Many sights to see

Wir trinken vom Wasser die Minze,
trinken den Regen der Nacht,
wir trinken vom Schweiß unsrer Tage —

1. Mittags lege ich meinen Kopf auf seine Brust, die mich hebt & senkt, die mich hinüberwiegt in leichten Schlaf, & als ich irgendwann plötzlich aufwache, klebt mein Mund an seiner Achsel & sein Lachen vibriert mir im Hals.

2. Abends sitze ich stumm vor Bildschirm & Papier, stumm vor den Buchstaben, die aufgereiht sind von links nach rechts & wieder zurück: Ich lese dich dfghjkl, lese dich mnbvc, hier: deine römischen Zahlen, hier: dein Tod in Etappen. Ich zähle die Leerzeichen zwischen den Atemzügen, zähle auf, was nicht zu sagen ist: Meine Gefühle, meine Gedanken, meine Geschichte, die immer ein Pamphlet des Aufruhrs war, & die sich jetzt liest wie eine Nachrichtenmeldung der Anpassung –

Um 8 Uhr morgens verließ Alexander W. das Gebäude, um, wie er heute sagt, zur Arbeit zu gehen. Er bemerkte auf seinem Weg nichts von all dem, was eigentlich geschah. Dabei hätte er es besser wissen müssen.

Denn eigentlich ist gar nichts mehr da. Nur quadratische Bilder, die in meiner Handfläche leuchten wie Stigmata. Ich lese eure Bilder, lese dich friedensdieb, lese dich ryan24, eure Körper sind wie Schichttorten zwischen meinen Fingern: ich scrolle Karamell & Schokolade, klicke durch Baiser. Keiner sättigt, keiner still Durst. Immer: die Nachrichten –
in Absätze geteilt,
die :) :O :(
zerfallen bis sie bloß noch Symbole sind. Meine Sprache ist die Sprache der Moodboads, Instagramfilter, YouTube-Videos. Jedes Bild ist leer.

3. Morgens komme ich in die Küche, & sie steht am Herd, barfuß, die blonden Haare wild & durcheinander. Im Hintergrund: Julie Driscoll.

Buon giorno! Es riecht nach Kaffee, nach Minze & Brot, der ganze Raum riecht nach ihr – nach Jasmin & Lavendel, nach Zedernholz & Tabak. Ich folge flüchtig den rostroten Tattoo-Linien ihres Gesichts, den bleistiftlinienfeinen Strichen, die sich unter ihren Lippen kreuzen, die links & rechts über ihren Schlüsselbeinen kreisen, auseinander streben wie geworfen, sich vielleicht irgendwo erneut berühren, da, unter diesem schwarzen Kleid, das Linien & Haut so voll & ganz versteckt, das Zeichen der Götter.

Sie lächelt – & wenn sie lächelt, zittern Salbei & Basilikum; da fühle ich den Strom in den Wänden & das Blut unter der Haut. Ihre Hände geben die Tasse weiter, in der ein Minzblatt schwimmt, & ihre Augen – grün wie Moos –, leuchten. Trink das lieber gleich, das gibt dir Kraft.

Was sie mir zu trinken gibt, weiß ich nicht, aber das muss ich auch nicht; ich vertraue ihr auf merkwürdige, unerklärliche Weise. Seit Hannah im Haus ist, kehrt allmählich Ruhe ein in eine Wohnung, die stets in Unordnung war.
Sie streute Salz in die Ecken & verbrannte süßes Holz, sie legte Amethyste & Bergkristalle zwischen die Türen & schob mir Kupfermünzen unter das Bett; sie spricht dabei vom Mond wie von einer Geliebten & von meinen Träumen, den unzeitgemäßen, wie von ihren eigenen. Ist sie eingezogen? Nein. Aber sie ist hier, jeden Tag; sie kommt morgens mit dem Schlüssel herein, bringt Kaffee & Kräuter, fegt die Treppen zum Hof & wischt den Staub von den Tischen. Hannah öffnet die Fenster. Wenn ich aus dem Flur komme, ist die Küche plötzlich der Mittelpunkt der Welt, da kocht & brodelt es, da riecht es nach Leben.

Es gibt so viel zu erzählen, denk ich. Ich denk’s jeden Tag. Aber das Erzählen ist mir kein Atmen mehr, sondern nur ein Stottern & Würgen. Wer sich verschluckt, trinkt nicht immer zu viel, sagt Hannah. Also trinke ich mehr.

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