgeber. Das war nicht immer so. Früher musste ich nicht bei Der Bank anrufen, rhetorisch das Stammeln neu erfinden –– ja, was können wir denn tun? –– und darauf hoffen, dass ich pragmatisch klinge, zuversichtlich, aber nicht geblendet vom Wahn der Armen… So wie die, die stets vom Lottogewinn träumen ohne je zu spielen, die abends GALILEO per SMS verschicken, weil sie auf Preise hoffen, die sie ablenken von der Ungerechtigkeit –– von den Zinsen, die sie weiter nur vom Kleinen träumen lassen. Von einer Playstation, einem Urlaub in der Karibik, dem gestohlenen Leben. Wie weit der Kapitalismus doch gekommen ist… Mittlerweile ist er Gast auch in meinem Hause.

2.
Sprechen wir nicht von der Eindeutigkeit, sprechen wir nicht vom Offensichtlichen. Das, was alle sehen, langweilt mich. Die Cock Pics auf Grindr, die InstaStories aus dem brennenden Australien, das Lob der Freiheit im Gefängnis der Sicherheit – alles schon hunderttausendmal plus 1 gesehen, gerochen, geschmeckt. Das, was überdauert, ist der Kampf des Sichtbaren gegen das Vergessen.

3.
In der S-Bahn fahre ich vorbei an den Betonriesen, die, aus hundertjährigem Schlaf erwachend, sich aufrichten hinter den Gleisen; über ihnen kreisen die Krantürme & darüber noch die Vögel, die als schwarze Punkte über das Himmelsgrauen hüpfen. Wie seltsam: Heute bin ich 34. Finanziell ruiniert & unsichtbar. Ein weißer Fleck in Altrosé: Ich vergrabe mein Gesicht in die Kapuze meines Pullovers, rieche Weichspüler & Parfum, ein altes Leben, & sehe, gespiegelt, nur einen Schemen, die Umrisse, mich als Eiliges, Zitterndes, als etwas über die Gleise Hinwegfegendes, das zwischen den Häusern erlischt, auftaucht, als Fragment sich ausbreitet, & wieder verschwindet.

Links von mir sind Männer eingestiegen, die sind vermutlich jünger als ich. Der eine, kleinere, erzählt vom gestrigen Tag als Offenbarung: Die richtigen Parties, die richtigen Frauen, der richtige Sex, der auf Knopfdruck mehr als nur Glück verspricht –– wenn du dieses Stück Fleisch hier reinsteckst, wirst du zum Protagonisten aller Geschichten, zur goldgekränzten Ikone der Gotteshäuser, einem Titanen unter Zwergen –– & der andere, größere, skipped einen Song weiter, indem er den Kopfhörer im Ohr drückt, & lächelt schräg im Mundwinkel.

Warte.

Dieses Lächeln kenn ich. Scan: läuft. Der Blick klopft & tastet, befühlt aufdringlich Jeans & Jacke. Die dunkelbraunen Locken. Die Zeit schält uns beide aus Kleidung & Zug, sie wirft uns durch die Straßen, die grau sind, in einen wolkenlosen Himmel: Hier –– ein Sommer vor 10 Jahren, als die Unruhe noch namenlos war, & die Gier wie Balsam auf unseren Lippen, schau, deine Hände wie Blattwerk in meinen Haaren, ewig: die Sonne auf Haut & Papier, denn wir liegen zwischen den Büchern. Im Hintergrund läuft The XX, die Schallplatte kratzt, sie eiert & tanzt.

You move through the room
Like breathing was easy

Ich breche durch die Erinnerungen wie durch eine Glasscheibe, ich stürze in Bilder. Wie heißt du? Keine Antwort. Stattdessen streicht er sich eine Locke hinter sein Ohr, skipped ein Lied, lächelt schief. Als die S-Bahn hält, steigen Leute ein, die mir die Sicht nehmen. Als ich am Ostkreuz bin, sind die beiden Männer schon fort.

4.
Ich versuche nicht, Vergangenes wieder zugänglich zu machen; ich will nichts wiederholen. Im Gegenteil. Alles in mir strebt im Grunde nach der Überwindung des Einmal-Erlebten –– nicht nach Vergessen, nein, sondern nach Wachstum, nach einer neuen Rinde. (Ich habe mich selbst immer als menschgewordenen Baum verstanden). Ich will mehr Schichten zur Haut, will mehr Ebenen, Dimensionen, die Tiefe & Gravitation der Dinge, nicht ihre Abziehbilder, ihr scrollbares Gegenstück. Leben, denk ich, nicht als Content & skalierbare Kennziffer, als Zwischenstation zwischen Candy Crush & Instagram. Als hätte die ganze Welt vergessen, dass es noch etwas anderes gibt als ihre Smartphones. Als wäre jede Entwicklung auch zugleich Fortschritt & der Fortschritt stets ein geheiligtes Mittel zum besseren Zweck: Komfort.

Die Guillotine unter der wir alle liegen heißt Komfort.

Psychographie

1.
In Gedanken ist alles anders. Da vergeht keine Zeit. Als Kind schon konnte ich keine Uhren lesen. Jetzt, als Erwachsener, stehe ich noch immer ratlos vor den Minutenzeigern. Wie können sich diese Stunden nur zu Jahren strecken? Woher all der Staub in den Ecken, woher die Narben?

Wieder, sagt sie. Sie tun es schon wieder.

Okay. Das Denken also fällt mir schwer. Das Sätzebilden. Mein Gehirn––eine Kampfzone. Ich bin mein eigenes soziales Experiment: Was geschieht durch ein Übermaß an Informationen? Was passiert mit den Synapsen, sobald man sie dauerhaft befeuert? Ich, der Hungernde, ersticke am Fraß. An den Bildern, die mir tagtäglich unter den Fingern ins Gehirn schießen. An der Musik, die immer ist, ohne Unterbrechung, ohne Pause, die Lärm gewordener Grundton einer Umwelt ist, die nichts weniger ertragen kann als ihren eigenen Herzschlag zu hören. An all den Geschichten, die uns die Sinne fluten, die sich als Episoden aneinanderreihen, die zu Filmen werden, die gesehen werden sollen, über die alle in ihren Podcasts sprechen, die gehört werden müssen, und morgen swiped wieder wer durch deine Story, der sich einen Scheißdreck für dich interessiert. Wir alle sind zu Big Brother geworden, zu Verfolgern und Verfolgten: Die Jagd ums Ich, eine hyperkapitalistische Erfindung––eine Vermarktung ohne Produkt––wird zum Erklär-Modell einer ganzen Generation.

Ich habe so lange geschwiegen, bewusstlos oder: fassungslos?, vielleicht auch überfordert von den Entwicklungen, vielleicht müde. Oder: resigniert? Ja, vielleicht hab ich aufgegeben vor all den Jahren, habe die Wunden geleckt, und anderer Typen Schwänze, um nicht denken zu müssen. Weil es einfacher war. Vielleicht hab ich mich und das, was ich damals trotzig „meine Ideale“ nannte, ebenso an den Höchstbietenden verkauft wie alle anderen vor mir. Unterschätze niemals den Komfort, den der Teufel dir bietet. Geld, das dir in Umschlägen unter der Tür durchgeschoben wird. Orte, die sich vor deinen Augen plötzlich entfalten wie Papier: Hier, hier und hier bist du überall gewesen, dort, dort und dort hast du den Raum berührt mit deinen eigenen Paar Händen––nicht irgendeinen Raum, sondern das hier, schau um dich, diese Welt. Du hast mehr als nur Narben hinterlassen. Atem. Alles kehrt zurück, alles verschwindet. Auch dieser Atemzug wird noch zu Luft.

Konzentrieren Sie sich, sagt sie.

Ich habe mich also in all den Jahren neu erfunden. Immer und immer wieder habe ich den Job gewechselt wie ein Söldner, immer auf der Suche nach Eldorado. Diesmal, oder nicht? Diesmal ist’s wahr, diesmal wird mich die Arbeit von mir selbst befreien. Nein. Nein? Also: weiter. Neue Ziele, neue Menschen, neue Orte. Ich bin von Berlins schnelllebigen Zentren in die höchsten Höhen geklettert, nur um wieder in anderen gläsernen Bureaus die gleichen müden Plattitüden zu hören. Draußen, hinter wenigen Zentimetern Mörtel und Putz, brannten währenddessen Asylantenheime. Da schmierten welche Hakenkreuze auf jüdische Gräber. Da saßen Rechtsextreme im Bundestag. Da schlugen sie auf Lesben ein, brachten Trans*frauen um, folterten Schwule. Da gingen Länder in Flammen auf. Da starben Menschen, Tiere, Ökosysteme.

Nur leise, wie durch Blei, drangen die Nachrichten zu mir durch. Die Blockaden auf den Straßen, die Kinder und Jugendlichen, die von Angst getrieben, nach Hilfe suchen––und die nichts als Unverständnis finden. Müde, leere Augen, nach innen gerichtet, ins Vakuum des Ichs. Diese Erwachsenen sind keine Hilfe. Ich bin keine Hilfe. Ich, im eigentlichen Sinne, bin nirgends.

Wie meinen Sie das?

Unter Druck von außen schmilzt das Ich zusammen, es wird zu einer Art Masse, die hart und undurchdringlich ist; bei konstanter Belastung erstarrt die Möglichkeit des Ichs. Es gibt keine Entfaltung mehr, keine Entwicklung. Das Ich ist konserviert, ein Fossil.

Je lauter die Welt wurde, desto mehr habe ich mich zurückgezogen, bin geflohen. Zuerst mit den Parties und Exzessen, den Drogen, dem Sex. Dann durch die Arbeit. Das Wesentliche, wie gesagt, ist ungesagt geblieben. Wie aber bleibt einer stehen, wenn alle rennen? Wie schafft man Ruhe, die nicht lähmt, und Frieden in Zeiten des Aufruhrs?

Die Tabletten helfen langsam. Das Meditieren. In seinen Armen zu liegen, meinen Kopf auf seiner Brust. Die Erinnerung hilft––an den Menschen, der gewesen ist. In manchen Momenten hebt sich langsam der Witwenschleier vor meinen Augen, als dringe langsam Licht in diese Räume. Was ist geschehen? Wie viel Zeit ist vergangen?

Hier: die Blende auf die Uhr.
Totale.
Dann: der tickende Sekundenzeiger.

2.
Sie sitzt mir gegenüber in ihrem schwarzen Sessel, einen Fuß untergeschlagen, die Hände im Schoß, und schaut mich nachdenklich an; so, als müsse sie abwägen, ob das, was ich sage, stimmt, oder schlimmer noch: ob es von Bedeutung ist. Sie hat sich keine Notizen gemacht, die macht sie sich nie. Trotzdem sehe ich auf ihrem Schreibtisch die schwarzen Notizbücher––gelbe und pinke Zettel lugen zwischen den Seiten hervor––und die Collegeblöcke mit dem karierten Papier, die ganz abgewetzt aussehen. Wie kann sie sich das alles nur merken? So viele Patient*innen, die Tag für Tag hier sitzen und reden. So viele Lebensgeschichten, Eindrücke, Impulse. Krankheiten.

Was empfinden Sie bei dieser Entwicklung?

Sie zögert nicht, sie zögert selten beim Sprechen, aber sie wirkt nachdenklich heute, unsicher, was sie von mir halten soll. Die Luft ist klar, es riecht nach Verbenen. Alles in mir ist leicht, schwerelos; es kommt von den Tabletten. Die Leichtigkeit ist nur geborgt, ich weiß das. Das ist okay. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich das Rauschen, höre das Blut in meinen Adern, den Sauerstoff im Blut, die Moleküle, den Tanz. Wenn ich meine Augen schließe, tun sich Türen auf––Bilder, die ineinander aufblühen. Ich sehe Gesichter & Körper, erinnere mich an Dinge, die nie passiert sind. Das Tatsächliche verblasst…, das Gewesene.

Erleichterung, sag ich, und lächle.

Das Wesentliche

1.
Die Eifersucht pachten wie ein baufälliges Haus––ich wohne im Vorderhaus, erster Stock, Südseite. Wenn ich im Sessel sitze, da in der Ecke, wo mir stets die Pflanzen eingehen & der Staub sich verfängt zwischen den Falten im Vorhang, seh ich die Straße zu beiden Seiten, Bäume, die Stadt Berlin, die mich sesshaft gemacht hat––manchmal: Menschen, selten: Blicke––ich sehe Möglichkeiten, die sich nicht ergeben, sehe den Weg schräg von oben, aus der Warte, nie geradeaus von unten, & finde nirgends ein Ende. Ist es das, ist das alles?

2.
Die Bücher auf dem Regal, die ich aus dem Staub ziehe, lese ich ohne sie mir zu merken; hier sind die Erzählungen, Gedichte, Memoiren ohne Pointe, die mein Gehirn kurz erschüttern wie ein Niesen; fremder Leute Leben, Gefühle, Gedanken schießen mir impulsiv durch alle Nerven, & zehn Sekunden später, das Buch zugeklappt & alphabetisch einsortiert, vergeht mir kitzelnd jeder Satz. Ich werde nicht besser vom Lesen, ich wachse nur, antizyklisch zum Papier, werde Baum, Rinde, Ringkreis an Geschichten, schieße in die Höhe & dem Leben davon, atme.

3.
Glück––das ist eine Folge guter Umstände, das ist mein Kopf auf deinem Bauch, dein Kopf auf meiner Brust; das sind die Tage, die wir gemeinsam verbringen. Wenn unsere Finger sich verhaken. Wenn wir gemeinsam unter der Dusche stehen & lachen. Wenn wir auf der Couch liegen––müde geschlagen von der Arbeit der Nacht & der Wut der Triebe, die uns aufpeitschen wie wilde Pferde––& uns durch Netflix scrollen. Wenn wir Pläne schmieden: Hier––Spanien im Herbst & New York im neuen Jahr. Hier: Shows & Entertainment, & das Glück verliebter Leute. (Glück ist die Summe deiner Berührungen, du im Frühling & Herbst, deine kalten Füße, dein breites Grinsen). Es folgen Monate, die an uns vorüberfliegen, die heimlich Jahre werden, & sich plötzlich „Leben“ nennen. Ich bin eingebettet in dieses andere Leben, in diese andere Wohnung am Ostkreuz, Vorderhaus, dritter Stock, in die Alternative.

4.
So vieles, das sich verändert, so vieles, das sich bewegt. Ich komme kaum nach. Hier lese ich gerade Ernst Bloch & esse veganen Käse direkt aus der Packung; dort folge ich Greta Thunbergs Instagram & schreibe auf der Schreibmaschine ellenlange Briefe ohne Pause. Ich verschicke Schwanzbilder an Unbekannte, gieße namenlose Pflanzen in glänzenden Messingtöpfen; ich höre Haydn. Ich––das Substrat der Jahrhunderte, die Kakophonie verschiedener Zeitebenen. Während die Sonne brennt, lasse ich mir Bacchus auf den Oberschenkel tätowieren; dabei lese ich von schmelzenden Polkappen & Klimaflüchtlingen, über die ich vor Jahren schon schrieb, lese von der AfD, die nichts ist brauner Schaum auf verbrannter Erde, & den Ertrunkenen im Mittelmeer, streife dabei gedankenverloren die Haut der Pflaumen, die straff ist & glänzt, & denke nicht, erlebe bloß, wie die Welt aus allen Fugen springt.

5.
Worauf also bin ich eifersüchtig? Das Leben umbrandet mich, die Liebe. Ich bin überall. Ist es die Ruhe, die vermeintliche, die ich misse? Die erfüllten Versprechen vom Besseren––dem vollen Bankkonto, dem geschriebenen Buch? Sind es die kleinen Fehlstellen––die gebrochenen Backenzähne, die blaugeschlagenen Zehen? Ist es die Stille der Erzählungen, oder die Abwesenheit der Kunst, die mich schmerzt? Ist es die Eifersucht auf die Anderen, diese gesichtslose Wand aus Körpern, Bedürfnissen, Zielen, die sich mir Tag für Tag als Brille vor die Augen setzt? Die vermeintlich Erfolgreichen. Die vermeintlich Besserverdienenden. Dieser & jener Gegenstand fehlt dir noch, dieses & jenes Land hast du noch nicht bereist––ist es das? Oder fehlen mir Hunger & Ambitionen, der an Wahnsinn grenzende Wille etwas erreichen zu müssen? Ich trete weich auf dem Boden der Tatsachen. Ich spüre keine Hürden.

6.
Er sagt, ich sei zum Schreiben gemacht. Ein Automat des Schreibens, so nennt er mich. Die Schreibmaschine. Ich hab das alles schon einmal gehört, vor fast 10 Jahren das letzte Mal. Warum aber schreibe ich nicht? Was ist so falsch geworden am Schreiben, an der Auseinandersetzung mit sich, mit der Ungeduld & dem Abwesenden, mit den Ecken & Kanten, den schrecklichen Abgründen? Woran liegt es, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann auf meine eigenen Wörter? Das Smartphone? Hat es mich dumm gemacht? Unruhig? Ist es das Glücksspiel der Notifications, das mich betäubt? Oder ist es die Welt, die mich verstummen lässt? Die Episoden des Untergangs, die mir jedes Wort zurück in den Mund stopfen, die mich ersticken? Ist es der Rückzug in die Alltäglichkeit, die Selbstgenügsamkeit––zu wissen, dass noch Brot da ist, & Kartoffelsalat, dass ich auch morgen ein Buch aufschlagen & mich mit einem Getränk ins Kühle setzen kann, während draußen das Gras braun wird, & welk? Bin ich selbst zum Lotusfresser geworden?

7.
Wie besinnt man sich zurück auf Wesentliches? Was ist das Wesentliche überhaupt? Essen, Trinken, Schlafen, Verdauen, Ficken. Träumen––träumen auch? Schreiben? Vom Glas in den Scheiben, den Menschen hinter den Scheiben, den Menschen im Glas? Von Haydn? Von Ernst Blochs Hass gegen das, was er die ägyptische Strenge nennt? Was ist wesentlich in einer Welt der Überfülle, in der alles laut & wichtig scheint, in der alles da sein kann, wenn man’s nur bestellt? Ich falte Papier & Wäsche, ratlos.

Maschinenstürmer

1.
Ich träume vom Untergang der Insel. Ich sehe alles ganz genau, sehe, wie es passiert. Als die See sich plötzlich in die Höhe wirft. Wasser wird Finger & Hände, ragt hinauf bis zum Himmel – weiße Gischt, dein tollwütiger Kuss –, & stürzt dann laut hinab, wälzt sich kreischend über Sandburgen, Handtücher, Sonnenschirme, & verschlingt die Promenaden. Die Palmen verbeugen sich unter dem Applaus der Wellen. Als ich aufwache, schmecke ich verbrannte Schokolade. Das Zimmer ist leer. Das Bett streckt sich gleichmäßig in jede Richtung. Ich bin noch immer in Berlin.

2.
In der Küche dampft die Espressokanne auf dem Herd; es riecht nach Sonntag: nach aufgebackenen Brötchen & Kaffee. Der weiße Tisch ist leer. Hier frühstückt niemand. Nur den Kaffee, den gibt es wirklich. Ich tapse barfuß durch den Flur, an den Bildern vorbei, dem Goldspiegel, den Weißweinflaschen in der Ecke, den Fusseln am Teppichrand, puste in die Tasse. Wie still es ist. Wie weich das Licht. Ich setze mich ins Dritte Zimmer, ein Ort, den ich mir langsam schaffe, den ich mir einrichte. Hier stehen Pflanzen auf dem Fenstersims, ein Sessel mit Ausblick auf den Hinterhof; die Wände sind weiß. Es gibt keine Ablenkungen. Ich halte den Schreibtisch so aufgeräumt wie möglich. Nie erschien mir das Konzept der Leere wichtiger als in diesem Zimmer. Lässt sich’s so leben? Arbeiten?

Thoreau. Wieder. Ein Mann über den ich nichts weiter weiß als seinen zivilen Ungehorsam, seine Lebensökonomie, an ihn muss ich plötzlich denken. Nicht an den echten Menschen, nein. Ich habe ja keine Vorstellung von ihm als Person, ich weiß nichts von seinen biografischen Eckdaten, weigere mich, ihn zu googeln, Bildern nachzujagen, Fragmenten, die kein Ganzes ergeben werden. Ich konstruiere ihn vielmehr, mache Thoreau zur Schablone meiner Ideen. Ist das einfachere Leben das bessere? Muss ich erst Luddit werden, um glücklich zu sein? In der U-Bahn sehe ich die Bildschirmwände, auf den Straßen, in den Cafés. Überall bilden sich Menschentrauben, zusammengehalten von Bluetooth- & AirDrop-Übertragungen. Die Cloud schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen, verschlingt mehr als 1.000 Terawattstunden pro Jahr für unsere Inszenierungen. & wozu? Für Likes, Shares, Followers.

Ich bedaure eine Generation, die keine zwei Stunden ruhig sitzen kann, ohne sich im dunklen Spiegel selbst betrachten zu müssen. Selbst im Kino checken welche ihre Handys. Zähneknirschend seh ich das Weiß & Blau in Menschenmengen leuchten, in den abgedunkelten Konzertsälen: ein künstlicher Sternenhimmel – die Allgegenwart eines digitalen Gottes, der alles sieht & alles weiß. (Ist unsere Sucht nach & Abhängigkeit von Technologie wirklich so anders als eine Sehnsucht nach Gott?).

3.
Im Wind sitz ich, der zum Fenster reinkommt, & schmecke den Frühling. Was heißt einfach leben überhaupt? Was braucht ein Mensch – heute? Das, was er immer schon gebraucht hat? Ein Dach über dem Kopf, ausreichend Essen & Trinken, Bewegung, Intimität & Zärtlichkeit, Geborgenheit? Was heißt das in einer Zeit, in der das alles nicht genug ist? In der es um MEHR geht, um GRÖSSER & SCHNELLER, um skalierbare Modelle, erreichbare Ziele, um die Optimierung, die kein Prozess mehr sein will, sondern ein finaler Zustand? (Keiner will trainieren, jeder will shredded sein. Keiner will lesen, alle wollen alles wissen).

Kann ich einfach leben in einer komplexen Welt? Kann ich minimalistisch leben in einer maximalistischen Welt? Wie bleibe ich verbunden ohne mich zu verwickeln? Der Rückzug ins Private funktioniert nicht. Thoreau konnte früher vielleicht alleine sein, in seinem Wald am See. Heute geht das nicht. Heute hast du Trampelpfade, Geheimtipps, YELP-Empfehlungen. Je mehr wir werden, desto weniger gibt’s noch zu entdecken. Die Entzauberung der Welt? Sie ist gerade live auf Facebook. Der Lärm ist immer da, viele von uns hören ihn nur nicht mehr.

4.
Eine Rückkehr ist ausgeschlossen. Es gibt kein Zurück. Ich sitze mit der Kaffeetasse am Fenster, tausendmal gelebtes Staging: draußen strahlt der Hinterhof in der Sonne. Die Local Natives schmettern im Hintergrund. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts begriffen. Mich nicht, meine Träume nicht, & schon gar nicht die Welt.

I – H – R

Es ist schwierig zu verstehen, sag ich – & verschlucke mich an der Reiswaffel, an hauchdünner Margarine auf Styropor. Man serviert meinen Tod mit ungesalzenen Tomaten aus Holland & einem Schälchen entkernter Oliven. Hoffentlich hab ich kein‘ Schnittlauch zwischen den Zähnen, denk ich so beim Ersticken, nichts ist schlimmer als Schnittlauch zwischen den Zähnen.

Außer vielleicht… das richtige Sterben. In Wahrheit nämlich, da ersticke ich nicht. Ich schlucke runter. Würgend zwar & mit tränenden Augen, nee, geht schon, echt jetzt, danke, aber ich schaffe es, schnappe nach Luft, lebe. Fuck. Dem Tod gerade nochmal vom Plastiklöffel voll veganem Aufstrich gesprungen. Glück im Unglück sozusagen. Oder umgekehrt. Immerhin komm ich jetzt nicht mehr ums Verstehen rum, das so schwierig zu erklären ist. Große Augen glubschen mich an, mustern mein rotes Gesicht, meine tätowierte Haut unter den hochgekrempelten Pulloverärmeln, den Regenbogenfaust-Pin an meinem Jeansjackenrevers, wieder: mein rotes Gesicht, das langsam blass wird – blasser –, & rutschen über die Wand hinter mir zurück über den Hals, suchen den Kopf anhand von Haaren, finden das Weiß meiner Haut. So eine Atemnot irritiert alle Beteiligten. Mein Nahtoderlebnis verlangt nicht umsonst eine dramatische Pause – eine Stille, so tief & bleiern wie der Meeresgrund –, die ich versehentlich mit Mineralwasser auflöse, das viel zu laut ins viel zu kleine Glas gluckert. Als ich aufsehe, blinzeln mich wieder diese Augen an, lauernd. Augen wie gemacht zum Durchschauen. Also gut.

Ich habe alles geordnet, sag ich. & lebe doch im Chaos. Mein Leben ist eine Folge klarer Fehleinschätzungen. Ich stecke das Messer in die Spülmaschine, obwohl ich’s eine Minute später wieder brauche. Ich habe immer Senf im Kühlschrank, aber nie genügend Ketchup. Mir brechen Buchstaben aus der Tastatur, über die ich nie nachgedacht habe – & jetzt tu‘ nicht so, als hättest du je darüber nachgedacht, wie oft du so ein I – H – R tippst. Ich ersticke an Reiswaffeln & huste Asbest über den Frühstückstisch. Da ist kein Maß in meiner Sucht & Suche, in meinen niederen Alltäglichkeiten, aber ein zeitloses Verlangen nach Balance. Kein Wunder ich lese jetzt sechs Bücher gleichzeitig – über Feminismus & den Zweiten Weltkrieg, über Literatur, Essentialismus & Minimalismus, über Bäume –, & denke wie ein Räderwerk über die Verbindung all dieser Dinge nach, bin Maschine, gelebter Androismus. Vergesse alles wieder. Im Hintergrund dröhnt Mashrou‘ Leila: كل الآلات بتغنيله وبتكبله بانابيب, & mein Herz pumpt – dröhnend – Liebe mir durch alle Adern. Wie ist das möglich?

Die Frage geht hoch hinaus, über die entkernten Oliven & die Reste vom Asbest, schießt über den Tellerrand gegen Augen & Lider, drückt sich als Hand gegen seine Stirn. Ist das Seufzen? Seufzt du? Vermutlich. Ginge ich einen Schritt zurück, einen Moment nur, & griffe ins Räderwerk nach hinten, was sähen wir dann? Zwei Männer an einem Tisch. Drumherum: Eine Wohnung unbestimmter Größe. Draußen? Blattwerkgeflimmer. Ein blauer Himmel ohne Grenzen, diffuses Stadtleben in Andeutungen: Autotürenfensterscheibenmenschenkolonnen, Mülltonnenrumpeln. Ich. Du.

Die Wahrheit ist, ich begreife selbst nicht, was da eigentlich passiert. Mit mir & dir, mit dem Plural meines Lebens, mit meinen zahnlos-bissigen Projekten. Letztes Jahr noch, da hab ich einen Job zu Grabe geworfen, über die Klippe hinaus in eine aufgepeitschte See, & habe mich in meiner Wut als das begriffen, was ich sein wollte: Ein entfesseltes Tier. Also habe ich gebissen & gefaucht, habe das Bisschen Freiheit verteidigt bis zum Bittersten. Hier: eine Weigerung, ein klares Nein! Hier: Die Erfindung eines neuen Menschen.

& jetzt? Ist alles anders. Diesmal wirklich. Stil & Rhythmus, Klang & Semantik, Denkweise & Wortwahl, alles sieht anders aus in diesem Ausschnitt WELT, fühlt sich anders an. Die Möbel stehen woanders, die Gerüche sind neu. Mein Leben zwischen zwei Wohnungen – nein: mein Leben zwischen zwei Entwürfen – nein: mein Leben zwischen Politik & Wahnsinn, zwischen Tabletten, Staaten & Musik. Ich gehe auf Styroporplatten durch Luftpolsterfolie – & zwar als Messer.

Erklär das mal einem Menschen. Dass ich manchmal vor Wut laut heulen möchte; dass da ein Wolf eingenäht ist & keine Steine. Die Ungerechtigkeit rammt mich manchmal aus dem U-Bahn-Schacht meiner Wahrnehmung raus ins offene Gleisbett. Hier herrscht nichts als Krieg. Da sterben Menschen. Drüben leben sie in konzentrischen Kreisen, saufen Matcha-Latte & sprechen vom Frieden ihrer überteuerten Yogakurse, da wird lang & ausführlich diskutiert, wie sich heute wer selbst verwirklichen kann, & anderen schneidet man halt den Kopf ab. Ich bin manchmal so endlos ohnmächtig in meinen Privilegien, dass ich Amok durch jeden Supermarkt laufen möchte. Ich fühle Strom in meinen Nerven.

Verstehst du das?