1.
Was ist es eigentlich, die Wärmflasche auf dem Bauch & der Ingwer im Glas, das Licht, hellweiß-fastsilbern, das an den Wänden langwandert, Durchgangsverkehr für drei Paar Augen, & der Stapel Bücher direkt neben dem Bett? Ist es die Haut, warm & fest & ohne einen Duft? Zoey streicht sich das Haar aus der Stirn, grummelt, dreht sich mit dem Gesicht zur Wand. Also Zoey ist es nicht. Links: das Geräusch einer Tasse, die einer aufs Parkett stellt – hier ist Joseph, mit Farbflecken auf den Armen, von den Ringfingern über die Handknöchel bis hin zu den Ellbogen. Er ist rot & blau & grün, ein bisschen pink. Er ist ganz viel, aber auch Joseph ist es nicht. Nicht die Tasse Kaffee neben ihm, nicht die Leinwand, die er gegen den Tischfuß lehnt, nicht die benutzten Pinsel im Einmachglas. Rechts: mehr Bücher, eine halbleere Wasserflasche, Farbtuben. Was, was?
2.
Später steh ich an der Tram; ganz Berlin will leicht sein. Zwei Kinder jagen sich lachend, & ein Mann zählt sein Kleingeld von einer offenen Hand in die andere; eine Frau in einem roten Mantel nimmt gerade ihren atemlosen Mops auf den Arm, der hechelt ganz müde, & im Hintergrund steigt einer vom Rad – er macht es an der Laterne direkt bei der Bank fest -, & die Kinder, hier rennen die Kinder, sie kreisen um ihn herum, einmal, zweimal, & dann die Straße entlang, man hört sie laut lachen. Am Himmel: die Wolken. Sonne. Vogelschwärme. Ein Wind geht durch die Bäume, & verwirbelt Gerüche & Licht; er streicht über mich hinweg wie eine Hand, durchdringt mich, zersprengt das Laub zu meinen Füßen, & stößt das Fahrrad zur Seite. Wind, Wind, eine ewige Sehnsucht nach Widerständen. Hier, denk ich. Jetzt. & plötzlich wird alles ganz klar, durchsichtig. Weit.
Jeder Schritt & jede Weigerung zum Gehen, jede Tür, die ins Schloss fiel & jedes offene Fenster, jedes Buch – jede Zeile darin, & jedes Wort, alle Punkte in allen Büchern, jeder Gedankenstrich -, alles hat mich hergebracht, denk ich, an diese Stelle, zu diesem Zeitpunkt. Hier, hier, denk ich: hier, hier. Um das zu sehen. Um das zu fühlen. Für dieses Leben. Was Schwere war & Unglück, ewiges Scheitern, es fällt ab, aus meinen Augen, den Lippen, der Haut. Ich atme einen Wind ein, der erlösen will, einen Wind der Seefahrer, der als steife Brise in die Segel fährt, der als Sturm die Wolken vor sich hertreibt, & dann verwirbelt & abflacht, der sich sanft als Atemzug auftut in den Lungen zu Leben. Die Haut prickelt vor Kälte, & der Hals kratzt, es ist egal. Hier, hier, denk ich. & sehe.
3.
Flüchtig geht einer am Vorhang vorbei, & sieht nach draußen, wo die Autos fahren & stehen & des Stehens wegen hupen & fahren, & woanders, es ist Abend & das Licht ist gedämpft, da sitzen zwei, die reden & reden, die kriegen nicht genug von der Stimme des andren; zwei Wochen später küssen sie sich im Wirbel der Musik, & lieben sich auf einem Bett unter Goethes Portrait; vorher – vorigen Winter -, da stehen drei Frauen & drei Männer in einer Küche & wälzen klebrigen Teig über Mehl & nippen am Wein, & noch früher, da stehen sich ein Heiliger & eine Gottheit gegenüber im Lachen, wie Zwillinge in ihrem Denken & Fühlen & Hingeben, aber getrennt durch Vergessen, & vielleicht kommen sie nie zueinander im Wollen; sie bleichen die Nächte & schwärzen einander die Tage. Jetzt, sag es: Jetzt. Ein Bruch im Knochen, ein gerissenes Band, & Namen gehen nieder wie Regen: Abkürzungen, Phantasienamen, Pseudonyme, Initialien – jeder schlüpft mal in die Rolle des andren, aber keinem passt die Haut des andren so gut wie ihm: Also, sagt er, & nennt sich Jonah. Er spricht von Tel Aviv, & seine Lippen schmecken nach Salz. Er nennt sich Nicolas, & lacht versonnen. Zeiger & Zahlen, & das Konto im Minus: so geht er hin, nimmt die Gläser & zerschlägt sie zu Scherben, er reißt die Photographien von den Wänden & ersetzt sie durch neue; er rollt das Papier in die Schreibmaschine & vergisst den Anfang der Sätze, deswegen beginnt er immer am Ende, & zwischen Seiten klemmen die Briefe, die bereits beendeten & nie begonnenen, als Lesezeichen für die ungelesenen Bücher. Die Erde rollt er ab von den Träumen, die im Sommer stets ruhelos sind, & geht darauf wie auf Glas; er; mit dem eingeklemmten Rückennerv & schmerzenden Zähnen, er geht durch Prag mit Kafkas Gedanken & Hemingways Worten, & durch Paris, als kehre er nach Hause zurück. In Lyon liebt er, liebt die Sonne & Ruhe, die Bilder, die ihm ein anderer gibt, & flüchtig, flüchtig! geht einer am Vorhang vorbei, & sieht nach draußen, wo die Menschen seinen Namen rufen & warten & des Wartens wegen rufen & weitergehen. Das sind die Orte, die sich ineinander schieben, übereinander, zwischeneinander, & alle Wege kreuzen.
Was ist es eigentlich, das uns glücklich macht?
Telubor, deine dunklen Wasser peitscht du mit Bildern, & er, 910 Kilometer Luftlinie entfernt, summt deine giftigen Lieder. Vom Selbstmord sprechen sie, noch morgens um 4, so, als brächte ihnen allein der Tod, wonach sie sich sehnten, & dann, als die Matratze zu weich wird für seinen Rücken, springt er auf in die Kälte eines Abends, als alles Warten ist, & schält einer Gottheit den Panzer, den ganzen Leib schält er ihm ab & erkennt darunter den Menschen. Lichternd sind die Tage & Wochen, alles heimliche Glück, das im Humus steckt & in den Ingwerstückchen im kochenden Wasser; er zeigt einem Italiener die Vergangenheit in Neukölln & einer Neuseeländern den Trotz deutscher Narren; er trinkt den Vodka aus blinkenden Gläsern & diskutiert über Holz für die richtigen Betten; er lacht & lacht & verzweifelt im Wollen. Aber: Welches Glück! Welches Lieben! Hier, hier, denk ich, hier ist dein Herzschlag, & der Vorhang zwischen den Fingern, denn flüchtig geht einer daran vorbei & sieht nach draußen, sieht – sieht -, Straßen & Wege & Menschen, die ihm begegnen. Lauter Harmonien, die einem das Herz brechen, die das Rad abstellen bei der Laterne, die den Mops auf den Arm nehmen & rennen, rennen. Der Atem will einem ausgehen dabei.