Caravaggios Briefmesser

V sagt, das sei ein Wendepunkt in meinem Leben.
Morgens die S-Bahn mit Menschen, die alle kleiner sind als ich. Darüber: der Regen. Endlich Regen! Die Hitze hat uns alle verrückt gemacht, denk ich. Sage: nichts, das Übliche allenfalls. Thanks for having me im Vorstellungsgespräch, 2 Körnerecken beim Bäcker – wie banal, wie lächerlich; muss ich das denn alles wirklich sagen? Reichen nicht Gesten? Ein Fingerzeig, ein Nicken mit dem Kopf? Im Supermarkt stehen alle vor den Kühlregalen wie versteinert. Ein Friedhof ohne Blumen. Durch Mitte geh ich wie gejagt, dann wieder wie John Wayne. Ich hab das Gefühl, mein Schwanz ist größer als sonst, ich kann kaum gehen. Im Hintergrund: Fernsehturmromantik mit Sirenengeheul. Immer & überall ist der Lärm, er durchwirkt mir das Atmen. Ich atme den Lärm ein wie Gas, atme Polizei & Feuerwehr, den Rettungsdienst & die scharrenden Trambahnwägen, ich atme den Lärm wie Gas & das Gas macht taub. Ich ersticke am Lärm. Wendepunkt? Wohin soll ich mich denn nur drehen?

V sagt, alle Männer seien brutal & naiv & sexgetrieben, vom Erfolg besessen.
Morgens & mittags & abends: die Tabletten – für den Hals, die Psyche & die Nasennebenhöhlen. Brav, wieder ein Kunststückchen zur Kunst erklärt!, wieder einen Entwurf verworfen! Endlich mit der Tür ins Haus gefallen & das Haus gleich hinter her, so, als sauge man mit dem Staubsauger eine Spinne ein, so stürzt sich das Haus ins Vakuum. Es senken sich Staub & Stille, meistens: der Staub. Im Bett huste ich viel, renke mir die Beine aus im Versuch, mich selbst zu überholen. Liege. Gott, wie ich liege. Ich reibe mir den Bauch an der Matratze & hoffe, es stille Hunger & Durst. Die Bettdecke wickle ich mir zum Menschen, zu einem, den ich umarmen kann, den ich küssen & ficken kann. Der heißt: /\. Dem geb ich Körperöffnungen so warm & weich wie Lippen, & Arme, die mich umfassen wie Seile. Ans Bett lass ich mich fesseln im Wahn. Ich wälze mich über das Bett wie Sand & Kiesel, ich zerfalle zu ungeseufzten Seufzern, zu Diesseitigkeiten: ein Glas schales Wasser & Malina mit einem Knick –

Ivan fragt mich in der Nacht: Warum gibt es nur eine Klagemauer, warum hat noch nie jemand eine Freudenmauer gebaut?*

– & meine Hände, die rauh sind vor Sehnsucht, zerkratzen mir die Augen. Ich weiß nicht, weiß weiter nichts, weiß nicht weiter. Grundlos schiebe ich meinen Körper durch die Straßen, schiebe den Kiefer vor die Stirn & die Augen schräg rüber zum Regen. Ich regne meiner. Spürt man mich nicht? Ich meine, wie ich niedergehe auf die Passanten, wie ich als fieser Nieselregen in die Wimpern mich hänge, ins untere Lid mich dränge, verschmelze mit Blicken? Nein? Ich hab’s mir fast gedacht.

V sagt, er zweifle.
Auf & ab & wieder zurück, die See könnte nicht stürmischer sein. Wir, ein Ring an zwei Fingern & den Mund voller Krokantgeschossen, voller Granatapfelsplittern, wir geben uns Sätze, die uns auftrennen, dann wieder: vernähen. Um uns herum reden wir im Unglück der Ferne, erfinden keine Lösungen, sondern neue Diskrepanzen. Ich will überwinden lernen, was Vergangenheit ist, was als Bleiche die Wäsche ausfärbt & das Essen bittert. Ich will dich, V, ich sag’s ja schon von Anfang an. Will in dich fahren wie ein Geschoss in einen Brustkorb, unter die Haut & rein in die Nerven, will eingehen in dieses Alltägliche, in dieses Ganznormale, die Pärchengelassenheit will ich. Mit dir will ich das. Das Händchenhalten, müde vom Einkaufen erzählen, von Verkäufern, die kletternd Regale einräumen & dabei Milchschnitten zertreten wie Insekten, quellend-quietschendes Weiß zwischen Marmelade & Butterkeksen, das will ich dir schildern; über Malina will ich mit dir sprechen, über den Wohnungsbrand in Rom, über Rauch, der sich verzweigt wie Zweifel, der zweiflerisch ist, Rauch, der Geschmack von Rauch, der Geschmack des Morgens. Über Zweig will ich sprechen, der anders ist, eine Antithese, ein Fragment einer vergessenen Welt, als der Kaffee noch Schlag hatte & die Laternen glimmen konnten des Nachts. Stattdessen drehe ich die Musik lauter, lauter, immer so laut, dass mir die Augadern aufplatzen wie reife Früchte, zerschossen sind mir die Augen: I’m neither here nor there, Bäm, Bäm, Bäm. Was?

Kapitel 2.

Caravaggios Briefmesser lag seitlich auf dem Tisch, glänzte. Neben den Briefen lag es, den ungeöffneten, lag wie eine Drohung & wartete auf Caravaggios Hände. Auf seine brutalen Hände, die blutig waren von Farbe & schmutzig vom Leben. Es wartete auf Caravaggio, der nicht kam, der nie wieder kommen sollte, denn der Maler war tot – ist tot – wird tot gewesen sein, & das Briefmesser blieb uns als Klage zwischen ungeöffneten Briefen.

V sagt, ich solle schreiben,
mehr schreiben,
endlich endlich! bitte mehr schreiben soll ich.
Also schreibe ich. Schreibe gegen die Distanz an, schreibe neue Gedichte. An Bitternissen schreib ich, die Bitterkeiten werden wollen, die süß schmecken. Ich süße die Tage mit V, der mir bittert, der mir hagelt & graupelt, der mir ist wie Sonnenaufgang & Sternschnuppenschauer, der mir Monden ist & auch die Gezeiten. Seine Bücher halte ich mir dicht an die Nase, um die Haut zu riechen, die sie berührte, um den Menschen zu riechen, der V ist, der /\ ist, der Wahn ist & Klarheit & das ewige Wollen. Strukturen schaffen, Schreiben lernen, einen neuen Weg des Schreibens finden, etwas Neues, eine Variation. & dabei dem Schicksal folgen, das man sich selbst gewählt hat. Nicht ohnmachten, nur nicht ohnmachten. Stattdessen: den Hunger pflegen, der uns Unsterblichkeit verspricht. Den Durst, der uns verzweifeln lässt wie Rauch, aber auch wütend & stürmisch, der uns tosend im Mund umgeht wie Zungen & darin: die Wahrheit, unerbittlich – das Glänzen des Briefmessers, da an der Kante.

*aus: Malina (Ingeborg Bachmann)

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