Wenn wir gehn, geht die Welt: Asphalt, endlos, rollt sich ab unter uns; sie können gar nicht so viele Straßen nachlegen, wie sie unter unseren Füßen ab- & auslaufen: Elberfelder Straße, Alt-Moabit, Zwinglistraße, Gotzkowskystraße, Turmstraße – Moabit, das ist dein Februar, dein Sonntagnachmittag. Wir tanzen unter grauen Himmeln. Rechts: die Blattlosen, die graue Wächter der Stadt stehn stumm & tatenlos. Dazwischen: Kinderwägen, Fahrräder, Passanten ohne Gesichter – Finger, die über Screens & Displays wischen: Wir sind Gottes ruhelose Augen. Links: Häuser, eins nach dem andren aus Fels & Stein gehauen, Lärm aus allen Fenstern. Die Fassaden sprechen fremde Sprachen – schwarz & orange, rot & blau: Irgendwer hat atemlos den Beton besprüht – jetzt dröhnen alle Farben.
Wenn wir gehn, gehn Herz & Knochen: Hier pumpt mein, dein, unser ––
Ich ziehe die Schuhe aus in einem Flur ohne Dielen, die Wände sind grün. Dem Mund seh ich nach, dem Schnurrbart; ich sehe den Haaren nach, die aus dem Hemdkragen schauen; mein Mund ist trocken & rissig, aber ich bin nicht durstig, ich habe gefühlt mein ganzes Leben lang getrunken. Jetzt geh ich, den Rücken gestreckt, in den Purpurnen Raum, die Wände sind hoch, die Decke vier Menschen entfernt, & seh auf der Couch nach draußen zum Hof, sehe gelbe Streifen, weiße Vierecke, eine Symmetrie ohne Sinn & Verstand – ein Ausschnitt Welt: Zimmerpflanzen, ein Vorhang – eingeklemmt im gekippten Fenster, Alltag.
Wir liegen aufeinander wie belegte Stullen. Hier: zwei nackte Körper, einer haarig & dunkel, der andere haarig & weiß. Schwänze drücken gegeneinander, Oberschenkel, Nippel. Nie war einer mehr Mensch als am Menschen. Alles wirkt so herrlich zerbrechlich & gleichzeitig: schwer & massiv. Unverwüstlich. Was haben wir gebraucht, was verloren? Was haben wir gerufen & bestellt, was haben wir verbannt?
Als ich gehe – zerzaust & mit hungrigen Augen –, hängt mir das schwarze Shirt aus der Hose & die Schnürsenkel sind auf. Schließe ich die Augen –– schließ mir die Augen –– dann hör ich Stimmen & Licht, höre die letzten Worte, die stets auch die ersten sind, & im Hintergrund, fern, ganz fern: das Klavier. Die Episoden dauern an… Wie lange dauer ich noch? Denk ich ans Sterben, wird mir leicht, viel zu leicht für dieses zurecht gezupfte Leben. Alles, was ich fühle, sagt Dr. H, sind Echos. Wann war ich – nicht? Wann gab es dieses & jenes, wann gab es mich? Mit irgendetwas muss das doch alles angefangen haben. Oder nicht?
In Episoden: Montag & Dienstag, Mittwoch & März. Ein Sprung zu Juli, Oktober, 2019, 2020. Aus Baustellen werden Häuser, aus Menschen werden Gräber. Hier: Blumen, hier: die Sonne, die kreist wie gejagt. Auf den Simsen: Fliegen & Staub, die Fingerabdrücke. Ich gieße mir Wasser ein & neue Gedanken, ich stelle ein Buch zurück ins Regal, ein neues & wieder eins bis die Regale alle voll sind & die Wände bestellt. An der Kinotür lächelt – wer? Ein Spanier, ein Rumäne, ein Franzose. Hände, wie Sandpapier, reiben mich ab, reiben mich fort, & ich, gierig, verlange nach mehr.
Unter uns: die Räder, die Schienen – bodenlos: eine Welt außer Atem. Ich stehe nie still, bin Zugwind & Welle; suche, suche, suche. Wünschte ich mir ruhigere Hände, ein stilleres Herz? Oder ist es vielmehr ein Mehr, ein lauteres Wollen, das mich auffrisst bis nichts mehr bleibt als ein knurrender Magen? Ich gehe durch Moabit – ein entgleisender Zug könnte keinen größeren Schaden anrichten als ich: Hier – gebrochene Herzen, zerbissene Lippen, Schnitt- & Prellwunden, angebrochene Knochen. Ich bin dein Seitenstechen. Dein Sodbrennen. & dort? Ein Junge mit schmalen Hüften, der seinen Kopf auf meine Schulter legt & seufzt, der seine Hand in meine legt, der mich vermisst.
Früher, sagt Abraham, wolltest du genau all das, was du heute hast. Ist doch verrückt, oder nicht? Ich lache, drücke ihm einen Kuss auf den Mund & denke: JA! In der Sturmhöhe saß einst ein Mann, denk ich, & –– Nichts. Kylie Minogue brandet hundertfach verstärkt durch die Halle – Discoklugelflimmern, der Bass als Erdbeben –, & drei Männer in kurzen Hosen greifen schieben drücken mich – ich als bunter Schaum auf schwarzer Erde –, in die vorderste Reihe. Da vibrieren Haut & Haar, da reißt mir die Musik jedes Wort von den Lippen & zergliedert zu Konfetti. Wo bin ich eigentlich? Neukölln, sagt er. Ja, Neukölln, das ist dein Juni, das ist deine Sommersonnenwende, dein Rad der ewigen Wiederkehr.
Wenn wir gehn, scheint das gelbe Ziffernblatt über uns, die Himmel sind grau. Beim Späti läuft Cool Savas. Wohin gehst du eigentlich?, fragt er mich, die Hände tief in den Hosentaschen, die dunkelblaue Jacke bis zum Kinn hochgezogen. Rechts: Tote Plastikhüllen in grell ausgeleuchteten Schaufenstern, kitschige Brautkleider –
rote Spitze, gelber Tüll, lila Pailletten –, Dönerfleisch, das im eigenen Fett verbrennt. Links: Unermüdliches, Bewegtes – Autos, die sich gegenseitig anhupen, weitertreiben. Wohin? Als ich mich zu ihm umdrehe, dreht sich die ganze Welt: Rollbergstraße, Karl-Marx-Straße, Hermannstraße. Der U-Bahn-Schacht stöhnt Züge aus, atmet Menschen ein. Ich weiß nicht, wohin ich will. Es gibt keine Ziele mehr. Nur einzelne Etappen. Den Löffel in der Kaffeetasse. Vollgewichste Handtücher. Dein Lächeln.
Da ist immer dein Lächeln.