Donnerstag, 22.04.2021. Ich denke nicht dran, leiser zu sein. Im Gegenteil, meine Finger drücken aufs Plus der Tage: Es gibt keine Alternativen, ich muss lärmen. Das Schweigen – das eigene, das ganz persönliche: das Schweigen hinter der Stirn, das Lidinnenseiten-Schweigen – war bloß ein Stilmittel, ein Requisit. Das Schweigen hat ausgedient in Zeiten der Pandemie*.
*Wird diese Pandemie die nächste ersetzen, oder werden wir von Covid gesprochen haben wie von der einen Pandemie des 21. Jahrhunderts; werden wir Zuschreibungen brauchen, Ergänzungen, Fußnoten? Apropos: Wer zählt all diese Toten, wer lagert sie, wer begräbt sie uns, wer setzt ihnen die Steine, gießt ihnen die Blumen, wer ist übrig vom Sterben, wenn das Sterben die Norm ist?
Ich habe alles automatisiert, was mir das Leben gab. Alle meine Wörter lesen die Maschinen gegen, sie bestellen mein Essen, geben meiner Stimme den Raum. Wann & wie habe ich zuletzt das Haus verlassen? Die Maschinen wissen alles, sie sortieren & archivieren mich, sie prägen mir ihre Zeitstempel ins Fleisch. Morgens & abends träume ich davon, wie es ohne sie wäre – ohne all die Algorithmen, die mich durchwirken, die mir Musik ins Viereck bringen, das Wissen der Fremden; ohne die Apps, die meine Bedürfnisse nach Ablenkung kennen, nach Aufmerksamkeit; ohne die Taktung des Internets –, dabei sind die Traumfenster leer, die Welt unvorstellbar. Es gibt keine andere Wirklichkeit mehr als diese.
Der Vorsatz: Schreiben. Das Schreiben sich zur Luft zum Atmen machen. Das Schreiben nutzen, um die bösen Geister zu vertreiben, the bad mojo, das sich eingenistet hat in unseren Köpfen & Herzen, das aufpoppt beim Lesen der letzten Tweets. Das Schreiben nutzen, um zu reclaimen – sich & das unantastbare Selbst, aber auch: das Potenzial**, das verloren ging im Laufe der Jahre.
**Potenzial wird nicht weniger, es braucht sich nicht auf; es wird nur weniger zugänglich. Ein Mensch, der sein Potenzial nicht nutzt, wird unbeweglich – oder: faul. (Faulheit heißt hier aber nicht Weigerung (sich weigern, am Kapitalismus teilnehmen, nicht funktionieren zu müssen), sondern Faulheit bedeutet hier: Erstarrung). Was dabei vielleicht anfänglich noch als schmerzhaft registriert wird, entwickelt sich im Laufe der Zeit als Default, als unausweichliche Tatsache, gottgegeben. Die Starre/das Erstarren wird zum Schicksal, ein erreichbares Ziel. (re: Selbstbetrug).
Historisch gesehen? Bemühen wir uns wirklich um die Historifizierung des Augenblicks? Natürlich ist das alles historisch gesehen nur eine Lappalie, wie Schluckauf. Die Atemnot der Vielen ist keine tatsächliche sobald man sie auf den ewig-eilenden Zeitstrahl schnallt; keine:r redet heute mehr über die individuellen Erfahrungen der Pestkranken, & selbst die Opfer der Spanischen Grippe sind schon eindimensionalisiert, nummeriert, abstrakt gemacht. Der Horror der Atemnot bleibt nur jenen vorbehalten, die sie selbst erleben. Alle anderen stehen betreten am Seitenrand, konstatieren die Irritation (allenfalls), selten den empathischen Schock des unmittelbaren Erlebens. Wir, die wir überleben, bleiben auf eine Weise zurück, die uns mangelt, wir begreifen das Zurückbleiben nicht, sehen das Ausmaß nicht. Wir empfinden Dumpfheit, Taubheit. Aber erlangen wir Zutritt dazu? Eine Möglichkeit, zu kontextualisieren?***
***Kontext durch Müßiggang; ein Privileg, das selten gecheckt wird. Nur wer in der Lage ist, sich Zeit zu nehmen, schafft für sich die Fähigkeit, zu reflektieren.
Feststellung: Heute habe ich mich hingesetzt, um zu schreiben; das Schreiben dient mir als Anker. Ich schreibe als Lautstärkeregler, als Höhe & Bass, kurzum: als Ton. Ich füge den Tagen einen Ton hinzu, der immer da, aber selten hörbar ist. Es geht dabei um die Pandemie & um das Potenzial & vor allem auch um den Kontext. Es geht um das Formulieren von Lösungen in einer lösungsarmen Welt, einer Welt in anhaltendem Ausnahmezustand. Einer Welt in Atemnot. Lass mich neuer Atem werden, lass mich atembar sein.
Von mir kommt ein Ton der Freude, ein virtuelles Blingbling, weil ich so mag, wenn Du lärmst und Dir Luft verschaffst in dieser atemlosen Zeit.
Liebe Grüße von Amélie