Der Gedanke an Stille

1.
Ich habe kein Gefühl mehr zwischen den Schritten, alle Luft ist eisern. Wie man sich selbst verliert, sagt eine alte Frau links von mir zu ihrem Mann. Bei jedem Atemzug & in jeder Sekunde ein bisschen mehr, sagt er, & lächelt. Ja, denk ich & sehe dem weißen Dampf ihrer Münder beim Verschwinden zu. Wie man sich gegen Atem lehnt, denk ich, anlehnt an Luft, die ihresgleichen sucht – & doch verdampft, sich auflöst in Umgebungstemperaturen: der Mensch haucht der Welt entgegen & sie?, sie gibt ihm mattes Glas. Dann: Vorsicht – Zugeinfahrt – die Elektronik aus der Box rechts, im Eck, tönt. Die Frauenstimme klingt so melancholisch, jedes Wort wiegt viel zu viel. Please – mind, setzt sie weiter an, & lässt es plötzlich bleiben. Der Satz bleibt ungesagt. Please mind. Okay.

2.
Meine Augen folgen in der S-Bahn den Stationennamen, den gelben Punkten auf schwarzem Grund: Oranienburger Straße, Nordbahnhof, Humboldthain. Blinklichter zwischen anderen, Herzschläge unter vielen. Ich hab eine Verspannung im Nacken & keine Hand, die sie löst. Draußen bewegt sich keiner. Alle sind erstarrt. & falls sich doch mal wer bewegen sollte, dann geht er langsam, fast in Zeitlupe. Die Regel heißt: Immer mit einem Fuß auf dem Boden (der Tatsachen) bleiben. Am besten mit beiden. Zu schnell sein heißt zu viel sein, & zu viel führt zu Stürzen, das kann keiner riskieren. Bei Glatteis kann man sich die Knochen – das Genick! -, die Würde & den Hochmut brechen, kaputt stürzen kann man sich. Glasknochen haben ja auch mehr Leute, als du denkst. Eine Volkskrankheit ist das. Hörst du nicht? Man muss ein Leben führen, das geschützt werden will. Ist kostbar, was wir da haben, ein ganz & gar kostbares! Leben, eines, um das man erst herumgelaufen sein muss, um es ganz gesehen zu haben. Anschauen muss man das – nicht anfassen!, denn man sieht ja nicht mit den Händen, sondern mit den Augen. Da muss man sich erst einrichten, damit man sich drin aufhalten kann, damit man sich wohlfühlt. Alles andere ist unhaltbar. Ich folge stattdessen fremden Gesichtern, fast willenlos.

3.
Ich gehe durch Neukölln, als tobte ein Sturm, an jeder Ecke erleide ich Schiffbruch: Du gehst durch ein früheres Leben, sagt die Elektronik im Gehirn. An der Admiralbrücke steh ich da, & sehe den Menschen dabei zu, wie sie auf dem Eis Schlittschuh laufen, wie sie einander jagen, die Kinder mit Schlitten. Ein kleiner Junge mit roten Pausbacken steht am Geländer & ruft einen Namen, der das Lachen der Eltern nicht durchbrechen kann. Stattdessen knarzt & ächzt das Eis in der Tiefe, es klingt wie ein Stöhnen. Das bringt alle zum Schweigen. Die Ersten schieben bereits ihre Kinder ans Ufer, wo alle Gefahr vermeintlich unwahrscheinlich ist, & die Zweiten lachen beim Gehen am lautesten über die Letzten. Irgendein Dritter will aber trotzdem nicht einbrechen, also schieben sie die Kleinen nach fünf Minuten wieder zurück aufs Eis, wo alle sind. Denn wo alle sind, da ist’s sicher. Die zwei Enten, die sich langsam dem Brückenbogen nähern, sacken aber doch plötzlich ein & schlagen ihre Flügel hektisch ins schwarze Gewässer. Sieht nur keiner. Sind ja bloß Enten, denen muss man keine Aufmerksamkeit schenken. Schon gar keinen Glauben. Wenn Enten könnten, sie würden sicher unablässig lügen.

4.
Als er die Türe öffnet, ist sein Gesicht voller Ahnungen – die Augen, der Mund, das Haar. Er ist ganz erstaunt, um diese Uhrzeit hat er mich noch nicht erwartet. Natürlich nicht, ich bin wie immer viel zu früh. Sätze, wie man sie schon dutzendmal gesagt, gehört & wiederholt hat – sie kommen als nächstes. Soll ich die Schuhe ausziehen?, entschuldige, aber wo ist die Toilette?, man überrascht sich ständig selbst dabei, wie man etwas sagt, das bei den Eltern noch fremd & falsch klang, & das jetzt ziemlich folgerichtig ist. Höflich. Notwendig. Also schlüpfe ich aus den Schuhen, beinahe auch aus der Hose, & gehe schlafwandlerisch durch den Korridor & bewundere das Parkett, wie ich es in hundert Wohnungen in Berlin schon getan habe, es ist wirklich hübsch. In seinem Zimmer sind keine Möbel außer die Bücherregale an den Wänden & ein Futon genau in der Mitte. Kein Schreibtisch, kein Stuhl, kein Computer. Nur ungefähr 13.000 Bücher & der Futon. Er fragt, ob ich etwas zu essen will, es gäbe noch Reis mit Gemüse, & ich verneine.
Verneinen ist etwas, das ich ziemlich gut kann. Ich verneine alles, eine flüchtige Liebe, die Rettung brächte, & eine Nacht, die mich ins Unglück stürzt – ich verneine ein Leben, das mir nicht gehört, ein geliehenes, ein Leben für Aufschneider & Intellektuelle, ein Cliché verneine ich. Etwas, das anderen die Kraft zum Aufstehen gibt. Deswegen sitze ich viel, weil Sitzen ist nicht wie Gehen, das kostet kaum Blut. Auf seine Fragen antworte ich ausweichend. Meine Blicke sind ziellos beim Sprechen – sie gehen viel auf, aber die meiste Zeit gehen sie ab: dieser Bogen hat keine Sehne. Dieses Herz kennt keinen Schlag.

5.
Er rollt seine Zigaretten fünf Zentimeter über dem Tisch. Seine Schuhe schnürt er mit der Kippe im Mund. Wir gehen raus in den Abend, der kam ganz unverhofft, & ans Kottbusser Tor, wo alles lau ist – die Luft & Gewalt, der Döner an der Ecke, der Shit. Hinter zwei Ecken führt er mich, an zwei Hunden vorbei, deren Leinen straff sind vom Wollenmüssen, & die Frau, die sie hält, sagt uns etwas hinter her, was nach Schwuchteln schmeckt – sie dünstet billiges Parfum aus, billiges Bier, ein billiges, gegenstandsloses Leben von Fertigpizzen, Alkohol & ungewaschenem Haar. Schlampe, sagt er, & lacht. Überall Schlampen! Den Schwanz sind die nich wert, der denen das Maul stopft. Wir betreten die Bar durch eine Glastür, dahinter: der Rauch. Der hüllt uns ein, süßlich & schwer, der greift mir mit dutzenden Fingern ins Haar, in die Kleidung setzt er sich rein: ein Kobold ist dieser Qualm. Sei’s drum. Er schiebt mich weiter, weiter, durch die Rückenwand schiebt er mich durch. Ich streife weiße Hemden & Schultern, T-Shirts, die wie Fahnen an dürren Körpern hängen, karierte Baumwollstoffe, Flanell, Jeans; es riecht nach Tabak & Motorenöl. So betrinken wir uns. Bis einer kommt. Der ist halb so groß wie ich, mit wirren blonden Haaren; an dem hängt sein Hemd knopflos offen bis zur Mitte der haarigen Brust, wie alt?, vielleicht zwanzig, der hat noch keinen Kummer in den Augen, noch keine Enttäuschungen, dem hat irgendwer mal zufällig ein Stückchen vom Herzen abgebrochen, aber darüber kam der hinweg, dieser Muskel ist noch intakt, der pumpt noch Blut & Liebe durch den Leib, & in die Augen die Lust. Er sagt, er kenne mich, & ich verneine, wie gesagt, im Verneinen bin ich ein König, nur davon weiß er nichts, will nichts wissen, er beharrt aufs Gesehenhaben, als wär’s wirklich wichtig. Er bietet mir Bier an, Schnaps, er will mich tränken, volllaufen lassen soll ich mich, damit ich entspannt bin, damit ich weniger gehetzt wirke, damit ich mich mal gegen was anderes lehne, als gegen Luft, die kondensiert an den Scheiben. & ich trinke. Noch ein Glas, & noch eins, das löst die Verspannung im Nacken, das löst die Zunge.
Neben dem Blonden steht irgendwann ein anderer, dunkelhaarig, mit einem schwarz-roten Karohemd, das trägt der zugeknöpft bis zum Hals, & die Jeans sind umgekrempelt bis zum Knie; der hört auch zu, der lacht ein gewalttätiges Lachen, & haut mir vor Freude auf den Rücken, berühren muss er mich, an den Schultern & an der Hüfte, die Hand muss er mir auf die Brust legen, damit er weiß, das ist ein Mensch, der ist echt, der kann was ertragen, aber eigentlich ertrag ich nichts. Weder ihn, noch den anderen, den ganzen Laden ertrag ich nicht, mit seinem Rauch & beständigen Geilheitsgemurmel.

Wo ist deine Freundin?, fragt er, & ich schüttle den Kopf. Keine Freundin. Ah, einer von uns, sagt der Blonde, & grinst. Einer von euch, das wiederhol ich, wer ist denn euch?, & er holt aus mit den Händen & schließt den ganzen Raum ein, in die Bewegung, er meint sie alle, die Männer in Flanell- & Karohemden, & grinst, eine Familie. Ich bin nicht gut mit Familien, sag ich, kein Familienmensch, ich gehör nirgends dazu. Der andere legt mir die Hand auf die Schulter; sie wiegt mehr, als sie sollte. Sein ganzes Gewicht liegt in dieser Hand, denk ich. Er schaut mich an. Es ist, als suche er in meinem Gesicht jemanden in der Ferne. Man gehört immer zu irgendwem, sagt er. Ich nicht, sag ich & meine Stimme klingt nach Bier & Jägermeister-Shots, sie klingt nach Rauch & Asche, in meiner Stimme sind die Jahre & jedes Jahr ein ewiges Suchen. Diva, sagt der Blonde & grinst; ich möchte mit seinem Gesicht die Wände streichen, seinen Schädel abschrauben wie einen Flaschendeckel. Ich gehöre nur mir, sag ich, & sinke zurück in die Menge. Zwischen Fleisch sink ich, & verschwinde für Stunden.

6.
Am nächsten Morgen tut mir der Hals weh vom Trinken, & die Augen vom Sehen. Als ich aufstehe ist mir die Welt zu klein, das Bett zu begrenzt. Es riecht nach Kaffee. In der Küche wird gelacht; Zoey sitzt über dem Marmeladebrot wie ein Richter & Joseph rührt sich Milch in die Tasse. Er sitzt bereits zwischen ihnen, die Augen ganz klein vom Wachseinmüssen, & kaut langsam. Guten Morgen, Mittag, Abend, es ist doch ganz egal. Zoey lächelt, sagt, warum hast du ihn uns noch nicht vorgestellt?, & ich, der ich nur Haut & Knochen bin, von einem T-Shirt & Boxershorts zusammengehalten, zucke mit den Achseln. Ich weiß nicht. Mir liegt plötzlich so viel Traurigkeit auf der Zunge, so viele abgenutzte Sätze. Jedes der Worte sagt nicht genug. Ich gieße mir den Tee ein, & setze mich zu ihm, als verspreche Nähe eine Art der Gemeinsamkeit, eine Vertrautheit, wie sie nur Jahre & geteilte Erfahrungen schaffen. Zoey lächelt, sagt, du veränderst dich so schnell. Ich verändere mich überhaupt nicht, sag ich, niemand verändert sich, ich bin der, der ich hätte werden können. Draußen zerspringt irgendwo Glas. Ich bin zu müde, um alles zu erklären, sag ich, & nicke ihm zu, aber er streicht sich die Butter aufs Brot, & sieht nichts außer das Messer.

Später ziehe ich mich langsam an, die Sonne wandert durchs Zimmer. Es liegen Briefe auf dem Tisch, ein Buch von John Fowles, daneben: eine Flasche Wasser, zwanzig Cent, eine leere Tasse. Ich sehe auf all die Dinge, als bedeuteten sie etwas. & im Nebenzimmer haben sie Sex.

2 Comments

  1. großartiger schreibstil! …man mag gar nicht mehr aufhören zu lesen! der tanz deiner worte, die bilder malen, zieht einen in bann…schreibe weiter!
    gruss

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    1. danke schön. ich versuch mein bestes. mit dem weiterschreiben.

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