1.
Zoey packt. Erst faltet sie Hemden, dann Hosen. Alles ist geborgt oder neu gekauft, es riecht ungetragen, nach teuren Läden & fremder Leute Leben: Orchideen & Lavendel, Mottenkugeln, Waschmittel, Essen. Der graue Schottenmusterrock, die weiße Seidenbluse mit Bernsteinknöpfen, das schwarze T-Shirt mit roten Rauten – sie packt einen von Flohmarkthänden zusammengesuchten Patchworkkoffer ohne Vergangenheit. & auch die Zukunft ist geliehen. Wo gehst du hin? Frag ich. Zoey packt schweigend. In der Hocke sitzt sie über den Stoffen & wühlt & faltet, sie legt rote Wäsche nach links & gelbe nach rechts, dazwischen liegen die Socken. Später heißt sie mich den Koffer die Treppen hinuntertragen bis vor zur Haltestelle. Wir warten nicht lang, reden nicht. Als der Bus einfährt, umarmt sie mich flüchtig, sagt: Du bringst Unglück – sie lächelt dabei -, & steigt ein. Die Türen schließen sich im Licht, alles ist orange, dann weiß, bis der Bus endlich wegfährt. Danach folgt nichts, kein Lärm & erst recht keine Farben. Ich stehe auf der Brücke beim Wind. Niemand ist hier. Die Straßen sind leer.
2.
Zuhause? Das sind Wände mit Büchern, Bücherwände sind das, Papierschutzwälle. Ein Panzer aus Worten, den trag ich von der Küche ins Bad & wieder zurück an die Fenster, da steh ich dann & fühle: die Sonne auf den Zehen, die kalten Fließen, Brösel vom Brot & Brösel vom Kuchen. Am liebsten würde ich mich in die Wanne legen, ins Eiswasser, das stets überschwappt. Mir brennt die Haut vom Sehnen. Sehnen nach V. V, der ausbleibt, der sich ausschweigt, unerreichbar ist der, & ich, ich bin schrecklicherweise genau hier, genau jetzt, ich bin in diesen Moment gestolpert wie einer auf der Bühne, der seinen Einsatz verpasst & jetzt allen nachstammeln muss, immer eine Sekunde verzögert. Im schlimmsten Fall sogar länger. Ich stammle & stammle, rede zusammenhangslos. Was hab ich eigentlich noch zu sagen? Wenn ich die Bücher nicht hätte — wenn ich die Bettdecke nicht hätte — wenn mir von beiden Händen nicht alle zehn Finger blieben, die greifen, greifen nach dir, der du nicht da bist, der du hier sein solltest, & bitter ist der Kaffee jetzt & die Cola zu süß. Was helfen mir Finger, wenn die Arme zu kurz sind? Über die Liebe denk ich nach, ich, der ich hier am Fenster bin, dicht beim Hinterhof, beim Lachen der Kinder: zwei Mädchen rennen im Kreis & geben sich die Namen von Farben – Violetta & Rosa -, ein Junge steht unbeteiligt am Rand & spielt mit zwei Bällen. Zuhause? Die Liebe, der Mangel an Liebe, das Überfließen der Liebe: die Konzeption der Liebe, das geht mir nicht aus dem Kopf. Wie zwei sich finden & nicht haben können, wie der eine ganz glücklich ist im Andren & der andere völlig verzweifelt.
Das Lachen, sagte sie, liege in Wahrheit zwischen Ohnmacht & Schmerz, darin gleiche es der Liebe, & ich? Ich schiebe meine Fingernägel untereinander & schabe den Dreck vor, der teils Stadt ist & teils die gestrigen Tage. Liebe! Wie das klingt! Abgenutzt ist mir das Wort zwischen den Zähnen, knorpelig & zäh, das Wort will mir nicht schmecken – es will nicht runter, will nicht zerkaut & geschluckt werden, will nicht durch den Magen, wohin die Liebe den andren stets geht, wo sie verdaut wird zwischen den restlichen Brocken. & dann höre ich V & V, der ist wie Gold mir in den Augen, der färbt die Nächte bunt & die Stunden einzeln wie Träume, ich atme V ein, der mich ausatmet, der mich ausweint im Abwesendsein, der mir lacht wie Licht. V, immer: V, das heißt: Verlieren, verwehen, verschütten, ich versande in V & gehe als Düne zwischen die Anwesenden, als Sand auf Lippen & Lidern, als Ebbe unter die Schiffe & trockne seiner wie versiegende Brunnen – Liebe, Liebe!, ein Unglück ist die Liebe, die tanzt ohne Lieder, die schreit ohne Mund – was tun? Scheitern am Entferntsein, an der Distanz zugrunde gehen, sich vergessen am andren, sich verschätzen? So viele Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, Türen, durch die sich gehen ließe, hätte nur irgendwer den passenden Schlüssel. Die Rationalität der Liebe – was heißt das eigentlich? Sich ausmessen, sich & den Abstand, den Raum dazwischen, die Entfernung der Träume, denn vielleicht träumen wir getrennt – vielleicht die gleichen Träume? Was kann man wollen von sich, was kann man fordern vom Andren – wo beginnt der Wahnsinn, die Spekulation, wo endet das Scheitern?
Nehmen wir zwei, die sich gleichen & setzen sie in verschiedene Städte, wo sie einander ersehnen – werden sie sich gleich bleiben? Oder werden sie viel mehr verschieden? Je länger die Tage werden, desto kürzer ihre Arme; ihre Worte reichen kaum aus, um die Länder zu überwinden, die Flüsse & Berge, die Städte & Dörfer. Was früher spielerisch war, ist jetzt eine Frage von Leben & Tod. Was mal aufstieg zu Wolken, ist jetzt wie Senfgas so schwer. Warum nehmen wir die eine Reaktion & erklären ihr die Absolution? Warum ist es ausgerechnet das eine Wort, die eine verpasste Chance, der eine dumme Gedanke? Sollten es nicht mehrere Versionen sein? Von uns, mein ich? Dürfen wir nicht mehrere Versuche haben, uns neu zu justieren. Die Umstände sind dynamisch, was ist mit uns? Die Geschwindigkeit unserer Erwartungen sättigt nicht. Sie lässt uns hungrig. Sie schmeißt uns ins Bett, wo wir dann geil liegen, uns wälzen, masturbieren, nicht aufhören können vom anderen zu fantasieren, den Berührungen, die uns endlich Linderung verschaffen sollen – die Erwartung der Liebe: Sie möge uns endlich erlösen… Wenn die Distanzen nicht wären. Wir zueinander: fremd im eigenen Kopf. Können wir uns nicht neu denken, anders: der Gradmesser der Sehnsucht als Taktgeber, unabhängig vom Hier-Sein, vom Zeit-Angleichen. Wenn dann zwei Menschen zueinander finden, wie leben die ihr Leben im gleichen Haus, im selben Zimmer & zwischen verschiedenen Kissen? Gehn die sich auch aus wie Zucker & Mehl?
3.
V sagt mir, ich solle endlich mehr schreiben. Also schreibe ich. Ich wühle mich durch Papier, ich staple alles neu. Dieses Konzept auf ein anderes, diesen Versuch neben den nächsten. Vom Ruhm sprechen die einen, vom Scheitern die andren. Manche lächeln, wenn sie mich sagen hören, ich schreibe an einem Buch; sie können sich nicht vorstellen, dass ich das jemals — dass ausgerechnet ich — dass aus mir etwas werden — könnte: Eine Gleichung voller Unbekannter. Beenden, es einfach beenden – das nehmen sie mir nicht ab: Das Angefangene zu Ende führen. Es ist ja auch schwer, ich glaub es oft selbst kaum. Ich hab noch immer nichts geschafft im Leben, sag’s ruhig lauter: Nichts. Denn das Gewicht halten – aushalten – können, fordert Tribute, es ist hart & unfair, es tut furchtbar weh. Das Gewicht, das einem die Wörter ist, die richtige Formulierung, das richtige Bild, der Klang – versteht einer den Klang? Bestimmt. Wenn V meinen Kaffee umrührt, wird’s zur Symphonie. Oder zum Lärm. Dass darin die Wörter aufeinander folgen müssen wie Pistolenschüsse – das werden die schon hören, oder? Wenn’s bloß einer mal ausspricht, falls es einer mal vor sich hersagt, & rattert & klappert & nuschelt vielleicht, dann ist’s das Glück. Das ist dann wirklich & ohne Scheiß – Glück. Wenn die Wörter stimmen, wenn die Wörter bei mir sind, wenn sie einander ergänzen, wenn sie tanzen im Mund, wenn sie bei V sind, der lacht am Telefon, der lacht, weil er schön ist, wenn die Nacht sich senkt zwischen uns – nicht wie Messer, sondern wie Haut, die sich auf Haut senkt, die sich ergänzt, die eins wird – das ist das Glück der Wörter, der Liebe, Liebe? Ja, Liebe, das auch. Ein abgenutztes Wort, ein Patchworkkoffer zweiter Hand. Wie wir die Liebe verzärteln & schlagen, wie wir sie vor uns hersagen, & rattern & klappern, nuscheln vielleicht, wie wir Ich liebe dich sagen & das Herz schlägt uns laut, die Ohren schlägt’s uns kaputt, dieses Herz, aber was sollen wir denn anderes tun? Als zu schreiben & das Schreiben zu lieben, als uns zu begegnen & erneut zu verlieren, was können wir denn anderes tun als uns anzunähern, als es zu versuchen, immer wieder von vorn? Was wenn die Räume nicht kleiner werden mit der Zeit, sondern größer? Wenn aus unseren Herzkammern ganze Säle werden? Wenn wir im Westflügel unserer Herzen sind, dicht am Hinterhof, beim Lachen der Kinder? Sag, V, was ist, wenn wir uns nicht verlieren, sondern doch bekommen am Ende? Wenn der Kaffee zwar bitter, aber noch heiß ist, die Cola zu süß, aber immerhin kalt? Was ist uns der Durst, wenn wir ja doch immer trinken? Was wissen die anderen schon vom Gewicht der Wörter, das manchmal nicht wir tragen, sondern das uns trägt, wie ein Schiff – ein Schiff zu Zeiten der Flut, was wissen die schon?
V, sag, ich sitze jetzt hier in Berlin & die Stadt ist zu laut – wo bist du?, bist du am Hafen? Joseph ist weg. Zoey ist weg. A. ist weg & der Sondmann, H. ist weg, der nie da war, & J. Sie alle sind weg, weg, weg, die Geschichte der Abwesenheit ist endlich erzählt. Keiner ist mehr da – außer du & ich, außer die ganze Welt mit ihren leeren Sitzplätzen. Mit ihren wilden, brutalen Veränderungen, mit ihren Stolpersteinen & Rippenstößen, mit den schimmeligen Nektarinen & gebrochenen Herzen, mit den kaputten Freundschaften, den dysfunktionalen Beziehungen, mit den hemmungslos Glücklichen, den Todtraurigen. Quietschende Türen, das ist Zuhause, stapelweise Teller & geknickte Teppichkanten, die weißen Nächte, die rothaarigen Nachbarstöchter, das Schweigen, die Tränen, Titannägel in Knochen. Alles ist da, V. Der Schlaganfall meiner Mutter, die Kotze in der U7, die Überstunden, die keiner je aufwiegen kann mit den Grabsteinzahlen. Ein kleines Körnchen Leben in all dem vielen Sterben, das ist, was bleibt. Wo also bist du, wenn nicht bei mir? Wenn nicht jetzt, wenn nicht hier?