Die Traurigkeit des Seiltänzers kurz vorm Fall

1.
Die Liebe muss man ihm austreiben wie einen bösen Geist. Reinigen muss man ihn von dem Gedanken, so als wasche man ihm Hände & Hals – die Füße vom Gehen auf unbegangenen Wegen, die er sich selbst auslegt, ein Kartenspieler der Begierden, einer, der alles auf die 7 setzt & verliert. Abschneiden muss man’s ihm, vom Kopf das letzte Stück Selbstgewissheit, die Fragen nach mehr. Es ist nie genug. Die Liebe vervollständigt uns nicht. Sagt er. Sie macht uns nicht ganz. Wir sind keine Hälften. Im Ganzen kein halbes. Liebe ist optional, sagt er, eine Gefälligkeit in Anbetracht der Möglichkeiten, ein bisschen Zucker im Tee & ein Löffel Marmelade aufs Brot, keine Erlöserin. Sie rettet nicht, adelt nicht, spricht uns nicht heilig. Vergessen muss man die Liebe, die kommt wie eine Naturgewalt, die mit der Tür ins Haus & mit dem Haus ins Unglück stürzt, denn sonst läuft er noch über, ein Kollaborateur der gebrochenen Deiche: So sitzt er neben mir, die Lippe zwischen den Zähnen & die Augen im Anschlag, wie mit Gewehren schießt er seine Blicke auf den Mann auf der anderen Seite, hört zu, wie ich vom Lotos erzähle, vom Vergessen, & schweigt. Sein Gesicht ist ruhig. Ich hingegen, ich bin angespannt, wippe mit dem rechten Bein, halte kaum Augenkontakt. Ich muss den faden Geschmack meiner Nächte loswerden, denk ich, & schlucke die Tablette, die er mir gegeben hat, ohne zu zögern; sie öffnet mir eine halbe Stunde später die Venen & das Rauschen beginnt, das Zerfließen. Draußen grauen bereits Wolken & Horizont; der Tag steigt auf zwischen schweißigen Bettlaken & leeren Tellern, zwischen Aschenbechern, die voll sind bis zum Rand & umgestoßenen Gläsern. Aber vom Draußen seh ich nichts, allenfalls ein schwummriges Lichteck beim Vorübergehen der Menschen. Drinnen tanzen sie. Tanzen, immerzu. Es ändert sich nie.

2.
Wir jagen, jagen, jagen, den ganzen Tag jagen wir uns nach – wir müssten uns längst Trophäen sein. Ausstellungsstücke im Leben des andren. Stattdessen sind wir Namen, die uns wer nachruft, ein Pullover, dessen Farben ausgeblichen sind vom Waschen, eine Gelegenheit. Die Traurigkeit des Seiltänzers kurz vorm Fall. Wie wir gehn & stehn, wie wir uns einander entfallen. Auch die Nacht kann das nicht richten. Das, was er sagt, & ich wiederhole: Du führst das Leben eines Fremden. Mein Körper zittert noch. Meine Finger sind kalt, meine Pupillen klein & regungsslos.

3.
Sein Körper ist aus Kupfer, ich fühl mich wie Pappe. Das rote Licht taucht uns unter Wasser. Einer ertrinkt am andren, & lacht. Der andere rauft sich die Haare, & streicht die Wogen glatt, die seine Gedanken gepeitscht haben, als breche jede Sekunde ein Sturm herein über das Golden Gate. Über die Tanzfläche, die vielen Männer & wenigen Frauen; es ist eine Ohnmacht ganzer Königreiche, die über ihnen lauert, & sie merken es nicht. Die Finger werden kalt, die Arme, das eigene Gesicht wird ihm zur Maske, aber er lacht. Es könnte ein Mord direkt vor seinen Augen geschehen, er hörte nicht auf damit. Nichts stört ihn beim Tanz. Er geht darin auf, verschwindet. Es bleibt nichts als der Rauch in der Luft & die Sehnsucht nach Worten.

Wenn ich aufhöre, zerspring ich, sagt er, & gibt mir was zu trinken. Es ist mir ganz egal; ich fühle nichts, keine Welt & keine Menschen, alles ist weit & wüst & leer. Selbst den Göttern dunkelt es. Ich hingegen, ich trinke. Manchmal bleibt jemand vor mir stehen & schaut mich an, aber in meinem Blick ist kein Platz. Zerstörung allenfalls, Auflösung, ein Toben im Blut. Sonst nichts. Es gibt keine Rettung, sag ich. & lache.

4.
Flux erzählt mir zwischen zwei Wänden & Holz, wie sich die Welt auftut wie Fenster, & reicht mir den gerollten 5-Euro-Schein. Er raucht wie besessen. Ich schmecke nichts. Bitternis allenfalls. Unter der Kleidung brennen Haut & Eingeweide, sonst fühle ich nichts. Drogen sind eine Entschuldigung. Eine Entscheidung. Drogen nimmt man nicht grundlos, sie widerfahren einem nicht. Draußen sitzen zwei Männer & sehen uns an, sehen, was wir tun. Vielleicht ist das noch Leben. Vielleicht ist es bereits etwas anderes. Da, für eine Sekunde: das ist Wahrheit – entscheide dich für deine Überlegenheit, für dein besseres Wissen. Werd glücklich damit. Ich kann es nicht. Kann nicht weiter so, kann nicht gradeaus. Jede Vorstellung, jede Möglichkeit zerschlägt mir die Augen. Ich, das ist Vergessen. Immer mehr Leere im Vollen & Übervollen, im Auslaufen & Übertreten, ein Stolpern & Fallen.

Was wir nicht überwinden, das tragen wir mit. Jeden kleinen Fehler, jedes Versehen. Wir tragen sie mit, die Namen der Geliebten. Die Namen all derer, die wir zurückgelassen haben. Narben. Was Zukunft sein will ist ein Rückblick auf alles, was verloren ist. Der Mensch, der man sein will, ist nicht der Mensch, der man ist, also ist man ein Drittes. Weder Gedichtsband, noch Sturm. Kein A. mit dem die Geschichte beginnt, kein Z. mit dem sie endet.

5.
Im Wahnsinn der Nächte & Berührungen verliere ich etwas, ich kann es nicht benennen. Muss ich auch nicht. Lieber geht das Herz einen Schlag weiter, weiter, zu schnell vorwärts im Ahnen, & Wüten. Vielleicht ist sie jetzt da, diese Möglichkeit, die letzte & entscheidende Möglichkeit, die besagt, dass alles Lieben umsonst ist. Dass es zu spät ist, tatsächlich & unwiderruflich, dass es keinen Weg zurück gibt aus der Finsternis, in die ich eingesunken bin, als wär sie mein Bett, & dass es mir egal ist. Egal, wer stirbt & wer lebt, wer aus all dem Niedergang noch die beste logische Konsequenz ableitet & darauf ein neues Scheitern baut. Lotos pulst mir in den Adern wie Gift. Pumpt durch & durch, immer wieder aufs Neue durch Lungen & Hirn, & vielleicht ist es das Vergessen, das es schafft, das Vergessen existenzieller Einsamkeiten, des Hungerns, der Leere. Den Menschen hab ich mir entnommen. Wie ein Organ, das niemand braucht. Ein Weisheitszahn ist mir das Menschsein, ein Blinddarm. Also schneid ich es raus, aus mir & den Gedanken, den Abenden, in denen ein Mund süß schmeckt, & den Morgen, die zu früh kommen, um was anderes als Widerwillen zu lassen. Was? Kein Wohin mehr. Kein Ankommen-Müssen. Alles ist bereits da, ist Wiederholung & Stabreim; du drehst dich im Kreis.

6.
Als wir uns verabschieden, schmecke ich Asche zwischen den Lippen. Es ist bereits hell, halb Berlin ist auf den Beinen. Am Alex wühlen sich Menschen durch fremdes Fleisch & nennen’s Treppensteigen; ständig hört man wen fluchen, eine Mutter ruft nach ihrem Kind, so als bestellte sie bei McDonald’s eine Portion Pommes. Draußen scheint die Sonne viel zu hell; das wird ein perfekter Tag.

Wir stehn unter der Erde. Die Luft ist klamm, die Gedanken in Aufruhr. Er gibt mir die Hand, & sagt: Meld dich. Ich antworte irgendwas zurück, es ist im Grunde gar nicht wichtig. In der U8 stinkt es nach Bier & Döner. Sonntagskinder springen von Sitz zu Sitz, nur Verkehrslärm ist schöner. Neuseeland. Es vibriert mir in Kopf & Gliedern, schlägt leise gegen alle Bilder. Neuseeland. Als ich zu Hause die Tür aufschließe, ist alles in Bewegung. Die Photographien an den Wänden, die Kommoden, all die Gläser im Schrank. Was? Ich weiß auch nicht, ich lege mich aufs Bett, es ist halb elf. Ich schlafe schlecht, habe unruhige Träume. Manchmal glaube ich, ich bin nie aufgewacht.

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