Dienstag. Es ist kalt im Zimmer, aber den Pflanzen geht’s prächtig. Alles gedeiht. Naja, nicht alles. Ich gedeihe nicht. Andererseits bin ich auch keine Pflanze. Well played, mother nature. Well played. Ich. Das ist der Mann Mitte 30, der sich manchmal wie Dante fühlt. Die dritte Person Singular. Dabei ist nichts Singuläres mehr in meinem Leben. Ich bin umgeben von Menschen, verfangen im Vielen: Ich, das ist Gestrüpp. Also doch: Pflanze-Gewordenes.
Nein. Wirklich. Ich versuche Wurzeln zu schlagen an einem neuen Ort – in einem Raum mit Blick auf ein Dreieck Himmel, mit Kakteen & Sukkulenten auf dem Fenstersims, mit neuem Schreibtisch & vollen Regalen, mit mehr Büchern, die sich auf Heizkörpern stapeln. Ich trinke Wasser aus geschliffenen Gläsern. Das ist mein neues Zuhause: ein lichtdurchwirkter Raum, ein sonnengetränkter; ich bade im Hellen. Meine Haut prickelt, die Lippen & Augen – alles, was dieses Licht berührt, vergoldet. Hier also lebe ich jetzt; richte mich ein – mit Wänden, die erst grau waren, die jetzt weiß sind, & mit ochsenblutfarbenen Dielen. Wie anders alles aussieht. Ich, die Möbel. Nur die Bücher sind zum Großteil die selben, der graue Sessel, ein paar Bilder, die jetzt in verschiedenen Zimmern hängen. Ein neues Kapitel ohne Hervorhebung & ohne Absatz. Kapitel 3. Ein Fließtextkapitel. Keiner hat die Übergange bemerkt von einem Leben ins andere, es ist ganz heimlich passiert.
Dabei könnte man meinen, ich hätte alles verändert mittlerweile. In über 12 Jahren Berlin ist der Mensch, der Tubinga – die Sturmhöhe, die Italiener – verließ, zum zirkulären Prozess geworden. Dabei geht es weniger um die Erfahrungen. Die angesammelten Erinnerungen, die ihrerseits nur Emotionen bebildern, sind nicht die Essenz meines Lebens; sie sind bloß Stationen, Markierungen in einem Weg ohne konkreten Anfang & ohne konkretes Ende. Wir faden ein & aus, wir verschwimmen im Werden zu Fragmenten. Das bin ich mit 6 Jahren, hier bin 18 – dort sitzt einer & spielt Schach, dort steht einer am Grab seiner Tante, dort halten sie Händchen & küssen die Nacht. Ich als Abfolge.
Habe ich erwartet – wirklich, ernsthaft erwartet –, dass die Veränderung, die große – großgeschriebene – VERÄNDERUNG mit einem Knall kommt? Dass sie mit dramatischer Musik unterlegt, schnell geschnitten, in Collagen zergliedert zum Centerpiece meiner Biografie wird? Es ist der Fantasie schlechter Schriftsteller zu verdanken, dass wir lebensverändernde Situationen nur als Tumult begreifen, als fundamentale Umwälzung alles Bestehenden. Filme haben uns vermeintliche Meilensteine gezeigt, die Literatur liefert uns pausenlos exemplarische Schilderungen fremder Leben. Es folgen Anrufe mitten in der Nacht, melancholische Rückblenden, ein tränenbekränzter Augenaufschlag, hier: Geigen-Solo: Der Trigger – hier passiert gerade das wahre, das große, das einzig wahre Leben. Die Dramaturgie großer Gefühle. Alles andere sind nur billige Abziehfolien, ein schlecht gefälschtes Imitat.
Was aber, wenn das wahre, das große, das einzig wahre Leben im Heimlichen passiert – im Kleingedruckten? Beim Abspülen abgeschlagener Teller & Schüsseln, beim umständlichen Zusammenfalten unhandlicher Kartons, bei einer Begegnung, die so beiläufig, so flüchtig ist, dass man sie fast vergessen könnte, wäre da nicht diese eine Sekunde Herzstillstand. Was, wenn der Subtext unserer Existenz nicht mehr die neuen Eroberungen & Entdeckungen ist, sondern die Auslotung des Bekannten? Was, wenn alles bereits da ist – in der unmittelbaren Umgebung – diesem Raum – diesem Ich? Wäre das nicht vielleicht doch eine Art des Gedeihens? Still & beständig, & unaufgeregt. Ein Gedeihen ohne Erwartungsdruck. & auch: Ein Gedeihen ohne Ziel. Wäre das so schlimm?