Hamburg

Unser Leben zerfällt zu Licht & Geschrei, zu Duty-free-Whisky, & dem Bedürfnis nach Schlaf. Draußen geht ein bisschen Wind, der rüttelt an Fahnen & Kleidern. Drinnen riecht es nach Spaghetti mit Tomatenmark. Die Leerstelle in den Augen füllt sich mit Hunger, Geilheit, Langeweile, & nichts will dabei tragisch sein. Stattdessen macht jemand die Musik an, & alle tanzen. Für eine Weile, für ein Glas oder zwei, danach kommen die Gesten:

1. Betty, sie liegt auf dem Bett & rundet sich die Lippen rot; sie schielt dabei in einen kleinen, verschmierten Spiegel mit Rosenmotiv-Aufdruck auf der Rückseite, sie summt;
2. Jimmy, er rollt Zigaretten am Fenster & zupft sich beim Rauchen den restlichen Tabak vom Hemdkragen; er spielt verloren mit einem goldenen Armband, das ihm locker am linken Handgelenk baumelt & pfeift den Passanten nach, den Vögeln & Wolken;
3. Gustave, er sitzt vor dem Plattenspieler & hebt & senkt stoisch die Nadel aufs Vinyl; es kratzt & scheppert, ein dumpfer Ton stimmt an, der gerne Trommelwirbel werden würde & doch nur Lärm bleibt: kurz, müde, unterbrochen von Gustaves Fingern, & im Kreis herum;
4. Maurice & Alice, er sitzt im Schneidersitz vor dem Schachbrett, sie liegt daneben; schon seit Stunden haben sie keine der Holzfiguren berührt, sie rauchen & rauchen, sie sind ganz eng beinander & sagen nichts, tun nichts, sehen sich an & lächeln;

& ich – ich gehe durch das Zimmer, vor den Büchern geh ich auf & ab, immer wieder von vorn & lese Kerouac – immer wieder les ich seinen Namen -, & Ginsberg, & finde trotzdem weder On the Road, noch Howl, es ist, als läge ein Fluch auf diesen Namen. Auf Pound Burroughs Hemingway, auf all diesen Amerikanern. Es gibt hier keine Franzosen, keine Deutschen. Nur Jimmy & mich. Da muss ich grinsen. Hamburg ist wie Zucker: mit viel Phantasie seh ich da sogar die Alster – wenn ich mich auf den Fenstersims setze, dahin, wo Jimmy sitzt & raucht, dann seh ich das Wasser, es ist heute ganz grau. Was morgen ist, weiß ich nicht. Wusste ich nie. Aber langsam… wie wenn man nach einem großen Besäufnis wieder wach wird… so setzt sich das alles wieder zusammen. Der Atem passt wieder zurück in den Mund & in die Lungen, ins Herz passt der ganze Mensch. Langsam… ganz langsam jetzt… kehren die Erinnerungen an die letzten Tage & Wochen wieder, all die Momente zwischen Bett & Arbeit, zwischen Menschen gedrängt zum Tanzen, zum kalt gehauchten Glas aus Licht & Gold, & vielen Schatten. Ich sitze da, & sehe mir auf die Hände, auf Adern & Falten, auf die Narben. Draußen geht irgendwo eine Sirene, vielleicht die Polizei. Es könnten genauso Wölfe sein. Gustave lässt die Nadel los, & endlich darf der Ton mehr sein als nur Ton – er wird ein ganzes Lied, eines, das ich nicht erkenne, aber es klingt nach Harrisburg – Pennsylvania -, nach einer Kindheit unter weiten Himmeln, & ich sitze einfach nur da, & seh mir auf die Hände. Wessen Ich kriegt sich zu fassen? Wer vergisst die Photos abzuhängen, wer schickt sie dir nach?

Die Antwort kostet eine Briefmarke & einen Kugelschreiber, der irgendwann aussetzt auf dem spröden Papier. Ich schreibe dir einen Brief ohne etwas dabei zu fühlen, vom Fühlen bin ich befreit. Schwarze Worte, wie Wolken kurz vor dem Sturm, sie sammeln sich unter meinen Fingern, in meinem Mund werden sie mehr, damit ich sie ausspucken kann. Krebs, der wuchert, er zerfällt mir zur Sprache. Ich schneide & schneide, stundenlang schneide ich an den Worten herum bis sie scharf sind wie Messer; ich stecke Schwerter in einen Briefumschlag & werfe sie fort nach Paris. Irgendwer wird sie fangen, irgendwer wird sich verletzen. Nach dem Schreiben bin ich so furchtbar leicht, so entspannt, ich spüre keinen Körper mehr.

Wir sitzen beinander, jeder Atemzug verwirbelt Haar. Haben wir es denn jemals verloren? Dieses Gefühl, ein Leben zu führen, das am Ende vielleicht doch ganz, & unbeschadet bleibt. Eine Art Glück – ein kurzes, schmerzvolles Glück, das einem schon zu Anfang jeden zukünftigen Abschied zornig in die Augen spuckt, & den Magen hebt & senkt, eine Nadel auf Vinyl, aber Glück, eine Hand im Haar & ein Kuss auf den Lippen. Trotzig vielleicht. Wie ein umgestoßenes Glas. Das Parkett, das knarrt, wenn es nicht knarren soll. Meine Finger im Bart. Jimmy reicht mir das Bier & sieht mich dabei an. Hunger, Geilheit, Langeweile – sie füllen sich mit Bewegung, mit Brot & Oliven, mit der Sehnsucht nach Tanz. Betty liest laut Gedichte von Heine vor, sie hat dieses Buch immer bei sich; es ist rot & ganz abgegriffen von all den Jahren & Städten, von dem Leben als Verscheuchte. Jeder von uns hat so ein Buch. Jimmys Scattered Poems, Alices To Bedlam and Part Way Back, Maurices Les Fleurs du mal, Gustaves Less than one. Jeder kennt sein Gedicht, seine Strophe, Zeile, sein Wort: & death shall have no dominion. Glück. Wir müssen los, lass die Plastikflasche noch mal umgehen… Die Nacht öffnet die schwersten Türen. So, als wären es Augen. Sie schaut uns direkt in die Gesichter, diese Nacht, sie nimmt uns unter ihre Lider. & dort zerspringen wir zu tausenden Blicken. Das ist das Glück unserer Jugend.

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