Im Grunde habe ich jede Erinnerung daran verloren, wie es vorher war. Oder, um genauer zu sein: was vorher war. Im Gegensatz zu den gängigen Erzählungen, gibt es dieses Vorher-Nachher nicht, die Dichotomie der Menschheitsgeschichte, die große Dualität – gibt’s nicht. In Wahrheit ist alles nur ein Übergang, oder: Übergangen-Werden. Da wacht man eines Morgens auf & die Menschen um einen herum sind schlicht & ergreifend verrückt geworden. Peter trinkt morgens seinen Kaffee mit Whiskey, sitzt in enger Unterwäsche vor dem Computer damit er nach den Zoom-Calls leichter masturbieren kann, & setzt sich gerne eine Basecap auf, damit niemand seine ungewaschenen Haare sieht. Clara backt jeden Tag Brot, das sie an ihre Nachbarn verschenkt, obwohl denen bereits längst jedes Brot zum Halse raushängt, aber na ja, was will man machen? Wegschmeißen kann man’s immer noch, nur aufpassen muss man dabei. Also stopfen die Collwitzens die Brote immer ganz zuunterst in den Biomüll & ersticken alles unter Bananenschalen in verschiedenen Zersetzungszuständen. Da geht keiner mehr dran. Tanja macht Yoga, gefühlt meditiert sie sich in Ohnmacht, vielleicht liegt das aber auch an den Räucherstäbchen, die hat sie bei Amazon bestellt, weil die grad im Angebot waren, & wer weiß heutzutage schon, was die Deutschen als nächstes hamstern? Mario verbringt die meiste Zeit auf Grindr, wo er mit anderen Schwulen unrealistische Sexfantasien pflegt, an deren konkrete Erfüllung keiner mehr so richtig glaubt, & kompensiert seine Horniness in der Regel mit Thirst Trap Pics, die er beiläufig auf Instagram hochlädt ohne sich um die steigenden Followerzahlen zu scheren. Silke strickt viel, aber das hat sie schon vor Corona gemacht, von daher ist das kaum mehr der Rede wert. Markus liest viel, hauptsächlich Science-Fiction-Romane, von denen er das Gefühl hat, sie brächten ihn im Leben voran, & hört dabei launige Popmusik aus den Zweitausendern, die er jetzt ganz nostalgisch mit einer besseren Zeit assoziiert, dabei war damals eigentlich überhaupt nichts besser; er hat damals die gleichen seichten Novellen gelesen wie heute & sich beim Lesen stets überlegen gefühlt, nur war er damals jünger & seine Ignoranz gegenüber dem Weltgeschehen war wesentlich größer, sodass er die großen schlimmen Dinge nie so bewusst wahrgenommen hat. Husam raucht viel, vor allem abends, & blättert verträumt durch Kataloge, die ihm Wohnwelten zeigen, die er sich nicht leisten kann, weil er seit Monaten in Kurzarbeit ist & nach der ganzen Krise vermutlich arbeitslos, aber hey, Husam bleibt optimistisch, was soll er sonst tun? Für die Verzweiflung gibt’s Social Media. Generell: Alle sind im Internet, jederzeit, überall, es gibt keine Pause mehr vom Scrollen, wäre das Display der Smartphones rau wie Schleifpapier hätten die meisten Menschen keine Hände mehr, but anyway, it’s good to share. Alle sind müde. Alle sind unbestimmt traurig, als gäbe es einen anderen Anlass als die erschreckende Leere, die einem der Kapitalismus gelassen hat, als wäre die Reduktion aufs Wesentliche eigentlich eine unverfrorene Unverschämtheit. Alle sind mit dem Wesentlichen überfordert – seit Jahren war das Wesentliche unsichtbar, wie ein französischer Autor der Gesellschaft irgendwann mal erfolgreich weisgemacht hat, & jetzt sind die Menschen im Jahr 2020 plötzlich ganz verblüfft, dass das Wesentliche so schrecklich hässlich vor ihnen steht. Moment mal, das kann’s doch nicht gewesen sein?! Nein, Bettina, ist es nicht. Du hast dir die Fähigkeit nur abtrainiert, das Wesentliche überhaupt wahrhaben zu wollen. Die Wahrheit ist: Queen Corona hält uns den Spiegel vor & zeigt eine Kultur der Verzweifelten, die nichts mit sich anzufangen weiß, die absolut & restlos am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, weil die Ablenkung, die wir seit Jahren vor uns selbst gesucht haben, nicht mehr möglich ist, weil der Lärm, den wir erfunden & perfektioniert haben, genau dahin zurückgekehrt ist, woher er ursprünglich stammt: in unsere Gehirne. & jetzt, Trommelwirbel, die Erkenntnis: Genau das alles sind wir. Wenn es kein Tischkonfetti mehr gibt, kein Gelächter aus der Konserve, kein Techno & kein Theater, dann ist das die Menschheit ohne Zierde. Dann ist das die Menschheit ohne die hochgedrehten Kontraste & Filter. & wie schrecklich langweilig, wie schrecklich öde sind wir doch in unserer bloßgestellten Verletzlichkeit, das wir so hungrig sind nach all dem bunten Flitter. Die Wahrheit ist: Wir waren nicht vorbereitet auf diese gnadenlose Enthüllung. Wir waren nicht gewappnet, uns selbst so schonungslos zu begegnen. & jetzt sitzen wir alle ganz entzaubert vor unseren mobilen Endgeräten & suchen die letzten Reste, die unsere Welt zusammenhält, & schmieren ein wenig von der überlegenen Abgeklärtheit der Prä-Corona-Zeit darauf. Na dann, Like.
Alexander Winter
Tag vs. Nacht
Die Gewalt der Tage: Fünfzehn Schritte von einem Sitzplatz zum anderen, so geht sich einer selbst auf den Leim; er folgt seinem Schwanz bis er sich selbst in den Schlaf gerannt ist. & das geht ganz schnell. Erschöpft sind Tag & Nacht der gleiche Zustand. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Vergangenheit & Zukunft, die Menschheit hat während der Pandemie all ihre Uhren zerschlagen. Montag & Mittwoch, Juni & November – die Götter neigen ihre Häupter längst einer anderen Erde entgegen. Diese, Version eins Punkt null, ist gottleer, eine entrümpelte, still gezischte Stadt ohne Menschen. Draußen sind Tauben, man hört die Füchse im Müll wühlen, manchmal trippeln die Igel mit ihren kleinen Füßchen über Gehwege & Straßen. Wer hätte gedacht, dass es heimlich passiert, ohne Knall, ohne Eruptionen, die Apokalypse als schleichenden Prozess. Du bist zu pessimistisch.
Die Nächte sind erfüllt von Erinnerungen, alles knistert, alles vibriert. Die Nächte sind Bettdecken, die zwischen die Füße geknüllt werden, die – verkeilt – über Bettkanten rutschen, die verschwinden & dann plötzlich wieder da sind. Wer sind wir, wenn wir schlafen? Du. Ja. & ich. Zwei Männer, die sich jeden Tag tapfer gegen die Nachrichten wehren; die drehen die Popmusik so laut auf, dass die Glühbirnen flackern; die waschen die Wochen & lüften die Zimmer, die hängen sich & die Socken ins Licht & warten auf trockene Zeiten; da geht einer durch die Räume & zwickt den Pflanzen die braunen Flecken ab, der wässert & sprüht, der hofft auf einen Dschungel inmitten der Wüsten. Was tun, was wollen? Was sagen, was singen? Der andere, der hungert dem Leben, der rührt den Kuchenteig an, backt Schokolade & Früchte, der stürzt das Naschwerk & baut sich zuckrige Türme. Wir gehen gierig durch das Rund unsrer Augen, wir gehen im Viereck, als Dreieck durch die Nächte. Ich verliere meinen Verstand.
Ich habe nichts als die Wahrheit zu geben, habe nichts als diesen zitternden Leib. Hier, schau, hier verliert einer die Nerven & öffnet die Fenster & schreit: Hier draußen ist alles im Umbruch, das hat nur noch niemand verstanden.
Centerpiece
Dienstag. Es ist kalt im Zimmer, aber den Pflanzen geht’s prächtig. Alles gedeiht. Naja, nicht alles. Ich gedeihe nicht. Andererseits bin ich auch keine Pflanze. Well played, mother nature. Well played. Ich. Das ist der Mann Mitte 30, der sich manchmal wie Dante fühlt. Die dritte Person Singular. Dabei ist nichts Singuläres mehr in meinem Leben. Ich bin umgeben von Menschen, verfangen im Vielen: Ich, das ist Gestrüpp. Also doch: Pflanze-Gewordenes.
Nein. Wirklich. Ich versuche Wurzeln zu schlagen an einem neuen Ort – in einem Raum mit Blick auf ein Dreieck Himmel, mit Kakteen & Sukkulenten auf dem Fenstersims, mit neuem Schreibtisch & vollen Regalen, mit mehr Büchern, die sich auf Heizkörpern stapeln. Ich trinke Wasser aus geschliffenen Gläsern. Das ist mein neues Zuhause: ein lichtdurchwirkter Raum, ein sonnengetränkter; ich bade im Hellen. Meine Haut prickelt, die Lippen & Augen – alles, was dieses Licht berührt, vergoldet. Hier also lebe ich jetzt; richte mich ein – mit Wänden, die erst grau waren, die jetzt weiß sind, & mit ochsenblutfarbenen Dielen. Wie anders alles aussieht. Ich, die Möbel. Nur die Bücher sind zum Großteil die selben, der graue Sessel, ein paar Bilder, die jetzt in verschiedenen Zimmern hängen. Ein neues Kapitel ohne Hervorhebung & ohne Absatz. Kapitel 3. Ein Fließtextkapitel. Keiner hat die Übergange bemerkt von einem Leben ins andere, es ist ganz heimlich passiert.
Dabei könnte man meinen, ich hätte alles verändert mittlerweile. In über 12 Jahren Berlin ist der Mensch, der Tubinga – die Sturmhöhe, die Italiener – verließ, zum zirkulären Prozess geworden. Dabei geht es weniger um die Erfahrungen. Die angesammelten Erinnerungen, die ihrerseits nur Emotionen bebildern, sind nicht die Essenz meines Lebens; sie sind bloß Stationen, Markierungen in einem Weg ohne konkreten Anfang & ohne konkretes Ende. Wir faden ein & aus, wir verschwimmen im Werden zu Fragmenten. Das bin ich mit 6 Jahren, hier bin 18 – dort sitzt einer & spielt Schach, dort steht einer am Grab seiner Tante, dort halten sie Händchen & küssen die Nacht. Ich als Abfolge.
Habe ich erwartet – wirklich, ernsthaft erwartet –, dass die Veränderung, die große – großgeschriebene – VERÄNDERUNG mit einem Knall kommt? Dass sie mit dramatischer Musik unterlegt, schnell geschnitten, in Collagen zergliedert zum Centerpiece meiner Biografie wird? Es ist der Fantasie schlechter Schriftsteller zu verdanken, dass wir lebensverändernde Situationen nur als Tumult begreifen, als fundamentale Umwälzung alles Bestehenden. Filme haben uns vermeintliche Meilensteine gezeigt, die Literatur liefert uns pausenlos exemplarische Schilderungen fremder Leben. Es folgen Anrufe mitten in der Nacht, melancholische Rückblenden, ein tränenbekränzter Augenaufschlag, hier: Geigen-Solo: Der Trigger – hier passiert gerade das wahre, das große, das einzig wahre Leben. Die Dramaturgie großer Gefühle. Alles andere sind nur billige Abziehfolien, ein schlecht gefälschtes Imitat.
Was aber, wenn das wahre, das große, das einzig wahre Leben im Heimlichen passiert – im Kleingedruckten? Beim Abspülen abgeschlagener Teller & Schüsseln, beim umständlichen Zusammenfalten unhandlicher Kartons, bei einer Begegnung, die so beiläufig, so flüchtig ist, dass man sie fast vergessen könnte, wäre da nicht diese eine Sekunde Herzstillstand. Was, wenn der Subtext unserer Existenz nicht mehr die neuen Eroberungen & Entdeckungen ist, sondern die Auslotung des Bekannten? Was, wenn alles bereits da ist – in der unmittelbaren Umgebung – diesem Raum – diesem Ich? Wäre das nicht vielleicht doch eine Art des Gedeihens? Still & beständig, & unaufgeregt. Ein Gedeihen ohne Erwartungsdruck. & auch: Ein Gedeihen ohne Ziel. Wäre das so schlimm?
Veits·tanz
Wir gehen am Vier der Wände entlang,
gehen ziellos im Kreis –
die Schwerter als Decke,
Särge wie Fenster –
& sehen draußen die Bäume blühen,
die Knospen zerrieben zu Laub;
wie viele Tage, sag, wie viele Tage sitzen wir schon an die Tische genagelt? Unsere Haut wie Rinde, wie Unverputztes, roh gemachte Haut tragen wir an unseren Händen, die desinfiziert, die zergliedert, die reißt auf unter der Seife & fügt sich in Plastik zusammen zu neuen Objekten. Das sind nicht die Hände von Liebenden. Diese Hände schaufeln euch Gräber.
In Wahrheit gibt es keine Tage zu zählen. Da ist der Schlaf, durstig leer getrunken, & folgend: die einstudierten Routinen. Das Zähneputzen, das Meditieren, das Lesen im Sessel. Alles Neutrum, alles ohne Gefühl. Das hier sind nichts als Objekte, abgeschält von Kontext & Raum. Ich könnte überall & jederzeit die goldene Uhr aufziehen, die Tabletten nehmen. Das Mineralwasser im Glas prickelt erst laut, wird leiser, verstummt. Der Nacken schmerzt immer. Hier ist Computergegenlicht, es hat mir die Sonne ersetzt. Es gibt nur einen kleinen Ausschnitt Himmel.
Aufstehen, gehen, sitzen –
der Tod streut Glitter in die Straßen,
Geruchloses;
wir gehen durch Ausgeatmetes,
durch Abgas & Gift,
als Kringelwölkchen entkommen wir
Lippen
hinter verschlossenem Stoff –
wen atmen wir ein
im Ringen nach Luft?
Heute ist Dienstag, vielleicht Samstag. Nirgendwo lachen die Kinder. Ich höre keine Hunde mehr bellen, nur die Vögel, die Vögel hör ich morgens, wenn der Schlaf umgeht als trockener Husten, höre das Zwitschern, das gleichgültig ist. Weshalb sollten sich die Vögel für uns interessieren?
Den Kopf zur Ruhe bringen, empfehlen sie, sich nicht belasten soll man sich. Der Kopf aber ist schwer, ist Bleikugel & Schwergewicht, meine Welt besteht aus Knochen, Sinnen & Hirn. Kein Wunder mir schmerzt so der Nacken. Diese Welt will nicht stillstehen. Die Augen tanzen, stürzen durch Zeilen, springen durch die Köpfe der Fremden. Wie schrecklich ist diese rasende Ruhe – wie schrecklich der Tumult! Meine Finger knistern, meine Lippen. Klebt da Glitzer an diesem Mund?
Käme doch nur der Wind
durch die Straßen &
brächte Regen wie Antiseptika;
könnte doch nur der Sturm alles abwaschen,
alles auflösen, was liegen blieb
vom Gestern,
& einen neuen Morgen anspülen,
der uns erfrischt.
Unruhen
1.
Als sie die Tür öffnet, fährt ihr das Licht schräg von hinten in die blonden Haare, verfängt sich in den Perlen, im Silber, entzündet ihren Kopf & macht ihn zur Sonne. Du bist ja schon hier. Was hast du erwartet? Lena fällt mir durch die Tür direkt in die Arme. Da –– Minze, Brombeere, sie riecht nach Basilikum & Rosmarin, ich bin eingehüllt in ihren Wald- & Wiesenduft, & lächle. Komm rein. Du bist der erste.
2.
In der Küche, die klein ist & verwinkelt, sitzen wir über zwei Tassen Kaffee mit Zimt; sie teilt einen Apfel in ungleiche Hälften, ich puste in die henkellose Tasse & rühre im Schaum. Wer kommt denn alles? Oh, alle. Auch – – Ja.
Als es klingelt, weiß ich genau, wer als nächstes durch den Flur hereinkommen wird, & als ich sein Gesicht sehe, die Ecken & Kanten, seinen kupfernen Bart, pocht mir sofort das Herz in den Schläfen.
Joseph.
Sein Name ist wie Holz auf meiner Haut, weichgeschliffen von den Jahren der Abwesenheit, zu Samt gemacht von Erinnerungen, die wie Schmirgelpapier über all die Tatsachen hinweggegangen sind. Er steht einfach da, die Schultern so breit wie die Tür, & schaut mich an, die hellen Augen wie Lichter. Warum ist hier alles erfüllt von Licht? Du Idiot, sagt Joseph. & die ganze Küche dröhnt von seinem Gelächter.
3.
Wer ist dieses Ich, wer der Erzähler? Das Subjekt erschafft sich im Erzählen selbst –– knüpft Kohärenz in eine zufällige Abfolge verschiedenster Ereignisse. Ich, das ist Plural, & Tanz, das ist der Himmel & die See; eine Abtrennung vom Gegenwärtigen durch die Retrospektive des Erinnerten. Ist der 17-jährige Teenager unter dem Dach Ich? Ist es der König der Narben, der in den Fluten schwamm, die Hand zwischen den Sternen, hoffnungslos verloren im Wollen, den Blick in der Tiefe?
Ich, das ist eine Vielzahl von Menschen, & manchmal, da begegnen sie sich. Da kommen sie zur gleichen Zeit zur gleichen Tür herein & rempeln aneinander, da sehen sie sich an. Dann ist es so, als würde sich die Zeit einfach aufheben, dann sieht der 17-Jährige den 34-Jährigen & den 24-Jährigen & den 45-Jährigen, & alle sind sie gleichzeitig. Dann bin ich kurzzeitig eins. Für ein paar Augenblicke, oder Jahre, da verschmelze ich im Blick der eigenen Vielheit zum Alles, einem Wesen mit klaren Erinnerung an Künftiges & Vergangenes, an Verlorenes & Kommendes, da gibt es keine Risse & Spaltungen, keine Trennung gibt es dann von dem, was sie Ewigkeit nennen, weil es keine Grenzen mehr gibt in all diesen vielen verschiedenen Ichs, in der Vielzahl der Stimmen, die alle nur ein Wort sagen, nur dieses eine. Nur Ich. Immer & immer & immer.
Wie Herzschlag & Blut, wie der Strom der Synapsen, die Zellen, die Atome, die Summe der Einzelteile, ins Unendliche gedreht, gespiegelt: der Blick in den Spiegel des Spiegels, ein ewiger Flur aus Spiegelungen & dahinter: eine ewige Gegenwart, ein endloser Fluss.
4.
Später sitzen wir im Wohnzimmer, wir sind jetzt zu siebt. Zoey ist da, ihre Hand in der Hand eines anderen, eines hübschen Jungens namens Clemens, der auch schon über 30 ist, wie sie sagt, der aber aussieht wie 20. Als hätte die Zeit ihn verschont. Der muss viel schlafen, denk ich, genügend trinken, viel Sport machen & meditieren, der muss sich die ganze Achtsamkeit morgens aufs Brot schmieren & mit zur Arbeit nehmen, wo er selten sitzt, sondern lieber steht, denn so einer steht gern, denk ich, der stretched bestimmt regelmäßig seine Muskeln, die kaum vom Stoff verborgen werden, & geht nach dem Feierabend noch schwimmen. Clemens ist Zoeys Gegenstück, erzählt sie. Ach, sie seien so unterschiedlich, dass es fast wehtut, eine Anekdote der Leidenschaft: Sie, wie sie den Kaffee vergisst, er, wie er Kaffee nicht ausstehen kann, oh my –- ich lächle nur, lächle das Lächeln eines Mann, der nicht gut altert, der zu wenig trinkt & sich nicht ausreichend bewegt, der im Rücken steif wird, dessen Gelenke krachen beim Aufstehen, der nicht genug schläft.
Hier ist Marlene –– unser rotes Ausrufezeichen in einem pastellfarbenen Text. Dein Pullover muss ein Vermögen gekostet haben, sagt Lena, & Marlene lacht. Roter Kaschmir ist auch nicht mehr das, was er mal war. Sie raucht am Fenster wie ein Starlet der 40er Jahre, die rote Fee, in der einen Hand die Kippe, in der anderen die weiße Kaffeetasse mit rotem Lippenstiftrand, & ascht gekonnt gleichgültig neben die Untertasse, die als Aschenbecher herhalten muss.
Zu ihren Füßen sitzt Claude, den ich von weitem kenne; er ist wie der Wasserturm am Ostkreuz –– ein Gebäude, das ich regelmäßig sehe, an dem ich vorüberlaufe, das beim Tanz der S-Bahnen von links nach rechts vorüberzuckelt, von dem ich aber rein gar nichts weiß. Er sitzt da, eine Marionette mit gekappten Schnüren, in sich gesunken & schweigt, schweigt schon seit Stunden, den Blick dicht über dem Boden kreisend, hebt er nur manchmal die Augen, um ziellos den Raum zu mustern, so als suche er was; er weicht mir aus dabei, überspringt mich, der zwischen Lena & Joseph sitzt, & meidet mein Gesicht, meinen Körper.
5.
Was aber treibt uns um, was macht uns schlaflos & irr? Wie heißt der Abgrund, vor dem wir stehen? Wir reden ohne Pause, befühlen einander Scharten & Brüche; wir gehen einander in die Falle: Wenn wir vom Job reden, meinen wir eingeplantes Unglück –– wer von der Liebe spricht, deutet auf unverhoffte Zufälle. Aus Einzelnen formt sich, wie früher, durch Kaffee & Zigaretten, durch die Musik, die unaufgeregt im Hintergrund die Geschwindigkeit unserer Herzen bestimmt, eine Gemeinschaft, ein Ganzes. Wie Puzzleteile, die, einst unwiderruflich zusammengehörig, erst willkürlich auseinandergerissen wurden, jetzt wieder zusammengesucht werden. Was ist Wir anderes als eine Erweiterung des Ichs?
Wie also machen wir weiter, fragt Zoey. Zoey, Totgeglaubte. Wie sie einfach auf diesem Holzstuhl sitzt, den Kopf auf der Hand, die auf dem gebeugten Knie liegt –– eine Pose der Träumer ––, als wäre sie vor Jahren nicht einfach verschwunden, als hätte sie der Stadt nicht den Rücken gekehrt in der Hoffnung, sich zu finden. Sie hat sich noch immer nicht gefunden. Aber Clemens, den hat sie. Der breitet die Arme aus & streckt sich die Brust, sagt: Wir machen einfach weiter. Was sollen wir sonst tun?
So viele Ideen schießen mir durch den Mund, alle lodern auf hinter den Lidern: Der Weltbrand, die Revolution –– der Aufstand der Antipoden. Ich fühle mich so nutzlos, sag ich. Seit Jahren schon fühl ich mich nutzlos. Alles, was ich mache, ist weitermachen, ich mache solange weiter bis das Ende erreicht ist –– meine Ziellinie ist nicht das Armenhaus, sondern der Friedhof. Das reicht nicht. Ich sehe meine Generation degenerieren vor ihren Bildschirmen, süchtig & hungrig, ans Wollen gekettet wie Hunde im Zwinger, aber unfähig, aus diesem Kerker zu entkommen. Ich bin da natürlich nicht besser, füge ich an, & senke verlegen den Kopf, die Ohren rot.
Das Narrativ muss sich ändern, sagt Lena & streicht sich über die Narbe am Kinn. Wir fügen nichts Neues hinzu. Wir wiederholen nur das Alte.
In diesem Moment begegnen sich zum ersten Mal unsere Blicke. Claude –– ich, ein Tritt ins Nichts, eine Unebenheit der Straße, über die das Auto hinweg fliegt: Schwerelosigkeit für Millisekunden.
6.
Claude sitzt auf dem Badewannenrand & sieht mir dabei zu, wie ich mir umständlich die Hose wieder zuknöpfe. Schöner Schwanz, sagt er & grinst. Okay, sag ich, weil mir nichts Besseres einfällt & wasch mir die Hände. Nein, also, ich meine. Mir ist egal, was er meint. Ich rolle die Augen. Hör mal, sag ich, ist okay. Wir brauchen keinen Smalltalk machen. Ich geh jetzt. Verwunderung, Enttäuschung vielleicht blitzt in den Augen, die farblos sind, fast weiß; hat er noch keine der Geschichten gehört? Von mir? Ich dachte, wir könnten — Können wir nicht. Aber — Nein.
Draußen im Flur sitzt Lena mit Marlene, beide reden laut, es klingt wie ein Streit. Du kannst doch nicht ernsthaft annehmen, dass sich dadurch irgendwas ändert –– sie sagt üüürgendwas –– oder dass du dich deswegen änderst. Das hält das Problem doch bloß aufrecht. Marlene rauft sich die Haare, rauft sich das Rot in verschiedenen Tönen. Wir haben in jedem Landtag die beschissene AfD sitzen, was denkst du, wo das Problem liegt, bitte?
Wie auf Zehenspitzen geh ich an ihnen vorbei & nehme die Jacke vom Hacken; schlüpfe in meine klammen Schuhe mit viel zu dünnen Socken. Wie ändert man das Narrativ –– der Gemeinschaft & des eigenen Ichs? Oder anders, früher angesetzt: Warum vertrauen wir so sehr auf dieses uns gegebene, dieses vor-erzählte Narrativ, von dem wir wissen, welchen Schaden es anrichtet? Von dem wir wissen, dass es uns nicht nur nicht glücklich machen, sondern regelrecht ins Verderben stürzen wird?
Ich gehe ohne Antworten, beunruhigt & rastlos.