Er

Ich bin müde, bin ich nicht & schnarche schon & knirsche mit den Zähnen & morgens, wenn ich mich plötzlich aus der Schwärze, die mir an den Augen klebt, befreien muss, ist die Nacht nicht hinter mir, sondern vor mir & ich will nicht aufstehen, aber er liegt neben mir & das ist schön, denn ich spüre seine Haut & Wärme – bis der Wecker mich austreibt, aus mir austreibt & aus dem Bett & dem Zimmer, schon das zweite Mal klingelt der, & wenn ich schließlich aufstehe, was schwer ist, weil mein Körper schwer ist, fühle ich mich wie Sandra Bullock in Gravity oder irgendwer, der jemals alleine durch den Weltraum getrieben ist, wenn das überhaupt jemals passiert ist, ich meine – in der Realität, & dann: die Erinnerung an die Challenger – ein Funkenregen aus Menschenteilen –, & ich bin im Flüchtlingslager & ich liebe ihn, das weiß ich plötzlich, & bin für einen Moment ganz verloren in diesem Zimmer, das teils Vergangenheit ist, teils Zukunft, & weiß nicht, wie das alles passiert ist, also: dieser Moment, wie ich hier tatsächlich plötzlich stehen kann, ohne ihn, & dann putz ich mir ja doch wieder die Zähne & steh in der S-Bahn neben Leuten, mit denen ich irgendwann mal geschlafen hab, irgendwer, der Name entfallen, bitte hier einfügen, das ist ein Pflichtfeld, das muss ausgefüllt sein, aber wir lächeln uns halt verlegen an, & das Lächeln schmeckt nach nichts, das ist bedeutungslos, eigentlich, diese Vergangenheit ist zu etwas anderem geworden, einem Objekt aus einem Museum vielleicht, schau, so haben die Menschen vor 2000 Jahren gelebt, oh, Joghurtbecher, so ein Blödsinn, & wenn ich dann an der Schönhauser stehe, & da bin ich im Grunde jeden Tag außer am Wochenende, & das Buch zuklappe, dessen Zeilen in der Nacht meiner Augen verbrannt sind, da werde ich Roboter, Automat, Waschmaschine, dann bin ich wie Zahnräder, nur müde, & auf dem Weg ins Bureau denke ich nichts & beim Kaffee denke ich nichts, nur zwischendrin, da lach ich mal, da ess ich einen Keks & irgendwas war doch gerade noch wichtig, aber egal, & wenn die 10 Stunden vorbei sind, renne ich auf einem Laufband in einem Fitnessstudio & ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich da renne, vor wem renn ich da weg, oder renn ich auf irgendwas zu, was ist denn hier eigentlich der Sinn der ganzen Sache, & wenn ich mich umschaue, dann sehe ich die anderen auch so rennen & ich denke: Schau, die wissen, was sie tun, die haben ein Ziel, & ich sehe diese Menschen, die alle jung & schön sind & die Muskeln vibrieren & nackt sehen die alle aus wie Supermodels & die wissen verdammt noch mal ganz genau, was sie da machen, oder nicht?, & dann fang ich einen Blick auf, einen ganz verzweifelten, weil da einer ist, der genauso rennt & nicht weiß, wofür er das macht, & die Blicke, wenn die sich berühren, sind wie Raketen, die versehentlich kollidieren, aber es passiert trotzdem nichts, denn wir rennen ja, wir hören Musik, wir sprechen nicht, jeder rennt weiter irgendwohin & rennt auf der Stelle, & nach drei Stunden bin ich erschöpft & irgendwie glücklich & ich gehe ohne Gedanken heim, lese mit meinen nachtschwarzen Augen weiter in dem Buch, es geht um einen Dichter, den kennt keiner mehr, Fin de Siècle, Anfang des 20. Jahrhunderts, der in Paris über seine Gedichte brütet, die es heute nicht mehr gibt, & der in Italien die Frauen verführt, & er langweilt mich furchtbar mit seinem ganzen Snobismus, & wenn ich zu Hause bin, wenn ich doch erst zu Hause bin, & durch die Tür gehe, & er ist da & er nimmt mich in die Arme & bin ich da, dann existiere ich, & es macht mir furchtbare Angst, dass ich erst jetzt wieder zu Bewusstsein komme, aber so ist es, & die Angst hört schon noch auf, die wird wattig, wenn ich so neben ihm liege, & ich spüre seine Haut & seine Wärme, dann flieht die Nacht aus meinen Augen & alles wird Tag & golden & hell & wahr & ich halte ihn fest & bin glücklich & real & da ist kein Transitmoment mehr & kein Zweifel, & ich bin nicht mehr allein im Weltraum, sondern ich bin da & er ist da & wir leben jeder ein eigenes Leben, aber wir teilen gemeinsam unsere Zeit. & das ist alles.

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