Des Baches Wiegenlied

Vom Wasser träum ich. Von Wellen, die türmend sich umschlingen, & gurgelnd ineinander stürzen – vom Rauschen träum ich, von Gischt, die hungrig ist & beißend, tanzend unter einem stürmischen Himmel, & ich, ich werde mitgerissen. Panisch schlag ich aufs Wasser ein, das mich fortzerrt, fort vom Ufer, fort von einem Boden unter den Füßen, fort von allen Sicherheiten, aber das Wasser zeigt sich unbeeindruckt von meinen Schlägen. Es drückt mich nieder, es wirft mich herum, es nimmt mir den Atem & die klare Sicht. Weiter. Schwarzes Strudeln, dunkles Strömen, die Kälte steigt aus der Tiefe mir in alle Glieder, die Kälte blinder Augen, weißer Schuppen & Panzer, es ist mein Grab. Nein, nein, ich will nicht, will nicht –, silbrig steigt die Luft mir aus dem Mund – meine Zähne schnappen nach jeder Blase, die an der Oberfläche der tosenden See aufsteigen & zerplatzen mag zu heiserem Geschrei; ich kann es nicht sehen, ich kann es nicht greifen. Von links & rechts schlagen die Wellen abwechselnd auf mich ein, sie prügeln & stoßen mich, die Knochen wollen sie mir brechen mit ihren klatschenden Fäusten, mit ihrer tobenden Wucht. Hinab, sagt das Meer, hinab, & zieht mich an den Füßen in die Tiefe, meine Gelenke will es mir ausreißen, das Meer –,

Will betten dich kühl,
Auf weichem Pfühl,
In dem blauen krystallenen Kämmerlein.
Heran, heran,
Was wiegen kann,
Woget und wieget den Knaben mir ein!
*

Schubert, denk ich noch, dann packen meine Hände die Decke, die ist wie ein Bleimantel, die drückt mich ins Bett. Wach bin ich, ganz wach, das Blut pulsiert mir hart in den Ohren. Eine Hand wühlt mir im Brustkorb & nennt sich mein Herz. Weiße Funken zischen durchs Zimmer, verglühen. Das ist das Fieber. Ich weiß nicht, wie ich plötzlich mitten im Zimmer stehen kann, aber hier steh ich, zieh mir langsam die Haut ab & werf sie achtlos über den Sessel. Erst das Shirt, dann die Hose. Ich brenne lichterloh. Der Boden kippt & wackelt, jeder Schritt fühlt sich so an, als ginge ich über Gelee. Wohin? Ich bin bereits im Flur, der schwarz ist, & endlos; er führt in alle Richtungen zugleich. Eine Frau steht in einer der unzähligen Ecken & lacht; ihre Augen seh ich durch die Dunkelheit leuchten, helle, gelbe Punkte, & als ich näher komme, zerfällt sie zu Jacken am Haken & einem blauen Regenschirm. Ich tapse wankelnd ins Bad, & lasse kaltes Wasser in die Wanne laufen. Wasser, Wasser, es rauscht & brodelt, es füllt mir die Augen, den Hals, die Adern & Lungen. Ich lasse mich langsam in die Kälte gleiten. Gehe unter. Bleibe liegen. Über mir flimmern weiße Funken, über dem Wasser, an der Decke, überall: blitzendes, irrendes Licht. Ich denke nichts, fühle nichts, ich koche. Dampf steigt auf von meinen Füßen, die nicht ganz in die Wanne passen, Dampf von meinen Händen, die sich am Rand festhalten, Dampf, der verwirbelt & wirbelt, der sich nicht auflösen darf, & dann wird es plötzlich dunkel. Ich gleite einfach fort, ins Wasser hin, das mich aufnimmt wie in einer Umarmung, es umschließt mich in weichen Wänden, in einem fließenden Sarg, & nichts, & niemand findet mich dort. Das ist das Ende, so hört es auf. Ich sterbe. Sterbe in meiner eigenen Badewanne. Es ist Dienstag, der 13. November 2012, & ich bin tot. Es kommen keine Bilder, kein Leben, das an mir vorüberzieht, keine Erinnerungen, kein Tunnel, nichts. Ich sinke dem Tod entgegen, wie ich dem Leben entgegen gesunken bin – bewusstlos. Ohne zu begreifen, was eigentlich geschieht. Nichts bleibt von mir übrig. Keine Melodie, keine Stimme, kein Ton. Die Hand, die mir im Brustkorb wühlt, streckt alle Finger von sich, ruht.

Dann bin ich plötzlich wieder da, das Bett unter mir wogt & gleitet, es ist ganz oben auf dem Wellenkamm eines rastlosen Meeres. Ich liege da & schaue hinunter, hinunter, wo einst ein Boden war, & sehe nichts als Wasser. Von irgendwo scheint die Sonne, alles ist hell, fast weiß. Ich drehe mich um, & alle Wände sind fort; ich treibe endlos. Was mir im ersten Moment als Bett erschienen ist, sind nichts als ein paar Planken, hastig zusammengeschnürt mit fauligen Seilen. Wohin? Als Santiago suche ich Leben, & finde als Ahab nichts als den Tod; ich schwimme als Nemo in meiner unermüdlichen Neugier, & ertrinke als Long John Silver in meinem eigenen Verrat. An mir selbst seh ich hinunter, an Brustbein, Bauch & Hüftknochen, & je länger ich mich ansehe, desto mehr spüre ich, wie alles Fleisch zu Wasser wird, wie es zwischen die Planken sickert, salzig & mit dem Geschmack eines Menschen, eines Konquistadoren wie Cortés, der seine eigenen Schiffe versenkt, um nie mehr zurückkehren zu müssen; eines Herzogs von Medina Sedonia, der die Armada vom Sturm gepeitscht gegen Englands Küsten treibt. Ich fließe & fließe, & löse mich auf: Störtebekers Schädel auf dem Pflock, Smiths Kurs durch das Eis, da Gamas Blick auf das Kap der Guten Hoffnung, & dann nichts mehr. Zum U-Boot wird mein Floß & sinkt hinunter, durch den Wellenkamm ins Innere des Meeres – nur auftauchen muss man! Sich zur Wehr setzen! Ich muss –,

Als ich aufwache, ist die Welt kantig & schmerzhaft, ich bekomme kaum Luft. Also schlag ich die Bettdecke zurück, & schau nach rechts, wo die Fenster sind. Es ist bereits Tag. Längst Tag, wenn die Anzeige auf dem Handy stimmt. Alles ist schwer, die Kleidung hängt an mir dran wie Extragewichte. Ich gehe wacklig durch mein Zimmer, suche was zu trinken. Als ich die Plastikflasche dann endlich gefunden habe, muss ich fast lachen. Dann verschluck ich mich.

*Wilhelm Müller

One Comment

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