Für I.
1.
Im fremden Zimmer such ich Bekanntes. Ein Buch mit geknickten Seiten, eine Tasse mit Teerand, den Geruch alter Tage – stattdessen ist das Bett gemacht, & nirgends liegt Staub. Nichts verrät den Menschen, der in diesem perfekten Quadrat lebt, liebt, sich nachts hinlegt, um morgens wieder aufzustehen. Ich sehe Schallplatten in der Ecke; nach dem Alphabet sortiert. Keiner der Titel bedeutet mir was. Ich erkenne nichts, nur einen Spiegel in der Ecke, & darin: ein Mann, 27, die Augen rot, die Haare ungekämmt, blass. Den kenn ich, denk ich, & höre die Tür.
2.
Die Hose hängt über dem Holzstuhl, die Socken liegen darunter. Alles sieht so aus, als wäre es in großer Eile fortgeschmissen worden. Das Hemd ist zerknittert, die Schuhe noch verschnürt. Auf dem Holztisch direkt unter dem Fenster steht ein Glas Wasser, das einen hellen Schimmer wirft; es ist fast ein Regenbogen. Draußen: Tram-Lärm. Im ersten Stock spielen Kinderhände Für Elise auf einem verstimmten Klavier. Das ist die Ewigkeit, denk ich, & strecke die Füße unter der Decke aus – so weit, bis meine Zehen über den Bettrand ragen. Das sind die News: Kalte Füße an einem Wintertag, & die Hand hinter dem Kopf; einen Sehnsuchtsgeschmack auf den Lippen & in den Augen: die Nacht. Das bist du, sagen die Adern, die Leberflecke, & alle Haut, das bist du, & in jeder Sekunde: das Glück der Menschen hinter Glas. Ich könnte dich immer ansehen, & du würdest es nicht merken.
3.
Wie die Zeit uns verführt, & verdreht, wie sie uns den Mund austrocknet & die Lider verklebt; ich stehe am Fenster & Berlin tut plötzlich so, als wäre die Stadt immer die gleiche & ich ein anderer Mensch: Lauter Köpfe & graue Regenschirme, lauter offene Mäntel & dreckige Schuhspitzen. Kein Stehen, kein Zögern, ein perfektes Uhrwerk tickt da in Haut & Knochen & wälzt sich als gestohlene Zeit durch die Straßen. Proust, fällt mir ein, Proust an einem Spätsommer im Jahr 1900, & Venedigs schwere Liliendüfte. Das spitze, schabende Geräusch der Feder auf dem Papier; ein eiliges Schreiben: Es passiert nicht zweimal im Leben, dass man zu verwirrt ist, um vögeln zu können, Marcel?
Da hält ein Auto vor der Tür & lässt eine junge Frau nach draußen, die sich einen roten Hut schräg auf den Kopf drückt, weil ihn der Wind sonst mit sich reißen würde. Sie ist ganz blond & groß, & trägt einen crèmefarbenen Rock; der ist ganz & gar mit bunten Blumen bestickt. Sie nimmt eine braune Ledertasche vom Rücksitz, & sagt etwas zum Fahrer, das ich nicht hören kann, & verschwindet im Haus, das hoch & breit ist, & schon seit 1896 ein Prachtbau mit verzierten Doppelfenstern & stuckgerahmten Backsteinwänden; ich höre unten die Holztür zurück ins Schloss fallen, & versuche mir vorzustellen, in welches Stockwerk sie muss, zu welchem Leben. Das Auto fährt los; viel zu still, für einen Wagen dieser Größe. Sie wird mir nie begegnen.
4.
Die Buchstaben deines Namens zähl ich ab. Fünf. Fünf Buchstaben, & keiner gleicht dem andren. Wie der Morgen danach nicht der vorherigen Nacht. Es ist kalt beim Fenster & das Bett ist frisch bezogen. Es bleiben keine Spuren von mir in diesem Zimmer; jeder Duft zieht mit dem Wind wieder nach draußen. Die Teller sind gespült, die Spuren im Staub mit einem Lappen verwischt. Alles ist wie in einem Museum: die Postkarte von Tel Aviv an der Wand, daneben: ein schwarzer Rahmen ohne Bild; der Stapel weißes Papier neben einem schwarzen Füllfederhalter auf dem Tisch, drei Bücher, deren Autoren ich nicht kenne. Eine aufgerissene Kondompackung.
An dem Spiegel geh ich vorbei, & frage mich, wer man ist in aller Abwesenheit – wie wird ein Lächeln zum Bild, das Halswenden zum üblichen Spleen? Wie ist aus dem dicken Jungen dieser ausgezehrte Mann geworden, wie aus dem Rebellen der Kollaborateur? Der Bart ist kupfern & schwarz & braun & weiß, & der Mund grinst schief. Im Spiegel seh ich den Anderen, den Doppelgänger, den tobenden Faun. Die Nacht ist hinter den Spiegeln, denk ich, & geh ungläubig näher heran, an die Rippen, an Hüfte & Bauch; an den fremden Mann geh ich heran, wie wenn einer die Straße überquert – & links!, er sieht den Wagen nicht! -, da: die Arme von vorn, die reißen & zerren & stoßen, die tragen ihn fort in die Finsternis, ins Laute, wo aller Tage Abend ist, & der Kuss ein Biss in rohes Fleisch. Wir wälzen uns herum. Wir schlagen uns blau an den Wänden, wir drücken einander aufs Bett, das hart ist & kalt, & zerfetzen einander die Haut; wie wenig davon in Wahrheit funktionieren will, die Wörter, der Sex, die Aussicht auf ein Leben, das uns aufblüht wie Flieder. Es bleibt keine Stimme im Hals, kein Rufen & Schreien, nur die Fäuste im Rücken & die Krallen am Hals; ein Geschmack von Salz & Medikamenten. Blut. Verderben. Er lehnt sich gegen ihn & gegen mich, & die Welt kippt mit uns durch den Spiegel in buntes Entsetzen; in Zeitungen, die aufflattern zu Kriegsgeschrei, zu Granaten, die Passanten die Bäuche zerreißen, & unter aschenen Himmeln: eine Frau mit rotem Hut, die hastig nach Schutz sucht; ein Zittern in den Fenstern & ein Scheppern weit hinter den Wänden: Was entfesseln? Was ketten? Fünf Buchstaben, daran denk ich, & suche die Scherben vom Spiegel zusammen, deinen Namen.
5.
Als ich aufwache ist es spät. Die Träume vibrieren noch, & die Welt tut es ihnen nach. Auf den Straßen liegt frischer Schnee. Alles ist so völlig unberührt, nirgends die Spur vom vorherigen Menschen. Den Pullover nehm ich von der Sessellehne, & atme die kalte Luft ein, die Stadt, die sich nicht rührt, den ganz neuen Tag. Was alles möglich ist, jetzt. Ich denke an den Mann, der im Bett liegt, an seinen Mund & die Augen, an die Hände unter dem Kopf, & den Geruch seiner Haut; ich denke an Zoey, die morgens mit der Tüte Croissants in der einen Hand die Tür öffnet, der Schlüssel baumelt in der andren, & lächelt; an ihr kaffeenes Haar denk ich, das ihr strähnig in die Stirn hängt, & straff im Nacken sitzt, & an den Frühling, wie er sein wird – an die ersten Augenblicke Sonne, den ersten warmen Wind, & alles Grün, das aufgeht wie Türen & Fenster, & Augen – seine Augen, deren Lider sich entzahnen, die mich ansehen, ganz unverwandt -, Augen aus der Ferne, die tief sind & voller Widerstände, ein ganzes Leben blickt mir entgegen aus dem Bett & fragt nach meinem Namen.
Seine Schwester, denk ich plötzlich. Zoey ist seine Schwester. All ihr Kichern spiegelt sein verschmitztes Lächeln, ihr Blick den seinen, der Mund den Kuss; einem Doppelten seh ich entgegen & zupf mir Flusen vom Kragen. Was? Dieses Vibrieren in den Wänden, dieses Vibrieren von Estrich & Zierleisten, die Vergangenheit bebt mir unter den Füßen. Sieh dir den an, sagt wer von links, & grinst boshaft – es ist eine Frau, die irgendwann mal meine Mutter war, & die jetzt bloß eine Fremde ist; blass & alt, ein Schatten in abgetragenen Kleidern, & Haut. Eine gehetzte Hand richtet ihr das Haar, sieh dir den an, zitternd haben rauhe Finger diesen Schuh geschnürt, diesen Blick zurechtgerückt mit einer Brille, & jetzt steht sie dort, zwischen zwei Vorhängen der dritte, ein Geist, wie hingehaucht ans Fensterglas, & bleckt die Zähne. Ich träume, denk ich, & sehe Joseph im Bett, meinen Gegenentwurf. Die Alternative. Sieh dir den an, einen Aufruf zur Traurigkeit. Seine Brust, die sich hebt & senkt, ein Gott der Lungen, & ich sehe. Aus aller Asche formt mein Mund die Weigerung, aus allem Dreck & jeder Wut die Kraft zu neuen Tagen. Was gibt’s denn da zu sehn?, sag ich, & stoße mich voran, dem Geist entgegen. Ich seh einen, der nicht zwischen den Tagen die Nacht sucht, & beim Kissen nicht die spitzen Kanten der Federn; das ist einer, der bandagiert sich die Hände, wenn die Schläge zu hart werden vom Andren; der reißt dem Glück das Maul auf, bis es die Gewalt spürt, die uns das Leben ist, & zwingt es zum Sprechen. Der ist die Zwille, statt des Steins, meine Schmauchspur im Herzen. Was ist uns möglich, sag schon, welche Grenzen hat uns der Alltag gezogen, welche Hürde als Mauer gebaut? Was muss man denn noch fressen, um zufrieden zu sein?
Der Wind fegt durch die Vorhänge wie Geschrei. Nichts, nichts, bist du, & er. Nichts als eitles Tun unter der Sonne – ausgerechnet im Wind ist Gott, ja? Zur Hölle mit Gott. Zur Hölle mit allen Konventionen & Regeln. Ich fahre aus dem Bett auf, wie wenn einer die letzte Treppenstufe verpasst; ich stürze dem Wachsein entgegen. Schutzlos. Verschwitzt. Mir brennt der Hals vom eigenen Puls.
6.
Auf & ab geh ich, mit dem Alptraum im Nacken, & der Wut tobend im Bauch. Was sich die Leute einbilden – wie sie sich anlügen – keiner lernt aus den eigenen Fehlern. Wahllos ist mir alles im Kopf, Bild für Bild, jede Schlechtwetterprognose. Wann zurücksehen & nicken? Wann nicht? Mein ganzes Leben schält & pellt sich vor meinen Augen, & ich begreif es plötzlich genau. Wäre mein Leben ein Buch, es gäbe sich erst als Bildungsroman aus, um am Ende zum Schundroman zu werden – eine Zumutung von Sätzen & Momenten, ein unzusammenhängendes Denken. Namen, die sich nicht erklären würden, die kämen & gingen, ohne Klang & ohne Geruch – leere Flächen. Ich blättere durch alte Papierstapel & finde Entwürfe & Studien, ich finde Fotografien; sieh dir den an, ein Junge, 23-jährig, & vom Möglichen gelähmt; einer, der wollte weiße Nächte in Paris & gierig lieben, wie Hasardeure, wie Seiltänzer kurz vor dem Fall – nur nicht aufgeben. Sieh dir den an, den Skizzierten, den Entworfenen – wie die Vergangenheit ihm große Versprechen gemacht hat, auf eine Dreiecksbeziehung, & die Sucht nach fremden Leben, Orten, Zuversichtlichkeiten. Wie er dieser Zoey in die Arme lief, geblendet vom Kummer – als man ihm die Mutter zerschlagen hat -, & wie er darauf reinfiel, auf diese reine Liebe. Trostlos. Geruchslos. Die Liebe von Mauern & Leere, das bloß Erträumte, das Nicht-Gesagte. Um sie herumgeschlichen ist er, mit seinen tapsig großen Schritten, mit seinen blauen Augen & dem schiefen Mund, mit seiner nie endenwollenden Selbstkritik, & allem Hinterfragen. Was tun, wenn es das nicht ist? Wenn dieses Leben zu klein wird, dieser 8-Stunden-Alltag, von dem sie ihm immer erzählt haben, von den Gebühren & Steuern, die zu zahlen sind, der Krankenversicherung, die einem die Bürde des Krankseinkönnens ins Fleisch schraubt, als hielte es den ganzen Mensch zusammen – all die Ängste, sieh dir die doch mal an, die da all die Jahre eingeprasselt sind – wie Münzen in offene Handflächen prasseln, so klingt die Angst in seinen Ohren nach, & die Angst, das ist nichts als ein Freibetrag, den zahlt noch der Reichste mit geizigen Augen. Aber was ist er arm gewesen, dieser Junge, welchen Hunger hat er erlitten, welche Mängel? Die Papiere gehen mir durch die Finger, die Bilder. Nein.
Ikarus, an den denk ich, während ich die Unterlagen wieder zurück auf den Boden werfe, dorthin, wo sie schon seit fünf Jahren liegen. Alle Argumente kennt Ikarus, nur die Sonne, die kennt er nicht. Die Sehnsucht zu brennen. Zu verglühen. Jede Angst mit der buntesten Pille zum Schweigen zu bringen, sie zu ertränken im billigsten Zeug. Er kennt die Nächte nicht, die wie Schläge waren, kennt den Hunger der Wälder nicht, der einen auf die Knie gehen lässt vor Verzweiflung. Vom Dunkel kennt er die Haut, aber nicht die Organe. Ikarus. Ein Todgeweihter. Ich gehe durch das Zimmer, das nichts von dem Menschen verrät, der in diesem perfekten Quadrat lebt, liebt, sich nachts hinlegt, um morgens wieder aufzustehen. Die Musik dröhnt dumpf durch die Wände, sie schallt bis raus auf die Straße. Was tun, welches Leben sich zurechtschneiden an den Ecken & Enden, damit’s ins Fotoalbum passt, in die Rückschau zum Weichzeichner & den glücklichen Tagen? Wie den Vater sich nicht zum Feind erklären, der einen zurückgelassen hat, als das Kind nichts von Vätern wusste? Wie nicht trinken & rumhuren, & jedem Exzess eine Entschuldigung nachreichen, als wär’s ein Attest? Funktionieren soll man, beim Widerstehen nicht den falschen Anschein erwecken, sondern anständig Abstand lassen, sich distanzieren vom Lauten & Geläuterten, das Gebrüll muten & bloß! nicht! Lärm! schlagen! in Zeiten des Schweigens. Wie sie einen belauern, die andren, die in Anführungszeichen gesetzt Normalen, wie sie einem den Blick reichen, als tickten alle Uhren plötzlich rückwärts & der Kopf könne einem abfallen vom Verrücktwerden – dabei ist der Umstand, dieses Zumnormalgezwungensein, das eigentlich verrückte. Wild & frei leben, & keine Rücksicht auf Rückschauen nehmen, den Anlauf zum Sprung suchen – toben & zürnen, & nicht wieder die Wut herunterschlucken, nur damit sie handlicher wird beim Psychotherapeuten. Alles längst klar, alles durchschaut & zum Ratgeber ins Regal gestellt, wo’s einer zwischen zwei U-Bahn-Stationen mal flüchtig überfliegen kann.
7.
Du sagst, du kennst alle Argumente, aber den Wahn kennst du nicht. Die Träume & Sehnsüchte, den Widerspruch des Anscheins. Die Organe des Wahns kennst du nicht, die in mir alles Sehen verdauen, alles Hören & Fühlen, jeden Gedanken. Die Lasten der Liebe sind dir fremd. Du hast die Provinzen nicht gesehen, nicht die Leere im Blick der Landfrauen mit ihrem Stahlwollehaar; du redest vom Hass des Normalen aufs Anderssein, & weißt nichts von der Enge der Alternativlosigkeit; der Gier der Nachfolgenden auf den eigenen Sitzplatz. Vom Tod & der Ewigkeit erzählst du, als wüsstest du, was für Schneisen der Tod in mein Leben schlägt, welche Tiefen der Krebs in meine Worte reißt, welche Minenschächte einbrachen unter dem Gewicht des Neonlichts – dort, in all den Krankenhausfluren, als wieder & wieder & wieder eine Infusion gelegt werden musste, als sie wieder & wieder & wieder die Venen nicht fanden in meinen bleichen Armen -, hier, bei all dem Vibrieren zwischen den Wänden. Vom Abgrund weißt du nichts, der in mir gähnt bis ihm der Kiefer knackt. Stattdessen glaubst du, mich zu kennen. Zu kennen, wie ein Freier seine Hure. Von so einem Text zwischendurch, in so einem Blog zwischendurch, in einem Leben, das man benutzen & weglegen kann, wie eine Fernbedienung. Wie zynisch.
Das hier, das ist ein Angriff gegen alles, was dein ist. Ein Angriff gegen deine unkonzentrierte Gemütlichkeit, deine zuversichtliche Ruhe. Dein Michkennen. Das ist mein Geschenk. An dich. Du kannst es diesmal wirklich behalten. Ich brauch’s jetzt nicht mehr.
Den Raum füllen, genießen was er vergeben mag. Kosten von der Anonymität und feststellen, dass eine Fremde sich gut anfühlt. Und dass auch einst Bekanntes fremd werden kann. Akzeptanz nicht mit Resignation verwechseln. Schnee in reißende Bäche verwandeln. Der Frühling kommt.
ja, notwendigerweise. es ist zeit für den frühling – auch: für die gewalt des frühlings. sein aufbrechendes wesen, seine schneeschmelzstunden. verfremden bis auch das fremde wieder eine dieser bekanntschaften wird, von denen man später nicht mal mehr den namen zu sagen weiß. aber: lebendig sein! um jeden preis.