1.
Wenn die Schmerzgrenze erreicht ist, die Ziellinie der Schmerzen, & der Gewinner längst feststeht, wer rennt da noch weiter? Wenn alle Möglichkeiten der Traurigkeit erschöpft sind, der Brunnen geleert & die bitteren Wasser getrunken, wer verlangt da nach Salz?
1.1.
10. Mai 2016. Ich kremple die Ärmel nach oben, zeige Haut, die blau ist & grün, die violett ist mit schwarzen Punkten, ich zeige gelbe Flecken an beiden Armen. Stolz bin ich, stolz auf ein neues Leben, ein weiteres, eins, das über Nacht kam & mir am nächsten Morgen blieb, mein Leben, das sich einsammeln lässt – die Einzelteile der Tage & Wochen, die Gedanken, die rastlos werden mussten, um irgendwo einzuschlagen, um anzukommen –, & jetzt trage ich dich, Leben, trage dich wie Efeu im Haar, wie Goldflitter & Regen, & ––
1.2.
Näher, für einen Moment, komm näher: Hier siehst du einen, der die Haare wieder wachsen lässt, dem steht der Bart schon wieder struppig um den Mund, der zögert nicht mehr, der ist wach, wie, seit wann ist der wach, keine Ahnung, der tritt in den Raum & bemerkt erst beim Betreten, dass es das Leben ist, in das er da kommt, & wie der schaut, in jedes Gesicht schaut er als sähe er’s das erste Mal. ¡Buenos días, Herr Da! Wie? Zwei begegnen sich, das ist die Geschichte seines Lebens: Zwei begegnen sich, die sich verlieben, die haben sich, die sich verlieren, ein Buchstabe zwischen einer fixen Idee & einem gebrochenen Herzen, aber sei’s drum – flieg dem nach in den Süden & beiß ihm in die Haut, die nach Orangen riecht & weißem Flieder, flieg ins Land der Feigen, die mutig von allen Ästen hängen & greife höher noch, greife hoch hinaus bis die Blätter golden sind im Licht, bis du ins Licht greifst mit allen zehn Fingern & schmeiß dann alles hin.
2.
Die Wahrheit ist: Die Angst war mir Fessel & Kerker, die Angst war mir Heimat & Blut. Wenn ich über die Angst gesprochen habe, dann immer wie eine ferne Verwandte, wie eine Cousine vielleicht, die ich selten sah, dabei saß mir die Angst in allen Zimmern, sie war wie Staub in meinen Wimpern, sie war in meiner Stimme, zwischen den Zeilen, zwischen den Jahren, sie ging mir durch jede Kammer meines Herzens bis die Türen quietschten, & das, das nannte ich Leben.
Aber Angst wovor – Angst weswegen?
Angst vor dem Tod & Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Alleinsein & Angst vorm Verlieben; Angst vorm Verletztwerden & Verletzen, Angst vor Schmerzen, vor Krankheit, Hunger & Armut, Angst vorm Versagen, Angst vorm Müssen, Angst vorm Nichtkönnen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst davor, die Wohnung zu verlieren, die Schulden nicht begleichen zu können, stets nur das Falsche gemacht zu haben; Angst vor HIV & Krebs, Angst vorm Namenlosen, den Gehirnblutungen, den überraschenden Enden, Angst vor Verlusten & schmerzhaften Trennungen, Angst vor Drogen & Abhängigkeiten, Angst vor den Fehlern der Vergangenheit & den künftigen Fehlern, Angst vorm Fliegen & Autofahren, Angst vor Fremden, Angst vor der Stille & dem Lärm; die Angst vor der Liebe, die kommt wie eine Naturgewalt; die Angst bestohlen zu werden, die Angst vor dem Dunkel, der Begierde, dem Leichtsinn, die Angst vor der Angst ––
No baby no baby not today*
3.
Ich lese & lese & lese, ich bin hungrig nach Wörtern & Wissen, ich bin nie satt. Was ist, wovon wir träumen, was ist es, woran wir noch glauben? Die Erschütterungen im Osten – wir spüren sie jeden Tag. Jeder ist betroffen. Ich sitze vergraben hinter meinen Büchern, in den Artikeln, ich sammle die Wörter; da braut sich was zusammen. Da schießen sie an den Grenzen, da sterben Menschen, jeden Tag mehr. Europa, Europa – du hörst schon lange keinen mehr schreien. Ich träume von deinen Stacheldrahtzäunen, deinen Mauern & Gräben; ich träume vom Kentern, Europa, von deinem Kentern träum ich jede Nacht, seit ich wieder träumen kann, & ich lese, um zu vergessen, lese um die Bilder zu vergessen, die mir Ai Weiwei schickt, die kleinen Filme, die jeder auf Instagram sieht; ich versuche nicht an Putin zu denken, oder an Trump, an den Krieg im Osten, der dröhnt mir in den Ohren, an die AfD, die mir gallig auf der Zunge liegt wie faules Obst, an all diese giftspuckenden Harpyien, die nichts können außer zu hassen. Keiner jammert mehr. Alle motzen. Was ist, sag, wovon wir träumen? Was ist es, worauf wir hoffen? Haben wir denn wirklich noch nicht begriffen, dass die Postmoderne längst tot ist, gefressen von ihren Kindern? Da ist nichts mehr – kein gestirnter Himmel über uns & auch keine ewige Leere, da ist nur Raum übrig, den es jetzt zu füllen gilt. Wer wollen wir sein? Was wollen wir tun? Es bleibt keine Zeit zum Nichtdenkenwollen. Es bleibt keine Zeit für all diese Irrationalität. Was heißt denn Familie? Was ist das, Deutschland? Wie kannst du dich das denn nicht zumindest einmal ernsthaft fragen, bevor du wieder mit deiner dämlichen, rhetorisch-populistischen Keule ausholst?
Wenn der Klügere ständig nachgibt, Herrgott, dann gewinnt immer der Dumme.
Wir haben uns alles aushöhlen lassen – diese Werte wurden Phrasen & die Phrasen Stellvertreter neuer Inhalte, die keiner mehr ernsthaft umschreiben kann. Wir haben zugesehen, wie uns die Dinge wichtiger wurden als die Umstände, die sie erschaffen, & jetzt wollen wir, dass uns keiner was von all diesem wertlosen Scheißdreck wegnimmt? Welche Werte sind in Gefahr? Um was geht es hier eigentlich?
4.
Fear, sag ich, is one of the most powerful emotions that determine our very existence.
So is love, sagt Herr Da.
Okay. So let there be love.
*Reaper – Sia