Queen Corona, your reign is harsh

Im Grunde habe ich jede Erinnerung daran verloren, wie es vorher war. Oder, um genauer zu sein: was vorher war. Im Gegensatz zu den gängigen Erzählungen, gibt es dieses Vorher-Nachher nicht, die Dichotomie der Menschheitsgeschichte, die große Dualität – gibt’s nicht. In Wahrheit ist alles nur ein Übergang, oder: Übergangen-Werden. Da wacht man eines Morgens auf & die Menschen um einen herum sind schlicht & ergreifend verrückt geworden. Peter trinkt morgens seinen Kaffee mit Whiskey, sitzt in enger Unterwäsche vor dem Computer damit er nach den Zoom-Calls leichter masturbieren kann, & setzt sich gerne eine Basecap auf, damit niemand seine ungewaschenen Haare sieht. Clara backt jeden Tag Brot, das sie an ihre Nachbarn verschenkt, obwohl denen bereits längst jedes Brot zum Halse raushängt, aber na ja, was will man machen? Wegschmeißen kann man’s immer noch, nur aufpassen muss man dabei. Also stopfen die Collwitzens die Brote immer ganz zuunterst in den Biomüll & ersticken alles unter Bananenschalen in verschiedenen Zersetzungszuständen. Da geht keiner mehr dran. Tanja macht Yoga, gefühlt meditiert sie sich in Ohnmacht, vielleicht liegt das aber auch an den Räucherstäbchen, die hat sie bei Amazon bestellt, weil die grad im Angebot waren, & wer weiß heutzutage schon, was die Deutschen als nächstes hamstern? Mario verbringt die meiste Zeit auf Grindr, wo er mit anderen Schwulen unrealistische Sexfantasien pflegt, an deren konkrete Erfüllung keiner mehr so richtig glaubt, & kompensiert seine Horniness in der Regel mit Thirst Trap Pics, die er beiläufig auf Instagram hochlädt ohne sich um die steigenden Followerzahlen zu scheren. Silke strickt viel, aber das hat sie schon vor Corona gemacht, von daher ist das kaum mehr der Rede wert. Markus liest viel, hauptsächlich Science-Fiction-Romane, von denen er das Gefühl hat, sie brächten ihn im Leben voran, & hört dabei launige Popmusik aus den Zweitausendern, die er jetzt ganz nostalgisch mit einer besseren Zeit assoziiert, dabei war damals eigentlich überhaupt nichts besser; er hat damals die gleichen seichten Novellen gelesen wie heute & sich beim Lesen stets überlegen gefühlt, nur war er damals jünger & seine Ignoranz gegenüber dem Weltgeschehen war wesentlich größer, sodass er die großen schlimmen Dinge nie so bewusst wahrgenommen hat. Husam raucht viel, vor allem abends, & blättert verträumt durch Kataloge, die ihm Wohnwelten zeigen, die er sich nicht leisten kann, weil er seit Monaten in Kurzarbeit ist & nach der ganzen Krise vermutlich arbeitslos, aber hey, Husam bleibt optimistisch, was soll er sonst tun? Für die Verzweiflung gibt’s Social Media. Generell: Alle sind im Internet, jederzeit, überall, es gibt keine Pause mehr vom Scrollen, wäre das Display der Smartphones rau wie Schleifpapier hätten die meisten Menschen keine Hände mehr, but anyway, it’s good to share. Alle sind müde. Alle sind unbestimmt traurig, als gäbe es einen anderen Anlass als die erschreckende Leere, die einem der Kapitalismus gelassen hat, als wäre die Reduktion aufs Wesentliche eigentlich eine unverfrorene Unverschämtheit. Alle sind mit dem Wesentlichen überfordert – seit Jahren war das Wesentliche unsichtbar, wie ein französischer Autor der Gesellschaft irgendwann mal erfolgreich weisgemacht hat, & jetzt sind die Menschen im Jahr 2020 plötzlich ganz verblüfft, dass das Wesentliche so schrecklich hässlich vor ihnen steht. Moment mal, das kann’s doch nicht gewesen sein?! Nein, Bettina, ist es nicht. Du hast dir die Fähigkeit nur abtrainiert, das Wesentliche überhaupt wahrhaben zu wollen. Die Wahrheit ist: Queen Corona hält uns den Spiegel vor & zeigt eine Kultur der Verzweifelten, die nichts mit sich anzufangen weiß, die absolut & restlos am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, weil die Ablenkung, die wir seit Jahren vor uns selbst gesucht haben, nicht mehr möglich ist, weil der Lärm, den wir erfunden & perfektioniert haben, genau dahin zurückgekehrt ist, woher er ursprünglich stammt: in unsere Gehirne. & jetzt, Trommelwirbel, die Erkenntnis: Genau das alles sind wir. Wenn es kein Tischkonfetti mehr gibt, kein Gelächter aus der Konserve, kein Techno & kein Theater, dann ist das die Menschheit ohne Zierde. Dann ist das die Menschheit ohne die hochgedrehten Kontraste & Filter. & wie schrecklich langweilig, wie schrecklich öde sind wir doch in unserer bloßgestellten Verletzlichkeit, das wir so hungrig sind nach all dem bunten Flitter. Die Wahrheit ist: Wir waren nicht vorbereitet auf diese gnadenlose Enthüllung. Wir waren nicht gewappnet, uns selbst so schonungslos zu begegnen. & jetzt sitzen wir alle ganz entzaubert vor unseren mobilen Endgeräten & suchen die letzten Reste, die unsere Welt zusammenhält, & schmieren ein wenig von der überlegenen Abgeklärtheit der Prä-Corona-Zeit darauf. Na dann, Like.

2 Comments

  1. Du holst mit dem was Du brillant beschreibst die Goyafratze in medienlieben Formulierungen wie „neue Normalität“ oder „Social distancing“.
    Freue mich sehr, von Dir zu lesen!

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    1. „Goyafratze“ trifft es ganz gut, find ich. Danke! <3

      Antworten

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