Berlin, dein Getriebe

Für N.D.

Im Rausch sind wir alle Geiseln, & Opfer; wir sind wie Schiffbrüchige. Aufwärts jetzt!, nicht nach unten sehn. Das Pulver im Glas, & das Glas am Mund, der Wirbel im Innren, der einen fortwäscht, nur raus & zwischen die Leute, ins Getriebe der Nacht. Das hier, das sind deine Lippen, dein Haar, das ist deine Brust, die nach oben hin aufragt, die sich hochschiebt bis unter die Decke – das hier, das ist dein Körper, der sich mir auftut wie Falltüren; ich stürze – mit Mund & Zunge stürz ich dir entgegen, verfange mich, lache. Nicht? Nein.

Der Boden geht ohne mich davon. Niemand wartet. Geschlossene Türen überall, & dahinter: ein ohrenbetäubender Lärm; ein Stöhnen wie von Sterbenden. Das, denk’s, das ist die Lust, die uns antreibt; die uns prügelt & stößt, die uns blendet. Wir gehn wie Kinder durchs Finstern & suchen nach Halt – hier: Hände, Arme, Schultern, an die wir uns lehnen, wenn wir müde sind vom Wollen – aber nichts hält uns fest in der Nacht. Außer – dir – mir – uns: ein Schatten als Spiegel & darüber die Ohnmacht, die auf der Zunge zergeht. Raus jetzt!, in den wartenden Tag. Du musst heim.

& zu Hause? Da sind nur Stifte, die zwischen Schubladen festklemmen & Staub, ganz dick hinter den Büchern – wie viel Menschen liegen hier, wie viel Jahre & Hoffnungen?, wie viel Zeit? -, Münzen, ungezählte, & zerknautschte Papiertaschentücher von Wichse & Rotz, Teller mit klebrigem Rand, aufeinander gestapelt, & zerknickte Theaterkarten direkt daneben; ein fälschlicherweise richtiges Leben wartet hier auf dich. Nur die Liebe lieben, sagt’s, ihretwegen, & seinetwillen, & der Tag graut fahl am Rande der Stadt, graut da, wo er hingehört, denn hier – hier -, sind die roten Augen, die wehtun im Wind & angesichts der Möglichkeiten – wie! sag wie! & der Kehlkopf klopft nervös einen fremden Takt -, denn was ansehen, wenn die Nacht einen niederwirft gegen Knochen & Wände? Ich lache jetzt, nicht? Ja.

Im Spiegel beseh ich mir die blauen Flecke am Rücken, schwarzblau kurz über dem Steißbein & hellgrün an Knien, Schenkeln & Wade. Ich taste mir mit spitzen Dribbelfingern übers Brustbein & finde rote Striemen, die stammen von zwei Mündern, die zwei Männern gehörten, die sich einen dritten in die Mitte nahmen, als nehme man die Tragtasche unter den Arm, & so haben sie mich durch die Räume geschleift, von einer Widrigkeit zur nächsten, bis die Stunden — bis die Augen aufgingen — & dann? Stille, & Flucht, & jetzt also der Blick auf die eigenen Rippen. Was sein will, sag, was kommen soll – ich nämlich weiß es nicht mehr. Ich kann nicht denken, nicht fühlen, nicht sehen; ich spüre nur Nähte, die halten einen zusammen, der halb & halb ist – was ein Gestöhn!

Zwei Stunden später dreh ich die Musik so laut, dass sie mich taub macht, & geh mit irren Augen durch die nächstbeste Straße. Links: Winkekatzen in zu bunten Auslagen. Rechts: Reifen auf nassem Asphalt. Links: Shisha-Dampf, Geschmacksrichtung: Erdbeere. Rechts: eine alte Frau mit zwei Krücken; sie steht gebeugt bei der Ampel, geht gebeugt über die Straße, sie stirbt gebeugt, wenn der Würfel erst fällt. Fragmentiertes: Laut ist der Himmel über mir, & die Luft dazwischen, & ich weiß gar nicht mehr, wohin ich eigentlich muss. Mein Herz hämmert bloß noch, ka-tusch, ka-tusch, & Erschütterung um Erschütterung spür ich nach mit meinem zitternden Mund. Meinen brennenden Lungen. Meinem kochenden Herz.

Ich gebe mir Zeit & der Notwendigkeit ein neues Versprechen; diesmal wird alles — anders? Nicht doch. Menschen ändern sich ohne sich zu ändern; wir sind die Konstante unserer Sprunghaftigkeiten. Oder anders: Ein Verhaltensmuster kann sich nicht ändern. Es geht hier um Frequenzen. Ich sinuskurve durch zwei weitere Stunden, kosinuse durch einen Tunnelschacht & zwei rucklige U-Bahnen. Ich gehe mit hungrigen Augen durch übervolle Geschäfte. Winkekatzen rechts, alte Frauen links, alles wiederholt sich. Alles beginnt wieder von vorn – was ein Alptraum! Endlos schwatzhaft geben sich die Irren in der U8, U2 & U7, & die Straßenfeger-Verkäufer sind nie zur gleichen Zeit im Fahrraum wie die Motz-Verkäufer, aber Hauptsache stinken. Ich wittere Blut, Scheiße & ungewaschenes Haar, & gehe ab, weiter! Die Drogen in den Adern weiten alle Venen. Sie weiten mir den Leib bis ins Groteske. Was ein Kuss nur anrichtet! Wie spät? Halb elf! Halb zwölf.

Jemand ruft mir nach, & betont meinen Namen falsch. Ich muss an Egon Schiele denken. An Jerzy Kosinski. Nur rennen — nicht dem Schwindel erliegen. Berlin ragt über mich wie wenn sich das Meer auftut im Sturm: hier sind die Façaden, hier die Fenster & Türen, die Balkone, & Dächer – hier: das Geschrei der Blumenverkäufer – Hunde, die bellen & bellen, & die Väter? Schweigen, besessen vom Reden. Wen werden sie statt meiner eigentlich begraben, denk ich, & schneide die Tram mit zwei Sekunden Vorsprung, ka-tusch, ka-tusch. Noch mehr Häuser, Geschäfte, Menschen. Dächer, die unsren kleinen Himmel schnell verdüstern. Rufen, Winken, Namen – unermüdlich kreiseln Füße & Hände, die Gesichter weit über dem Weg; Blinklichtblitze blinzeln hektisch. Es donnert nicht. Weiter, geht schon! Touristen stehen vor Rolltreppen & entfalten Straßenkarten; sie finden nicht zurück ins Helle, in die Ruhe des Zimmers mit Aussicht – diese Stadt beugt sich nicht, sie wummert & brummt, sie hebt sich in die Höhe & ganz weit hinauf zwischen die Wolken – sieh: Baukräne schwanken zwischen den Häuserschluchten, ka-tusch, ka-tusch, Eisen, Stahl & Kupfer drängen pressen schlagen aufeinander ein, zischen, dampfen, pumpen Wasser aus der Tiefe auf die Straßen, wo es sprudelnd sich ergießt; sieh: wie die Passanten ausweichen, wie sie in Gruppen gängeln, & die Ampelphasen überstolpern, grelles Hupen, wie mit Faustschlägen geht es auf uns nieder. Was hören, was sehen? Berlin, nichts als du, als dein Raubtierknurren, dein Reißzahngrinsen —

Unter mir tut sich der Boden auf, denk ich, & renne weiterwegvomgeschehen — grade aus, wo der Tag graut, & die Nacht lauert, dort, wo das Bett mich aufnehmen will zwischen zwei Körpern. Hier: aufwachen, das heißt: das verkrustete Auge aufreißen, & mit zwei Fingern den Mund Lügen strafen, weil er nicht trocken ist, sondern klebrig vom Gestern. Was passiert ist, weiß ich nicht. Aber es schmeckt nach Wahn.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s