Die Probe, Teil 2: Das Lösen des Fadens

Von heute ab – vier Tage später. Es war der letzte Novemberabend, Nieselregen. Wir hatten uns für die Schlingensief-Retrospektive im KW verabredet, ganz locker, wie zufällig, eine Verabredung wie alle Verabredungen. Ohne Verpflichtung. Wir, das war ein doppelter Boden, eine Hintertür. Das wusste natürlich nur er. Ich hatte ja keine Sinne mehr übrig; ich hörte sanfte Lieder & las sanfte Bücher & legte meinen Kopf sanft auf seinen Bauch, der hart war & kühl, & schlief. Ja, wir neigten uns entgegen bis wir aneinander lehnten & das fand ich schön. Sehr.

Es war magisch wie wir uns trafen, da am Kottbusser Tor, auf den Stufen, wo er mich küsste, an der Heinrich-Heine, wo er mit dem Fahrrad extra für mich ausgestiegen war, um gemeinsam mit mir in die nächste Bahn zu steigen. & jetzt diese Retrospektive.

Ich stand also da draußen im Gelb der Straßen, drückte mich gegen die Wand, wartete. Ich war wie immer viel zu früh, wie immer sehr geduldig – zumindest nach Außen hin, denn eigentlich war ich nervös & aufgekratzt, ich versteckte es gut. Beobachten lenkt immerhin ab & weg von einem selbst: Die Straßen waren voller Menschen, da gab es keine Autos mehr, nirgends, & die Weihnachtsmarktbuden dampften rot. Es roch nach Glühwein & Bratwurst, Waffeln. Wie lange konnte ich es verdrängen?

Seit der letzten Nacht war etwas schief geworden zwischen H. und mir, das wusste ich, das fühlte ich. Ich konnte es nicht benennen. Die Blicke waren zielloser geworden, die Berührungen meinten nicht mich. Morgens hatte ich mich noch aus seinem Haus gestohlen, ein Nachtdieb, der im Bett eines Fremden das Kissen zerknautscht hatte mit unruhigen Träumen, & war zittrig an der Tram-Station gestanden, mit dem Blick auf sein Küchenfenster, das in der Ferne ganz schwarz gewesen war, & leer, hatte irgendein Lied angehört, das mir das Herz brechen wollte, ich weiß nicht mehr, welches, hatte geseufzt. Ein Abschied wie ein Uhrwerk, ein Verzahnen. Wie die Tür, die noch nicht ins Schloss schnappen will, obwohl sie bereits zugefallen ist. Daran habe ich gedacht.

Als H. schließlich kam, verrutschte sein Kuss auf meinen Lippen & die Umarmung blieb taub zwischen meinen Händen. Ja, viele Menschen hier, ja, die S-Bahn, es ist doch immer das gleiche. Ich war müde, H. blau angestrahlt von seinem Handydisplay. Atmen, weiße Wolken, das Rascheln von Stoffen. Ich erinnere mich an die Kälte auf meiner Haut, die Ferne in den Augen. Rein jetzt, schnell!

Im Foyer standen wir vor den Monitoren & H. las die einleitenden Sätze der Kuratoren an der Wand, las: Die Sequenzen erzählen keine lineare Geschichte, sondern befreien die Geschichte vom roten Faden der Narration. Das regte ihn auf, das ließ ihn mit den Zähnen knirschen, so als kaue er Sand. H. wiederholte es, einmal, zweimal. Was heißt denn das? Was soll denn das? Ich konnte nicht denken, schüttelte nur den Kopf, in der Hoffnung, es wirke missbilligend, lächelte schief. Der gelöste Faden der Narration, ein Satz wie eine Prophezeiung, nein, keine Ahnung, was das bedeutet.

H. ging voran & ich folgte ihm nach durch die Schatten, die alle blau waren, & grau, die überall waren. Blinde Flecken. Da saßen Menschen auf Hockern, auf Baumstümpfen vier Meter über dem Boden, die lasen Zeitung, schliefen. Wir gingen erst links an ihnen vorbei, dann rechts, gingen im Kreis. Seltsam, wie H. manchmal vor den Bildern stehen blieb, um etwas zu sagen, das ich nicht hören konnte – sprach er zu mir? Und wenn nicht, zu wem sprach er dann? Mir wurde heiß, sobald ich neben ihm stehen blieb, meine Augen brannten, als stiege mir Rauch ins Gesicht; ich konnte mich nicht konzentrieren. Die Sätze gerieten alle durcheinander. Selbst meine Schritte wurden kleiner, weniger, schwer.

Da waren Leute um uns, die lachten, die riefen einander Namen nach, die zeigten sich Bilder & setzten Kopfhörer auf. Ich dachte an Schlingensief, an den Krebs, der ihn zerfressen hatte – an die Formulierung dachte ich: vom Krebs zerfressen sein, eine Zelle mit Zähnen, schwarz – ich stelle mir Krebs immer schwarz vor -, die eine andere Zelle frisst, größer wird, mehr & immer mehr frisst, immer hungrig, niemals satt. & ich erinnerte mich an das Interview, das er mit – wem?, war es Elke Heidenreich gewesen? -, einer Frau geführt hatte, das war nach dem Erscheinen von So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein, & ich erinnerte mich an den Trotz in seiner Stimme, an seine glühenden Augen. Jetzt waren sie leer. Jetzt war er tot.

Hier waren die Lebenden – Männer in schwarzen Parkas & gelben Hosen, lachende Teenager, Frauen mit Zwiebelfrisuren.
Aknenarben, feuchte Haare, rote Nasen.
H..
Ich.

Die Treppen führten uns hinauf, jeden getrennt auf seiner eigenen Stufe, führten uns in neue Räume, & ich knickte die Broschüre in meinen schwitzigen Händen, rollte das Papier, rollte bis es eindellte, schief wurde. & ich dachte an Berthe, dieses eine Mädchen; die ganze Zeit war sie da. Ich dachte sie mir einsam & missverstanden, in ihrem Wahnsinn siedend, ohne Ventile. Wie nah sie mir war, an diesem Novembertag, dem letzten, wie sie mir voranging durch diese Zimmer, die alle schwarz sind in meiner Erinnerung, & wenn nicht schwarz wie Krebs, dann zumindest grau oder blau, wie das Leuchten des Displays. Wie eine böse Vorahnung.

H. blieb plötzlich stehen, scrollte, scrollte, scrollte, links war er, schaute in Glaskästen, in sein Handy, in Glaskästen, in sein Handy, immer so fort. & ich? Ich stand rechts vor den Monitoren, die flimmernd Bildfragmente in Endlosschleifen zeigten, verstand nichts, dachte nichts, folgte den Füßen. Ich war müde, mir müde, dieser Sache müde, der Uneindeutigkeit der Situation. Dem Fall. Wir sind Fremde. Dachte ich. Dieses Glück hält nicht, was es nicht tragen will. Die Zeit hat nichts daran geändert.

& wie auch? Es waren erst drei Wochen vergangen, seit wir uns auf der Tanzfläche kennengelernt hatten. Ich voll MDMA, H. sturzbesoffen. Ja, so hatte alles angefangen: Tanzend & rauschend – zwei Tollwütige auf dieser verdammten Party. Mit der Gewalt zwischen zwei Mündern, & beißenden Augen.

5 Comments

  1. touching,
    I like this part lightly better. Very strong point of view and deep pcychological impact.
    Well done

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    1. Thanks. I am curious though how you translate it.

      Antworten

      1. with the worse possible way.
        But i love your way to make every moment unique.

        We live this story in a very deep level.

  2. Danke dafür, gefällt mir außerordentlich gut, der Text.

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