Als ich aufwache, hab ich’s vergessen. Draußen ist Lärm, sie leeren die Container. Berlin, deine Vögel sind alle laut um diese Zeit, & deine Betrunkenen noch lauter. Alle sind so geschäftig, also dreh ich den Kopf. Neben mir im Kissen liegt das Buch, aufgeschlagen auf Seite 86. Der Trinker. Rechts daneben: dunkles Haar. Irgendwer. Ich erinnere mich nicht mehr, wie er heißt; ich sehe nur seinen Nacken, den Rücken mit Leberflecken, eine Narbe an der Hüfte – ist das nicht? sollte das etwa? Mach dich nicht lächerlich. Bilder rieseln mir hell durch die Augen, einzelne Momente: viel Licht, & ein Lächeln, das —
Ich suche mein Shirt, das zerwühlt irgendwo neben dem Bett liegen muss, & finde seines. Rot-weiß-gestreift, es riecht nach Regen. Seltsam, wie unendlich ich mich jetzt fühle, mit diesem Stoff in der Hand; so, als könne ich zerspringen wie ein Spiegel. Ich wäre glücklich, denk ich. Ich streife mir das T-Shirt über den Kopf, & bin erstaunt, wie gut es mir passt; ich bleibe so sitzen, mit dem Blick nach rechts, & zähle Leberflecke. Noch immer kein Gesicht. Nur die dunkle Schwere der Nacht in meinen Adern. Seltsam,… grade eben noch war ich ein Mensch mit Regeln & Vorsätzen – mit so vielen Sommern unter der Haut, & einer Stimme wie Wolken, die sich zusammenziehen über der glutheißen Stadt, & jetzt steht einer auf, der ist ganz Fleisch, der ist blau vom Sturz, & rot von gierigen Zähnen; der ist benutzt & verbraucht worden, den hat man über ein Bett gerollt, als wäre die Matratze ein Fließband, & der eigene Körper nur einer von vielen. Wer ist das? Wer bin ich? Ich & er, wir stehen auf, zum Fenster hin müssen wir, damit sich’s raussehen lässt aus dem Quadrat unserer Augen. Der Himmel ist gelb, wieder, & wieder; die Mücken fliegen tief & dicht über dem Asphalt, sonst ist da niemand. Wer trank den Wein aus der Tasse, wer bestellte den Schnaps? Auf der Toilette griffen Finger mir ins Haar, drückten mein Gesicht — mein Mund, der nicht aufhören wollte — das Stöhnen, das in die Stille eindrang wie ein Schrei — Haut, die auf Haut kleben blieb, als gehörten sie zusammen, & der Geruch von Schweiß — Bilder, die rieseln & rieseln, mit jeder Kopfbewegung schießen sie wie Funken aus mir raus. Die Schrift an den Wänden, die schwarzen Schmierer, die Striche, die kantigen, zerfetzten, die hässlichen Buchstaben, die Kreise & Dreiecke, die Schwänze & Arme, die zotigen Sprüche, in Englisch & Deutsch, alles voll von oben bis unten: die Kabinen – ein Schlachtfeld der Wörter, & darüber: ein blitzender Himmel aus rotem Licht mit Goldrand, & nebenan stöhnen sie heiser. Der Schrecken der Toiletten steht groß über der Tür, & darunter: steht er; Jeans & Unterhose in den Knien, & die Haut ganz hart zwischen den Lippen. Was? Siehst du, hier gehn die Türen auf, & der Wahn kommt dir entgegen: der Sessel unter der Fingern & das Luftschnappen zwischen zwei Blicken – hier ist die Nacht, & sie steckt dir die Finger tief in den Leib; sie sucht nach dir, als wärst du verloren.
Ich stehe am Fenster. Es ist warm, & die Vögel fliegen tief & dicht über dem Asphalt, nirgends Verkehr. Ich sehe hoch, an den weißen Wänden entlang, die mein sind, & die Wände gehen endlos hinauf, sie tragen jetzt keine Decke mehr, keinen zweiten Stock, keinen dritten, hier gähnt gleich der Himmel über mir, der mir nicht gehört, & darüber noch: die Sterne, die so weiß sind, dass sie nichts lassen vom Dunkel des Alls; es gibt keine Schatten über mir — & die Bücher links & die Bücher rechts & alle toten Stimmen darin, sie erzählen vom Wollen & Sterben, vom Vergehen – ich halte mir den Kopf mit beiden Händen, & frage: Wohin? & weiß: das hier, das ist Eine Episode, das ist ein Anfall, & drehe mich gegen das Licht, das überall ist & zum Rot hin, das aus dem Weiß & Grau meiner Wände mir entgegenstürzt wie galoppierende Wasser, wie Gischt & Wirbel, & ertrinke. Hier spürst du den Körper, der sich gegen deinen Körper drückt, hier siehst du die gehetzte Meute, die Tollwut im Blick & zwischen den Zähnen. Flieh, sagt das Herz. Jetzt, renn! Aber die Beine können nicht, sie müssen wippen & treten, sie müssen zwischen den Gedanken noch in der besten aller möglichen Welten tanzen, & tanzen, sie müssen sich fortgeben zum Schweben, zwischen zwei Händen & Mündern, zwischen Schwänzen, die sich immer steil nach oben biegen, & hier: das Geräusch von aufgerissenen Kondompackungen. Was? Nichts. Nur der Lärm der Container im Hof, vielleicht fünf Minuten später. Ich am Fenster. Denk ich. Aber in Wahrheit steh ich nicht, sondern liege noch, & raufe mir das Haar vor Verlangen & Hüften pressen Hüften & Fingernägel furchen über Haut bis sie eindringen ins Fleisch, das mir ganz weiß ist wie Marmor, & der Mund sagt: ja, & der Mund sagt: nein, & immer verrät ein Körper den andren. Es ist ganz egal. Es folgt hierauf kein Morgen.
Ich schließe das Fenster, & schenke mir ein Glas voll mit Wasser. Mir tut der Hals weh, der Rachen. Ich spüre meine Gelenke. War das vorher auch schon so? Gänsehaut, überall. Mich schüttelt eine Kälte, die von Innen kommt. Alan, denk ich. Alex, denk ich. Ich kann allmählich nicht mehr unterscheiden, was dem einen passiert & was dem andren; ich kann das Unglück nicht mehr ergründen, das sich dem einen auftut wie wenn man sich ein Stückchen Kuchen auf den Teller schiebt, & das dem anderen in die Knochen stößt wie Arthritis. Ich verliere die Zeit, & Tage, & mein Leben verliere ich auch angesichts all dieser Episoden, aufgrund des vielen Redenmüssens. Ich will doch nur frei sein, & dann: ein Schluck Schierling, der so süß ist wie Nektar, der Wein ist & die Lippen schwärzt; ich lache mit schwarzer Zunge & fühle im dumpfen Herzschlag die Gier nach Gewalt. Alan. Deine Narben, dein Gesicht zwischen allen; was erzählen, was fühlen & tun? Ich dreh mich zu dem um, der im Bett liegt, & das Bett ist leer.