Die Zeit der Antipoden

Die Zeit der Anführer ist vorbei, sagte sie & schüttet mit dem kleinen Silberlöffel ein bisschen Zucker nach in die Tasse. Sie lächelt nicht, blinzelt nicht; sie kam mit der Sonne von links durch die Tür & setzte sich an den selben Tisch, wo sie vor Monaten zuletzt gesessen hatte. Keine Ikonografie: kein roter Stern, kein Camouflage-Look, kein Clan-Tattoo auf Handgelenk & Knöchel. Che Guevara ist tot. Alle Götter sind tot. Ihr schwarzer Pullover & die Jeans sind alles, was sie zum Widerstand braucht, sagte sie, & schiebt sich jetzt die Ärmel hoch bis zum Ellbogen. Warum wolltest du dich treffen? Ihre Stimme ist weich, ein bisschen müde; sie wirkt älter als damals, verbrauchter. Weil ich langsam wieder zu Bewusstsein komme, sag ich & schütte Cola nach ins Glas. Das prickelt viel zu laut. Ihre Stirn bleibt faltenlos. Sie trinkt Importkaffee aus Laos, ich imperialistische Limonade. Wir sind uns gleich. Auch ich trage einen schwarzen Pullover.

Bewusstsein? Deine größte Sorge ist doch, wenn dein Paket wieder beim Nachbar abgegeben wird, der dann wieder nicht da ist, wenn du’s abholen könntest. Es stimmt nicht, denk ich, Bitterkeit faltet einem nicht den Mund zusammen; sie ist bitter geworden, ohne darüber ihr gutes Aussehen verloren zu haben. & wenn?, sag ich, vielleicht zu herausfordernd, denn jetzt, da lächelt sie, mit einem Mundwinkel lächelt sie halb & rührt mit dem Löffel in der Tasse. Wir sind alle zu Clichés geworden, uh? Kleine Abziehbildchen, die einander überklebt haben. Wir sind die Tags auf den Straßen dieser Stadt, zu viele, zu grell, zu präsent, & keiner kann uns eigentlich entziffern. Alle schreien wir gleichzeitig. Ja, sag ich. Einfach nur Ja. Ohne weiteren Hintergedanken. Du bist noch immer auf der Suche nach neuen Inhalten, was? Ich nicke. & deswegen rufst du mich an, bestellst mich her, damit ich dir welche beschaffe. Einleuchtend, irgendwie. Auf deine dumme bourgeoise Art. Wieder: das Lächeln. Wieder: mein Nicken. Der Arbeiterjunge, der zum Kapitalisten wurde, will wieder Revolutionär spielen, will zwischen den Leuten mit Snowden-T-Shirts und Guy-Fawkes-Masken auf der Straße stehen. Anti-NSA! Anti-Überwachung, uh? So ein bisschen gegen das Establishment wettern bis die Bundestagswahlen mal wieder die üblichen Politiker gezeitigt haben… & danach, wenn das Bier schwer ist im Magen, mit der flachen Hand auf den dicken Wanst sich schlagen & denken: Ach, wie unverstanden bin ich! Die Utopie, die willst du, aber den Preis dafür zahlen? Ich glaub nicht.

Sieh dich an. Du verziehst doch schon die Lippen, wenn wir über Obdachlose sprechen. Kneifst mit den Augen, wenn’s um Zigeuner geht, die Sinti & Roma heißen, oder um Ausländerfeindlichkeit auf offener Straße, die’s offiziell nicht gibt. Du willst deinen Sexismus überschaubar, deinen Rassismus in einem kleinen feinen Wort gebündelt, das jetzt mal Neger heißt, & morgen Schwarzer, Farbiger & Mohr, du willst deine weißen, intellektuellen Debatten in deiner weißen, intellektuellen Männerwelt, in der der Krieg noch immer der Vater aller Dinge ist, & die Versklavung die Mutter unserer Kinder. Nein? Nein. Was also dann? Siehst du nicht, wie sie alle da stehen, die Leute, wie sie auf der Straße stehen, die Männer Mitte 30, Ende 40, bei denen der Bartschatten nicht sexy ist, & die löchrigen Shirts kein Ausdruck ihrer Individualität; siehst du sie nicht, die Frauen auf ihren Stühlen, die unbestimmt ans Ende der Straße starren, so als könnt da jemand kommen, der ihnen eine gute Nachricht bringt. Alle warten. Du & sie & alle. Aber das hier, das ist nicht Warten auf Godot. Es ist schlimmer. Wir haben keinen Godot, wir haben keinen, der es besser machen könnte, selbst wenn er gar nicht kommt. Selbst die Hoffnung auf ein Phantom wäre besser, als das, was wir in Wahrheit haben. & was ist das, was haben wir? Uns, sagt sie. & lacht. Wir haben nur uns.

Reicht das denn nicht?, frag ich. Siehst du etwa, dass sich da was verändert?, fragt sie. Unentschieden. Okay, sag ich, du willst wissen, was ich will, du willst wissen, weshalb ich dich anrufe, dich herbestelle, dir diesen Scheißkaffee ausgebe, weil du wieder mal kein Geld dabei hast, wie sich’s gehört für eine Revolutionärin, für eine, die im Untergrund lebt, wie wenn Ratten über die Gleise huschen; in deiner manikürten Schlichtheit – sag, wo duschst du noch mal, wo bekommst du Duschgel & Shampoo, & die Zahnpasta für diese beschissen-weißen Zähne? Egal, egal, die Revolution, sagst du, das ist, was dich vom Namen befreit hat, & jetzt, jetzt sei es Zeit für den Kampf, für einen offenen Konflikt & zwar in der Mitte, im Herzen der Gesellschaft, die ganz satt ist von sich & dem Mangel. Denn hier, eigentlich, ja, Zukunft – von der spricht doch schon lange keiner mehr. Du sagst, sie stehn auf der Straße & warten, & natürlich hab ich sie gesehn. Ich sehe, das ist, was ich muss. Ich seh sie im Supermarkt ihre kleinen Finger am Schaufensterglas langschmieren, & im Bus ihren Atem im Nacken des Gegenübers sich verzahnen. Ich seh ihren Hunger, & ihre Verzweiflung, & ja, das Schlimme daran, das ist das Cliché, denn wir kennen den Kampf gegen AIDS & gegen Krebs, & wir kennen die Spendenaufrufe, wenn wieder irgendso ein Kind mit Blähbauch auf die Straße gestoßen wird zu all den Fliegen & Maden, & zum Geier, der lauernd auf dem Totenschädel eines andren Kindes sitzt – wir sind verseucht von Bildern & verseucht vom Wissen, & in unserer Seuche, die wir als Aussätzige nicht mal mehr als Seuche wahrnehmen, ersticken wir schier in der Unfähigkeit & Hilflosigkeit, die nichts anderes besagt als: Ich, ich – ich muss doch irgendwie überleben, ich muss doch irgendwas tun, damit ich-ich-ich meinen Kühlschrank vollkriege, damit meine Miete bezahlt ist & auch die offenen Rechnungen, die immer nur vom Kaufen kommen, denn kaufen müssen wir, sonst fliegt uns doch nur alles wieder um die Ohren. Also wird geseufzt & genickt & gelächelt & morgen sieht ja doch wieder alles ganz anders aus, sagen sie, aber sie lügen, & diese Lügen, die sind schon Alltag, die sind heute & morgen & die waren auch gestern schon. Shit, ja. Das sind nicht die News.

Ich seh die Leute warten, aber sie rumoren nicht, sie fressen & fressen, sie nehmen die Hand in den Mund & nennen’s ein Viergängemenü. So show me some love, bitch. Zeig mir die Leute, wie sie mit Scheißmistgabeln zum Bundestag ziehen & den Anführern den Kopf abschlagen; zeig mir die Leute, die ihre unfähigen Chefs zum Fenster stürzen & daraufhin: 30 Jahre Krieg. Du willst diesen ganzen Französischenrevolutionsmist, & prophezeist die Konsequenzen längst vor der eigentlichen Tat – chapeau! Deine Revolution passiert nicht. & weißt du auch wieso? Weil sie sich darin eingerichtet haben. Weil man’s ihnen nicht wegnimmt. Weil alles ist, wie es ist, denn so war’s schon immer, & die Lüge, die uns als festes Konstrukt schon mit der Muttermilch als Weisheit mit dem Löffel ins Maul gestopft wird, die geht so lange weiter, bis man’s ihnen kaputt macht – das ist, was du willst, aber ihr, ihr sitzt doch genauso daneben, & denkt: Ach, was in Russland geschieht, das betrifft mich nicht, weil Russland war doch schon immer homophob, & du, du bist ja nicht lesbisch, oder?, also ist’s nur ein Randproblem, ein schickes Kleidchen für eine Minderheit, die sich gerne selbst in den Arsch fickt, & das ist dann okay. Wir hier, du & ich & alle, die vorm Computer sitzen & das später lesen werden, wir kennen den Schrecken nur noch aus Büchern & aus dem Internet & von Bildern, die so alt sind, dass wir gar keinen Kontakt mehr dazu herstellen können, weil die meisten, die’s betraf, die sind selbst schon lange tot. Aber wir – wir, ja? Wir sind die Toten. Nicht die andren, nicht die im Grab.

& jetzt?, fragt sie, nippt erst & trinkt dann aus der Tasse, die schon halb leer ist. Du tust so, als wärst du ein Nachrichtensprecher, der mehr weiß, als die anderen, aber das ist nicht der Fall, weißt du? Du hast nämlich vorhin Recht gehabt: Alle wissen alles, & sie hören nicht auf damit, zu wissen, sie sammeln immer mehr davon an & sie sammeln & sie sammeln & keiner hört auf damit, sie laufen über, sie kotzen sich ihr Wissen frei bis kein Hunger mehr bleibt für ein richtiges Essen & dann bedauern sie, dass sie morgen wieder sammeln müssen; ihre eigene Kotze fressen sie dann stattdessen, jeden Tag, & jeden Tag sind sie dabei ganz glücklich. Sie begreifen ihren Widerspruch überhaupt nicht. Sie, du, ich. Weißt du, wir tun alle so, als wäre eine moralische Sicherheit möglich, eine Art Absolution, & dann, wenn du mal angefangen hast, dich für eine Sache zu entscheiden, dann versuchen’s dir alle zu ruinieren. Sie sagen dann: Ach, das ist nett, dass du vegan lebst, aber weißt du, in Afrika sterben sie trotzdem. Oder sie sagen: Ach, ist doch toll, wenn du den Kindern ein bisschen was spendest, aber weißt du, in China stehn ja trotzdem die Fabriken & die kontaminieren längst den Planeten. Mit jeder Hoffnung, die du hegst, zerren sie dir ein neues Monstrum unter dem Bett vor, & dieses Monstrum, das frisst die Hoffnung, das frisst dich & alles, was du liebst & dann hast du morgens nicht mal mehr die Energie ein bisschen früher aufzustehen, um – sagen wir mal -, was richtig Konstruktives zu tun -, sagen wir: einen Artikel in der Zeitung zu lesen, der dich über eine ganz bestimmte, eine ganz naheliegende Ungerechtigkeit informiert, der vielleicht in deinen Scheißkopf eindringt & sagt: ACH! Das geht jetzt wirklich zu weit! Sie töten dir jeden revolutionären Gedanken, weil sie dich überschwemmen. Sie sagen, die Realität sei zu komplex geworden, die Welt sei zu kompliziert, um im Ganzen verstanden zu werden – aber auch das ist gelogen; natürlich ist es gelogen. Die Welt ist nicht komplizierter. Sie haben nur die Zusammenhänge voneinander gelöst, sie haben das Radio in jedem Zimmer lauter gedreht, & jetzt versteht keiner mehr ein Wort von dem, was da gesagt wird. Wir sind der Lärm. Das Problem.

Geh hoch in den Bundestag & klopf mit der Mistgabel gegen die Glastüren – hast du nicht gesehen, was in andren Ländern passiert ist? Hast du nicht die Tränengasfontänen gesehen, die Wasserwerfer, hast du nicht die bewaffneten, die gepanzerten, die Polizisten gesehen, die da einfach nur ihren Scheißjob machen, denn irgendwer muss ja für Ordnung sorgen in dem Chaos, das sie sich selbst geschaffen haben, & später spricht keiner drüber, sondern man karrt die Verletzten, die mit den gebrochenen Nasen, aus dem Bild, & so lange keiner mehr im Bild steht, können sie vergessen. Die Türme zu Babylon fallen, aber sie brennen nicht – sie sollten Tag & Nacht wie Leuchttürme über den Ruinen dieser Gesellschaft strahlen, denn dann würde vielleicht endlich alles mal länger als nur für ein paar Minuten stehen bleiben, wenn einer im Fernsehen von Atombombentest spricht, oder wenn einer in England seine Pressfreiheit nicht mehr ausüben kann, oder wenn sie in Scheißrussland wieder irgendeinen Schwulen verscharren, weil er es gewagt hat, einen andren Mann an der Hand zu nehmen. Nur wenn man ihnen immer wieder aufs Maul haut, dann bleiben sie stehen – oder genauer gesagt bleiben sie liegen. Sie hören erst dann auf, wenn sie schockiert sind, & die Schockwelle muss wachsen, sie muss immer größer sein & werden, immer messbar am vorherigen Unglück, an der akutsten Katastrophe.

Wieder: Unentschieden. Die Cola ist leer. Ihr Kaffee auch. Neben uns sitzt jetzt ein Mann, der hat einen Kopf wie ein Holzklotz. Auch er hat keinen Namen mehr, aber auch keine Stimme, denn er sagt nichts. Er holt mich ab, sagt sie. Okay, sag ich. & hat dir das jetzt irgendwas gebracht? Eigentlich nicht, nein. Jeder hat nur wieder seine eigene Meinung bestätigt, aber es war auch die Meinung des andren. Eine Stammtischrundendiskussion ohne Ziel & Zweck also? Auch nicht. Die Zeit der Anführer ist vorbei, sagt sie beim Aufstehen. Glaub mir. Okay, & was für eine Zeit kommt stattdessen? Die Zeit der Antipoden, sagt sie. Ja? & wann bricht die an? Du wirst schon sehen. Du musst doch immer sehen, nicht? Also sieh hin.

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