3.
Wie wir gehn & stehn, wie wir einander entfallen – wie schwierige Worte, vielsilbig, & mit Ypsilons -, der letzten Treppenstufe fallen wir entgegen, dem letzten Abschnitt der Strecke; ich seh gar nicht hin. Keiner sagt was. Jemand trägt die Koffer & verreist nicht, ein anderer nimmt die Flasche am Hals & stellt sie zu den Büchern ins Regal. Bonjour Tristesse liegt neben der Hand. Neben Adern, & Haut, dem Geruch nach Papier. Wie heißt er eigentlich? Ich kann keinen Namen behalten, alle Gesichter sind aus Pappe. Es lohnt nicht, sich zu erinnern.
Also schlüpfe ich morgens in den Körper, der schwer ist & schief an den Ecken, schlüpfe in Blut & Impuls, & zerre das Haar aus der Stirn; alles ist spröde, & stumpf. Die Welt will kein Wetzstein sein. Es ist mir ganz gleich. Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf, die Boxershorts über die Füße – seltsam, wie es für alles immer zwei Richtungen gibt -, & gehe ins Wasser. Wasser? In den Dampf geh ich, in den Nebel, der mir Gewalt antut, mir & der Haut, die mein Kostüm ist. Es ist schon okay. Wenn das Fleisch erst gar ist, verschwinden die Verspannungen. Auch das Gefühl wird weniger mit der Zeit, die Gedanken. Alles fließt irgendwann ineinander. Im Spiegel wisch ich mir dann ein Gesicht zurück übers Glas; es ist blass. Umgekehrt geht alles viel langsamer. Schamhaare, Brusthaare, Achselhaare, Barthaare – darüber: weißer, schwarzer, grauer Stoff, darüber: Baumwolle, Polyester, Flachs, darüber: Atome; ich kleide mich in Neutronen, & putz mir die Zähne. Ich muss raus, jeder muss immer nach draußen, & an der Bushaltestelle verbrauchen sie ihren eigenen Atem.
Die Stadt reicht mir Bilder & viel Lärm; im Büro stehn alle um den Wasserkocher, als reichte die eigene Anwesenheit zum Wasserkochen, aber nachfüllen will keiner; ich bleibe verständnislos neben Schultern stehen & sehe auf Adern & Haut. Wie viele Tage ist das her? Gestern war Sonntag. Jemand hat sich die Hände mit einer Handpflegecreme eingecremt. Gestern war Montag. Zwischen den Tasten sammeln sich Hautschuppen & Haar, ein ganzer Mensch liegt zwischen den Buchstaben begraben. Gestern war Dienstag. Unter dem Tisch stehn Teller & Schüsseln, da finden sich Gläser mit Kalkrand. Ich trinke nur noch aus Flaschen, den Schweiß Fremder trink ich aus Schlüsselbeinen, es ist Mittwoch, Donnerstag. Ich kaufe Donuts im Dutzend & schlittere über vereiste Kopfsteinpflaster. Heute ist Freitag.
Zufällig finde ich Glitter im Haar, in der schwarzen Kapuze ist noch mehr davon. Dunkel erinnere ich mich der Musik, des tiefen, bedrohlichen Dröhnens, des Bebens hinter den Wänden. Ich erinnere mich zweier Hände, eines Mundes,… Das Lächeln schmerzt, aber ich lächle es gern. Es gab da ein Gestern:
1.
Die Liebe unterstreich ich mir doppelt, in jedem Satz steckt sie mir heiser. Ich werde ganz leicht, zwischenzeitlich & im Zweifelsfall, belausche Zoey beim Singen in der Küche, & Joseph, der links neben ihr steht & die Kräuter umtopft, erzählt mir von Phil, der zum Essen kommen wird wie ein Sturmwind über die Berge. Phil ist Amerikaner, sagt Joseph, der ist wie ein Faun; wenn du den lachen siehst, wirst du zu Licht, ich schwör’s dir, der bringt ein Stillleben zum Schreien, nichts lässt der ganz, kein Hotelzimmer, kein Herz, der bringt jeden in Aufruhr, aber dafür lieben sie ihn… Ich sitze am Tisch & sehe Josephs Händen nach, der Erde unter den Fingerkuppen, den Händen, die welke Blätter richten, die verblühte Blütenblätter zupfen, & denk an Italien. Vor dem Fenster fällt Schnee; der Winter will nicht enden, dabei hat er eigentlich erst angefangen. Darin gleicht er mir. Auf dem Herd kocht das Essen.
Beim Tischdecken ist mir Zoey ganz nah, ihr Handgelenk streift meine Schulter, ihre Schulter meinen Arm – vermischen sich da die Atome? Sie lächelt viel an dem Abend. Bleibt bei mir. Spürt die Unruhe, die mir in den Beinen steckt, in den Augen. Ich sehe kaum die Gesichter. Die ersten Gäste kommen um 20 Uhr, eine Stunde später als vereinbart. Sie sammeln sich um den Tisch, um zu essen. Reis dampft in Schalen. Die Saucen leuchten bunt im Dämmerlicht. Die Fenster beschlagen. Andere folgen, es ist bereits zehn. Chipstüten platzen auf, Erdnüsse prasseln in Glasschalen, Kronkorken fliegen unter die Stühle. Ständig ist wer da, um mir die Hände zu schütteln, um mir einen Namen in den Mund zu stopfen, den meine Zunge gar nicht halten kann, aber muss ja auch nicht, man unterhält sich bloß kurz zwischen den Räumen, erzählt sich ein altes Leben in Stichworten neu bis die Musik alles Reden abbricht mitten im Aufzählen. Es wird schnell laut – Kasabians Switchblade Smiles hör ich als erstes. Die Menge schiebt sich sofort in den Flur, in die anderen Zimmer stolpern Menschen über Teppichfalten fällt sich’s am besten aber das ist schon okay. Es geht schon. Lauter. Schneller. Alle Sätze sind unterbrochen durcheinander nirgends findet sich noch ein Punkt keiner hört zu muss noch geht zum Tanzen wie ein Stein rollen sie hin – & das Parkett ächzt unter den Schuhen. Kurz nach elf ist Phil plötzlich da – Joseph stellt ihn mir vor: er greift ihn aus der Menge heraus, aus den Rücken & Hüften, aus den Armen & Beinen, den Menschen stellt er zum Menschen, & Phil lächelt breit. Das ist er also. Braune dichte Locken & Augen, deren Blick man erst ausprobieren muss bevor man ganz hinsieht, & er lächelt breit & sagt nichts. Zoey kommt zwischen uns, ihr Haar löst sich in Strähnen. Sie sieht glücklich aus, denk ich. & da küsst sie mich. Tief & rasend, es ist ein Kuss von Sterbenden. Sie sagt: Pass auf dich auf, & streicht mir das Haar zurück über die Stirn & hinauf bis es steil ist wie Klippen. Gegen mich branden die Schiffe. Sie geht einen Schritt zurück & hinein in die Wogen, zwischen die Rücken & Hüften, als Positron zu den Elementarteilchen zurück, & verschwindet. Übrig bleibt Phil, der weiter da steht, als hätte ihn jemand vergessen. Okay.
Wir gehn in eine der Ecken & erklären uns in wenigen Sätzen unser ganzes Leben; unser Scheitern & Versagen, unsere Stärken. Wir reden schnell & auf verschiedenen Sprachen, weil uns eine Sprache nicht genug ist zum Reden. Im Hintergrund tanzt ein ganzes Volk bis zur Besinnungslosigkeit. Die Musik bringt die Fenster zum Scheppern. Aber das stört uns nicht weiter. Es ist ein bedächtiges Erzählen in unserer Hektik, eine nahe Distanz in unseren Augen: flüchtige Studien in Kleinstädten, eine Karriere als Gott & eine als Herzensbrecher, zwei Leben zum Preis eines halben, mit 26 Jahren schon zum Glück gezwungen, & im Unglück ein Pendel; wir sprechen über Bücher, wie über gemeinsame Bekannte. Irgendwann kommt Joseph, der riecht nach frischem Tabak & Beize, & schüttet bunten Glitter über uns beide, die wir in einer der Ecken stehen & reden, als ginge uns das Tanzen nichts an. Aber irgendwann tut es das doch.
Die Stunden & Gäste gehen einander nach, die Treppen runter & runter, hinaus in einen dunklen Februarmorgen. Es riecht nach Schnee. Ich sitze erst & sehe den Zimmerwänden beim Wachsen zu. Alles Küssen gleicht sich letztlich. Alles Verabschieden. Meine Haut ist sich selbst ganz fern, & Phil, Phil ist es nicht. Stunden mit Weingläsern, Stunden mit schmierigen Tellern, & die Finger riechen nach Oliven. Wieder eine Umarmung auf Türschwellen. Irgendwann geh ich von Zimmer zu Zimmer, suche Zoey, aber Zoey ist weg, also seh ich aus Fenstern in andere Fenster hinein; die Welt ist ganz hell. Alles muss man überwinden, denk ich. Die Enttäuschungen & den Menschen, der man gerne geworden wäre. Die Liebe, wenn sie einen nicht tragen wollte. Vorstellungen von sich muss man überwinden. Leere Versprechen. Es ist eine Frage der Größe. Ein Mensch ist mehr als die Summe seiner Fehlentscheidungen. Als ich mich umdrehe, steht der Amerikaner hinter mir & lächelt breit.
2.
Phil erzählt mir von Ohio, von Cincinnati. Dort ist er geboren. Dort ist er aufgewachsen. Von den Brücken erzählt er, vom Glück unzähliger Sommer; ich sitze neben ihm & reibe mir den Knöchel. Das Dröhnen der Züge, das Rattern der Schienen – die Sehnsucht nach Ferne hatte ihn immer wieder zu den Gleisen getrieben, als die Sonne rot & schwer war, & der Himmel ohne Unterbrechungen. Er hatte den Güterzügen nach Indianapolis nachgesehen, nach Louisville & Columbus – mit den Beinen über dem rostigen Geländer & den Füßen in der Tiefe baumelnd hatte er dort gesessen, & die Namen der Städte vor sich hergesagt: India-na-polis, Lou-i-sville, Co-lum-bus, Städte mit Menschen, die nicht wussten, wie tief ein Stein im Ohio River sinken konnte, die keine Ahnung von der Gewalt hatten, die einem die Distanz antun konnte, die zwischen einem selbst & dem fernsten Punkt am Horizont lag – einem Punkt, den man nie erreichte, egal, wie schnell man auch rannte. Dort hatte er nachgedacht, über seine Familie, über sich.
Sein Vater stammte aus Toledo, erzählt er. Eisenwarenhändler & das Blei in den Augen. Der war immer zum Fischen an den Eriesee gefahren, den Phil Lake Eerie nannte, den unheimlichen See – viel zu oft war der Vater dort mit sich allein gewesen, stundenlang in dem Boot, dessen Blau abblätterte & Weiß vergilbte; er brachte nie den Fisch mit, den er den Kindern versprach. Ihm & Lucy, seiner Schwester, & Pat, seinem Bruder, alle jünger als er. Aber das war auch okay. Irgendwann erwartete man weder den Fisch, noch den Vater. Sie waren sich nie sehr nahe gewesen, der Mann aus Toledo & sein erstgeborener Sohn, hatten nicht viel gesprochen, ein Good Morning, ein How was school, aber nichts sonst, kein Wort über den ersten Kuss, über Susan, die blond gewesen war wie Weizen & dreimal so dumm, kein Wort von der Sehnsucht & dem Streben nach mehr. Im Mai 1999 war sein Vater nicht mehr nach Hause gekommen. Es war ein Herzinfarkt. Er starb noch auf dem Boot. Das trieb drei Tage auf dem Wasser, ungesehen schlug der See gegen den Bug & die Zeit gegen den Toten. Phils Mutter erlitt daraufhin einen Nervenzusammenbruch, wie ihn nur Verliebte erleiden: Die Vergangenheit erreichte ihn nie, den Eisenwarenhändler; er blieb für immer im Jetzt – so, als hätte er nur kurz das Zimmer verlassen. Sie sprach von ihm, wie von einem Heiligen. Von einem, der jeden Cent für die Kinder sparte, die Kinder, oh, wie er die Kinder liebte – kein Toter im Grab konnte so sehr seine Kinder lieben wie dieser. Phils Mutter war Deutsche, vom Blut her eine von vielen, die Urgroßmutter war mit den nötigen Habseligkeiten aus Preußen hergekommen, ihr Urgroßvater, ein Münchner, mei, hie noohs eweriesing abaud bier, fügte sich schnell ein ins System, in die große Brauerei von Columbus: they’ve been German as German can be.
Auf der Brücke – das Dröhnen der Güterzüge im Nacken -, hatte er all das gespürt, erzählt Phil, dieses andere Blut, diese plötzliche Erkenntnis, die einem Wahrheit eingab. Klarheit. Dass einem die Ferne vielleicht in den Genen liegen könnte & nicht bloß in den Augen. Dass einen die Füße vielleicht solange tragen können, wie die Straßen & Wege reichen, aber dass es das Herz ist, das einen wieder aufstehen, wieder gehen lässt. Mit 18 zog er aus. Mit 22 verließ er die USA. Dann bricht stumm die Sonne durch das Fenster, & taucht die Gesichter in Licht. Ich muss zur Arbeit, sag ich unvermittelt & stehe auf. Here, sagt er, & steckt mir einen Zettel zu. Ich seh nur Zahlen. Sage: I’ll write about you. Er sagt: No, you need to write me, not about me, & schüttelt mir die Hand.