Der eine empfindet nichts, für niemanden, der versteckt sich für ein paar Wochen & schmeißt sich dann zurück ins Geschehen, der fickt mit einem Franzosen & verknallt sich in den für eine Nacht. Zwei Wochen später schläft er mit einem Italiener & verknallt sich in den; der fickt sich durch die halbe Nachbarschaft, der schmeißt seine Pillen, der geht einem Leben nach, das in drei Richtungen will. & jede Richtung ist ein gesplittertes Herz. Da gibt es keine Revision. Keinen Stuhl, der sich zurückrücken lässt auf den vorgeschriebenen Platz. Es gab keine Tische mehr. Keine Leninbüste in der Ecke, wie die in H.s Wohnung, das Cabaretposter direkt daneben; keine Jarmusch-Kollektion, keine Linkerhand, keinen Stefan Heym, die kamen erst alle viel später. Nach H. In einem Leben, das nichts mehr wissen wollte vom andren.
& der andere? Der verschwand, der ging ab von der Bühne, indem er stehen blieb an der Treppenkante, der löste sich auf zu flüchtigen Nachrichten, oder nein, anders: H. wurde zu irgendwem, einem anderen Buchstaben ohne Klang, einem Ha. vielleicht, einem halben Lachen. Ha. wurde Distanziertes, ein abgeschlossenes Zimmer. Ha., das war plötzlich ein Mann, der eigentlich viel zu klein war für mich, zu stromlinienförmig, mit schlechten Angewohnheiten & unverarbeiteten Beziehungsproblemen, mit einer zerbrochenen Ehe, einem Leben zwischen zwei Städten. Wer liegt gerne neben einem, der knirscht?, der zuckt in der Nacht? Es passierte etwas, von dem ich immer annahm, es würde nur in traurigen Liebeslieder passieren, in schlechten Filmen: Die Zeit änderte die Frequenzen. H. blieb in meiner Wahrnehmung nur ein Fixpunkt, eine Art Stern, den man abends aufgehen sieht, etwas, das längst verglüht ist, eine Erinnerung an einen flüchtigen Moment, an drei Probewochen. Der echte Mensch aber, dieser Ha.-Gewordene, der existierte nicht für mich.
Ich wuchs in drei Richtungen. Abends, im Fitnessstudio brannte ich lichterloh, & nachts, da las ich wie besessen. Tagsüber versuchte ich zu lernen, von den Kollegen, dem Job, den neuen Freunden, den alten; ich wollte denken lernen, fühlen lernen, zulassen – nach A. & J., nach diesen zwei anderen Unglückssternen, die mir noch immer den Weg leuchteten – flackernd. Diese Sternenkarten sollten nicht weiter mein Leben bestimmen, diese zur Liebe Unfähigen. Stattdessen wollte ich wer sein, mehr sein, wollte nicht mehr gejagt werden von den Leidenschaften, die stets über mich gekommen sind wie Stürme. Aber stürmen wollte ich.
& so vergingen Tage & Wochen & Monate. So vergingen Leben.
& jetzt? November, Aschemonat. Wieder sitze ich in diesem Monat fest, sitze wie gestrandet. Ha. ist längst in Wiesbaden. Auf seiner Abschiedsparty stand ich zwischen seiner Mutter & seiner Schwester & trank mein Leitungswasser aus einem Plastikbecher. Er sah gut aus, gebügelt, daran musste ich denken, er sah aus wie ein frisch-gebügeltes Hemd, schick & schlank & sehr erwachsen. Ich fand mich unverändert. Ich streckte mich nur, um größer zu wirken, & fand das völlig ok. Ich musste ja nichts beweisen. Wir umarmten uns lange zum Abschied, dabei hatten wir während der wenigen Stunden, die ich dort zwischen Küche & Balkon gestanden hatte, kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wir waren Freunde geblieben, oder: wir waren zu Freunden geworden, eine seltsame Art von Freunden vielleicht, weniger intim, als man es nach dieser Intensität erwarten würde, distanzierter. Ich mochte ihn, klar mochte ich ihn, aber dass ich mal Gefühle für den gehabt hatte? Unmöglich! Unvorstellbar. Es ist mir noch heute unbegreiflich. Vermutlich denkt man sich das aber immer nach dem Verbrennen aller Gefühle; vermutlich bleibt einem überhaupt nichts anderes übrig, als sich zu häuten, als die alte Vorstellung der Liebe von sich abzuschälen. Was wäre sonst die Alternative? Ein lebenslängliches Trauern?
Als ich die Treppen hinterging, noch die Wärme der Umarmung dicht an den Rippen, blieb er oben an der Türschwelle stehen & sah mir nach. Schon wieder war ich es, der treppab ging, während er an einer Kante zurückbleiben würde & ich musste lächeln. Wie seltsam, dachte ich, wie seltsam dieses Echo ist. Seit dem habe ich nichts mehr von Ha. gehört. Seit dem habe ich nicht mal mehr an ihn gedacht, um ehrlich zu sein. Warum heute?
Anna sagt: Weil es sich jährt, & gießt sich Vodka nach. Ist doch klar. & ich, der sich jährt in jeder Sekunde, denke an die letzten Zeilen des Briefes, den ich ihm zwei Tage später, am 3. Dezember, geschrieben hatte. Da hieß es:
Wir werden sehen, wann mich der erste Rausch zurück in eine neue Runde wirbelt, mit neuem Flitter & Goldstaub im Haar. Wir werden uns dabei bestimmt begegnen, wie ich all diese losen Fäden kenne, die erst mal vom Wind getrieben, neue Fallstricke binden. Wir werden tanzen wie Götter zwischen all diesem Rot. & es wird ganz wundervoll sein.
& zum ersten Mal seit 365 Tagen habe ich wirklich Frieden gefunden. Mit ihm. & mit mir. & dieser ganzen Geschichte.