Sonntag:
Wir haben ein ganzes Leben lang Zeit, sagte er, & starb mit 24.
Auf seinem Grab liegen Steine, an die der Wind nicht rührt.
Ich sehe: einen Namen, vier Zahlen,
einen Schmetterling aus Gold.
Wenn das Licht kommt, ist es warm hier zwischen den Bäumen,
da knistert das Gras. Die Erde schweigt.
Auf meinem Tisch liegen die Münzen, die durch viele Hände gingen.
Dazwischen: der Staub.
Ich sehe: eine Tasse mit Jasminteerand, eine Pfandmarke,
Batterien & Draht.
Dienstag:
Alles ruht. Kein Tag zwischen Tagen, kein Wollen.
Meine Großmutter ist gestorben, in ihrem Altersheimbett da im Süden.
Gekämpft hat sie, sagt mein Vater, & ich weiß nicht, was er damit meint.
Es sei das Herz gewesen.
Stundenlang sitz ich vor einfahrenden Zügen
& frage mich, wem ich endlich mein Beileid wünschen kann.
Mein Mund haucht Nebel an die Fenster; die Sonne strahlt hell.
Es wird kalt & kälter, die Blätter fallen ohne Laut.
Wenn sie Lärm schlagen würden,
bei jedem Vombaumablösen: ein lautes Knallen
– wir stünden endlich still.
Ich hingegen, ich gehe stets die Treppen nach oben, das ist, woran ich mich erinnere. Ich weiß vom Runtergehen nichts, nicht das geringste. Stattdessen spüre ich meine Füße schwer in den Schuhen & die Schuhe schwer auf jeder Stufe. Im ersten bis zweiten Stock seh ich: die Schatten; ab dem dritten Stock: Licht; im vierten: Nacht & Tag, von beidem zu viel. Manchmal berühren meine Hände dabei das rote Geländer, flüchtig nur, für eine Millisekunde vielleicht. Dann denk ich daran, wie viele Menschen ihre Finger schon an diesem Geländer hatten & bin ganz fassungslos. Ich stecke dann meine Hände in die Hosentaschen, weil sie dort besser aufgehoben sind als an diesem Geländer, an dem es keine Spuren gibt von all diesen Tausend Menschen. Nur ein Kratzer hier & da, eine Kerbe im Holz; abgeplatzter Lack. Von den Menschen gibt’s nichts mehr zu sehen. Die sind umgezogen, gealtert, gestorben vielleicht. Viele sterben, denk ich. & berichtige: Alle sterben.
& so ist es dann: der Tod tippt meinen Namen in kleine Kästchen, Mail-Accounts, Facebook. Der Tod loggt sich ein, beantwortet Fragen, liked. Im Hintergrund dröhnt irgendein Lied, das mich mit dem rechten Bein wippen lässt, das immer wippt. Ich drehe lauter, klicke lauter, hämmere meine kalten Finger auf die Tastatur. Ich wünschte, ich könnte die Essays von Benjamin lesen & mich dabei 1x auf die Sätze konzentrieren. Stattdessen fühle ich den Seiten nach & denke: Hat er sich nicht mit Morphium umgebracht?
Ich verfolge die Sonne, wie sie durch mein Zimmer wandert,
von links nach rechts,
vom Tisch über den Boden zu den Filmen im Regal.
Auf dem Sari,
die Neuseeländerin hat ihn hier vergessen,
strahlen die Farben wie Herbstblumen.
Dahlien, vielleicht;
& das ist schön.
Donnerstag:
Ein Mann liegt in meinem Bett,
der ganz schwarzes Haar hat, obwohl er aus Schweden kommt,
& ich lache darüber.
Nicht laut. Mehr so für mich. & auch nicht über ihn.
Ich lache, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.
Camus würd ich lesen, wenn ich nicht da im Bett liegen würde, den Schwanz in seinem Mund, die Arme im Nacken, & stöhnen. Trotzdem denke ich an Camus, & weiß, wie absurd das ist. Es gibt nichts Absurderes als in dieser Situation ausgerechnet an Camus zu denken. Ich frage mich, ob er den Knoblauch schmeckt in meinem Atem – so wie ich seinen Vodka-Redbull riechen kann, seinen Zigarettenrauch im Bart, der wild ist & struppig. Seine Nacht, die schmeck ich. Er sagt, ich sei süß, & ich, der ich mich ganz verloren fühle unter seinen Händen, die kräftig sind & groß, die echte Männerhände sind mit Männerfingern, blinzle nur übertrieben oft, weil: was sagt man zu so was, ohne jetzt dumm wirken zu wollen? Über Camus könnt ich jetzt erzählen, über Herrndorf & Bolaño, die alle tot sind, & ich lebe, liege hier lebend, was ein Wunder ist, denn eigentlich hätte ich längst tot sein können, & er grinst nur, meinen Schwanz zwischen den Fingern, & fragt, ob es mir gefällt. Ich bin verloren, denk ich, weil der Schwede so gut aussieht & mir sagt, ich sei süß, & die Sonne taucht uns beide in Gold; sie macht uns zu Schmetterlingen, & buntem Staub, & ich bin verloren, weil da eine alte Frau gestorben ist in ihrem Altersheimbett, die ich nicht kannte, nicht liebte, die mir fremd war wie sonst irgendwer, aber Herrndorf, der ist mir nicht fremd, & Benjamin ist mir nicht fremd, auch wenn ich ihn kaum verstehe, & diese Frau, deren Erbe ich bin, die ist tot wie sie gelebt hat für mich, nämlich auf diese schwer fassbare, diese distanzierte, fast schon ignorante Art & Weise. Verloren, denk ich, & spritze dem Schweden ins Gesicht. Der lacht bloß & küsst mir den Oberschenkel. & ich – lege Steine aufs Grab, wo früher Berge waren, & Meere, wo ganze Universen tanzten; knicke die Buchseite an der Ecke, schütte Soja-Milch nach in die Tasse, beziehe das Bett neu – ganz in Weiß, denn Weiß duldet keine sichtbaren Flecken -, & backe Brot, das später viel zu dunkel ist von außen & zu weich in der Mitte, & im Hintergrund läuft Mozarts 20. Klavierkonzert in d-Moll. Verloren, verloren, immerzu: verloren.
& warte auf die kommenden Tage.
dieser mix zwischen gedicht und prosa – ganz süperb.