Ich bin am Ende, sag ich, & die Welt geht unter; es ist jede Nacht das gleiche Bild, das sich durch die Fenster nach drinnen schiebt: Leere Straßen unter der Last heller Fenster. Auf dem Gesicht ein Ausdruck ewigen Glücks. Ist es das?, ein Spiegelbild? Die Augen suchen nach Besinnung; sie suchen nach Halt, einem Boden zum Stehen & einem Bett zum Liegen, sie suchen Ruhe – finden Wirbel. Farben. Mir ist schwindlig. Es dunkelt. Ständig ist Nacht. Sag ich. & jemand reicht mir die Hand & sagt keinen Namen. Ist auch nicht wichtig, ich hätte den Namen eh gleich wieder vergessen. Ich habe mich längst aufgelöst. Da ist keine Vergangenheit mehr, keine Erinnerungen. Es bleibt kein Raum zum Sichpräsentieren & -vorstellen, zum Schmerz. Wozu noch Namen? Der Bass schiebt sich mir über Augen & Mund, der Tanz dringt mir durch die Ohren bis in die Fingerspitzen. Ich spüre alles zur gleichen Zeit. Sich aller Bewegung entgegen stürzen, als wäre sie die Liebe, heißt es, den Takt saufen bis einem das Maul davon überläuft: die Hand hält schon das Glas, dann die Gläser, einen fremden Rücken & Schwanz, einen ganzen Mann hält diese Hand. Den Füßen ist das scheißegal, die wollen tanzen, gehen lassen wollen die sich, also tupft mir wer das Pulver auf die Zunge & sagt: your turn; er lässt die Sehne des Bogens schießen, & wie ein Pfeil flieg ich der Menge entgegen, zum Schweiß hin, zum Rauch, & in den roten Blitzlichtregen. Wie schnell können wir noch werden?, wie schnell wirbeln tanzen verschwinden, wann wird unsere Sehnsucht nach Vergessen alles auslöschen, was uns zu Menschen macht – unseren Hinterkopf werden wir nicht sehen, egal wie schnell wir uns drehen – ich trinke noch ein Glas. Noch eins. Ich atme Asche, schmecke Asche, bin Asche. Sehe den Abgrund unter mir. Ich bin am Ende, sag ich, & falle, falle einem Gedanken in die Arme, der kein Wort ist, & kein Gefühl – aber dann fängt mich statt des Bodens dieser Typ auf, der hat ein Gesicht wie ein Krampfanfall, seine Augen sind verdreht bis zur Decke, sein Mund: steif, die Zähne: gläsern. Er sagt etwas, das völlig in der Musik untergeht. Mir schlägt nur sein Schiffswrackatem entgegen, sein Skorbuthauch, & ich weiß nicht, ist das ein Grinsen?, warum bin ich hier? Weil es geht. Ich schüttle die Hand ab, die mich festhält wie ein Seil, schüttle seinen Körper ab, der an mir kleben bleibt, der automatisch nachrückt, an meine Stelle tritt. Was ist?, zisch ich, aber es folgt keine Antwort. Nur buntes Licht. Bass. Er tupft mir Lotos auf die Lippen, er reicht mir das Glas. Noch eins. Nachgeben, nicht denken müssen, nicht sein müssen. Die ewige Jugend rückt mir in die Augen & zerbrennt mich zu Gold. Sag was. Hi. Nein, sag mir, was dir gefällt. Dein Mund. Mein Mund. Dein Hals. Hände, die sich von hinten an mich hängen, die mich umdrehen, gegen die Wand stoßen & zurück, diese Hände sind wie Ketten: sie reißen mich in eine andere Umarmung. Sag, was du willst. Dich. Mich. Auflösung. Es kommt Bewegung, die sich anfühlt wie Lärm. Schritte von links nach rechts nach vorn, ich sehe Schatten zwischen Rücken & Gesichtern, sehe in Stein gemeißelte Lippen & Zähne, Grinsen um Grinsen, nichts als Kannibalen. Dies ist mein Totentanz, denk ich plötzlich & bekomme keine Luft mehr; der Rauch drängt sich mir von allen Seiten in Nase & Mund, es ist wie Ertrinken. Ich muss hier raus, denk ich, aber die Musik wird lauter schneller, das Licht reißt mir am Pullover & zieht ihn mir über den Kopf – mein weißes Shirt meine weiße Haut meine Knochen leuchten blau, ich spüre den Atem im Nacken, spüre den Nacken im Atem, alle Wände fliehen der Ferne entgegen. Ich fliehe nicht. Der Lotos zerbrennt mir die Lippen ich glühe wie Draht aber darüber lässt sich nicht nachdenken – mir legt wer eine Hand auf den Arsch & ich spüre die Schwere meiner Muskeln, Haut, Knochen, wie gerne löste ich mich jetzt auf zu Atomen, setzte mich irgendwoanders neu zusammen. Sie sagt, ich sei nur verwirrt, wo kommt sie plötzlich her?, ich höre sie durch den Rauch ihres blauschwarzen Fischmauls, & spüre, wie mir die Kotze aufsteigt im Hals; ich verpasse ihr einen Stoß gegen die Schulter – sie fliegt in die Menge wie eine Plastiktüte voll Fleisch -, & es ist kein Gefühl mehr da, in mir, keine Reue, kein Mitleid, nichts, nur Freiheit. Wer war das? Ich weiß nicht. Die kannte dich. Mag sein. Deine Ex? Ja. Egal. Wie heißt du eigentlich? Auch egal. Meine Hände brennen, es ist, als gehörten sie einem Pyromanen. Sie berühren Haut Haare einen Kiefer, der sich zur Seite drehen lässt, drehen, drehen, wie ein Kreisel. Zu dir. Zu mir. Treppenstufen folgen einander in die Tiefe, wie steil der Abgrund ist, wie bodenlos die Hölle, ich höre von dort unten nur Seufzen & Wimmern, ich höre den Wahn zwischen den Wänden, da, wo längst keine Wände mehr sind, da höre ich mich lachen, ich, wie ich mich festhalte am anderen, wie ich mich ausschütte vor Lachen, wie ich fast kotze vor Lachen, wie ich besinnungslos mich in die Schritte hineinwerfe & lache. Da sagt der andere gar nichts mehr. Der bleibt stehen, in den roten Lichtern, im Funkeln zweier Diskokugeln, & sieht mich an. Geht’s dir gut. Ja. Ich bin in der Hölle. Was. Nichts. Komm mit. Durch Hinterräume gehen wir, durch Schattenreiche. Ich höre Kettenrasseln, Leder & Haut, die auf Leder & Haut schlagen wie Hämmer auf Eisen, ich höre ein stetes Pochen & Stöhnen ein Klirren & Quietschen; Frauenkörper, die im roten Zwielicht aussehen, als hätte sie jemand mit Tusche eilig hingeschmiert, mit Köpfen, die sich nicht bewegen – sie stehen steinern in den Türen & sehen uns nach, sie rufen uns Schimpfworte nach – ihre Stimmen peitschen in den Ohren. Es riecht nach Likör, & Parfum – so scharf wie Essig ist dieser Geruch, ich atme durch den Mund. Ist das Brecht, da geht er vor mir her, & sucht den Weg nach draußen. Es gibt keinen Ausgang. Stattdessen gehen wir tiefer tiefer, tiefer, das ist bloß der erste Kreis, komm schon, immer den Korridor lang, in dem blinde Spiegel blinde Menschen zeigen, Schattenmenschen, Phantome, einer nach dem anderen führen wir uns durch Zimmer, weiter ins Dunkel. Es gibt kein Entkommen. Mir brennen die Lippen, der Schwanz in der Hose brennt, die Beine, alles, jede Pore ist Geilheit, eine kleine Plastikdose in meinen Fingern brennt mir Begehren ins Hirn, brauch dich auf, los, & im Wirbel der nächsten Schritte öffnen sich Türen & Fenster, ein Typ stößt uns durch die Stahltür nach draußen auf eine leere Straße. In der Ferne heulen die Hunde. Wir sind nicht frei im Dunkeln, im Finstern der Seele. Wir sind nirgends. Die letzten Menschen, Kannibalen. Das sind wir. & sonst nichts…
Die Kannibalen
- Veröffentlicht 22. März 2012
- Autor Alexander Winter
- Kategorie Uncategorized
- Schlagwörter Brecht, Exzess, Hölle, Kannibale
- Kommentare 1 Kommentar
schwindelig wurde mir beim lesen, beinahe übel…so eindringlich und bildhaft hast du geschrieben…als wäre man dabei gewesen…apolalypse…kopflose reiter durch die nacht…im strudel der hölle…boah, man….
toll geschrieben!
gruß